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Edmund Husserl ist niemals populär gewesen, aber wohl trotzdem der einflussreichste Philosoph des 20. Jahrhunderts.

Der Niederländer Toon Horsten erzählt, wie sein umfangreicher Nachlass von dem belgischen Pater Hermann Leo Van Breda gerettet wurde.

 

Der Philosoph Edmund Husserl (1859-1938) begründete die Phänomenologie mit Standardwerken wie den „Logischen Untersuchungen“ (1900/1901), den „Ideen zu einer reinen Phänomenologie“ (1913) und der Abhandlung „Die Krisis der europäischen Wissenschaften“, (1936) – eigentlich im Wesentlichen entweder kritischen Arbeiten oder Programmschriften. Das oft zitierte Schlagwort, unter dem die Phänomenologie angetreten war, lautete „Zu den Sachen selbst!“ (Eigentlich: „Wir wollen auf die ‚Sachen selbst’ zurückgehen“). Dieser Aufforderung aus den frühen „Logischen Untersuchungen“ folgte Husserl über Jahrzehnte hinweg, indem er versuchte, die Phänomenologie in zahllosen Studien, Notizen und Skizzen auf einzelne Probleme anzuwenden. Eigentlich allen diesen Versuchen war eins gemeinsam: Zu seinen Lebzeiten blieben sie unveröffentlicht. So war sein Ruhm groß, als er 1938 starb, aber ein wesentlicher Teil seines Lebenswerkes war der Öffentlichkeit vollkommen unbekannt. Und es war gefährdet, denn seine jüdische Herkunft machte den Protestanten den Nationalsozialisten verdächtig. Ihm wurde die Lehre untersagt, und er durfte auch nicht mehr ins Ausland reisen. Was sollte da aus den 40.000 Seiten werden, die noch unveröffentlicht waren?

 

Einfluss besaß sein Werk immer – das hatte wesentlich mit der Prominenz seiner deutschen Schüler zu tun, aber auch mit seinem Erfolg in Frankreich, wo sich große Denker – neben anderen Maurice Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre und Emmanuel Levinas – von seinem Werk beeinflussen ließen. Lange Zeit waren allerdings seine Bücher exorbitant teuer; heute kann man sie zu moderaten Preisen in der Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner-Verlages oder bei Reclam erstehen, aber der Erwerb der Bände der Husserliana stand (und steht sicherlich immer noch) dank ihrer exorbitanten Preise für Studenten überhaupt nicht zur Diskussion. Manch einer, der einen der schweren grauen Bände in der Bibliothek in die Hand nahm, hat sich damals über den Verlagsort gewundert: warum wurden die Bücher eines deutschen Philosophen in den Niederlanden verlegt? Unter anderem auf diese Frage antwortet das Buch des niederländischen Autors Toon Horsten.

 

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Horsten ist kein Phänomenologe und noch weniger ein Husserl-Spezialist, sondern er stieß bei der Durchsicht alter Familienfotos auf einen ihm unbekannten Pater, der mit einem breiten Lächeln im Hintergrund stand. Horsten begann sich mit Hermann Leo Van Breda (1911-1974) zu beschäftigen, und je tiefer er in dessen Leben eindrang, desto mehr erkannte er seine Bedeutung. Van Breda ist zunächst die materielle Rettung der Manuskripte Husserls zu danken, die er in einem konspirativen Unternehmen in drei dicken Koffern aus dem nationalsozialistischen Freiburg/Br. ins belgische Leuven (dt. Löwen/ fr. Louvain) brachte, dann sorgte er bis zu seinem Lebensende – der Diabetiker starb früh im Alter von 63 Jahren – für die Edition des gewaltigen Nachlasses eines großen Denkers.

 

Immer wieder verwendet der Autor dabei die anachronistische Vokabel „Wissenschaftsmanager“, um die Arbeit Van Bredas zu charakterisieren. Obwohl in Philosophie promoviert – natürlich hatte er über Husserl geschrieben –, war der Franziskaner kein eigenständiger Denker, sondern erwarb sich seine Verdienste, indem er Menschen ansprach, Gelder heranschaffte und Netzwerke aufbaute, mit deren Hilfe er den gewaltigen Nachlass eines bedeutenden Philosophen für seine Gemeinde rettete. Einer seiner Bewunderer sagte später über Van Bredas Bedeutung für das Werk Husserls, dass es ohne den Pater nicht so bestimmend geworden wäre: „Bis auf Husserl“, meinte er, „sind alle vergessen.“

 

Van Breda entwickelte große Geschicklichkeit in der Organisation eines Archivs, das zunächst allein dem Werk Husserls gewidmet war, später aber auch Manuskripte Edith Steins, der später heiliggesprochenen ehemaligen Assistentin Husserls, aufnahm und edierte. Husserls Manuskripte waren deshalb besonders schwer zu entziffern, weil sich der Meister einer nur selten benutzten Kurzschrift, der „Gabelsberger“, bediente – auch noch in einer sehr persönlichen Variante –, die nur ganz wenige zu lesen verstanden. So kamen unter anderem Ludwig Landgrebe und Eugen Fink nach Löwen, ehemalige Assistenten Husserls, die es später selbst zu Lehrstühlen und einen gewissen Ruhm bringen sollten.

 

Horstens Buch ist kein philosophisches Buch und nur nebenbei eines über Philosophie, sondern erzählt in sehr konzentrierter, schmucklos-direkter und in der Wertung zurückhaltender Weise die Geschichte eines Mannes und seiner Obsession. Von einer „Obsession“ spricht Horsten selbst, denn Van Breda ist ständig auf der Suche nach dem Werk verstorbener Philosophen, die er seinem Archiv eingliedern konnte. Überzeugend ist Horstens Geschichte des Paters aus vielen Gründen. Unter anderem, weil der Autor sowohl bei eher zwielichtigen Figuren wie Heidegger (der Husserl schmählich verraten hatte) wie auch bei seinem Helden und überhaupt bei allen Personen auf jede Schwarzweißzeichnung verzichtet. Er singt zwar das Loblied Van Bredas, aber auch die negativen Seiten des Paters werden keineswegs verschwiegen, zum Beispiel seine gelegentlich fast ekstatischen, von seinem Diabetes hervorgerufenen Wutanfalle.

 

Differenziert ist auch das Bild, das er von Heidegger zeichnet, oder sein Porträt Edith Steins. Stein (1891-1942) war eine Weile Assistentin Husserls, fühlte sich aber von ihm nicht gefördert und auch sonst, vor allem als Frau, an einer Universitätskarriere gehindert – ihre vier Versuche, sich zu habilitieren, blieben allesamt erfolglos. Immer wieder wird ihre Abkehr von der Philosophie als großer Verlust gewertet. Es scheint, dass ihr Lehrer sich ganz ungehemmt der Kraft und Begabung aller seiner Assistenten und Schüler bediente – nicht allein Steins –, ohne viel zurückzugeben. Allein dem Karrieristen Heidegger gelang es, sich von allzu viel Mitarbeit fernzuhalten. Stein aber resignierte, gab also ihre Universitätskarriere auf, nahm den Schleier und arbeitete als Lehrerin. Schließlich ging sie, eine gebürtige Jüdin, von Köln ins nahe Belgien und lebte in einem Kloster in der Nähe von Leuven. 1942 nahm Van Breda den Kontakt zu der Nonne auf und versuchte sie zu überreden, mit ihm nach Leuven zu gehen, um dort unterzutauchen und sich vor den Nazis zu retten. Aber Stein lehnte ab, wurde in der Folge nach Auschwitz gebracht und dort ermordet. 1967 erklärte Van Breda in einem Radiointerview, dass Edith Stein nach seiner Überzeugung „den Tod als Märtyrerin für ihr jüdisches Volk“ suchte.

 

Ähnlich differenziert wie die Persönlichkeit der sehr zahlreichen Antagonisten beschreibt der Autor das Leben während des 2. Weltkriegs und verschweigt dabei auch nicht die fragwürdigen Drangsalierungen, denen Landgrebe und Fink in Frankreich und Belgien ausgesetzt waren – zwei Männer, die nun wirklich nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hatten, aber zusammen mit zahlreichen Juden unter erbärmlichsten Bedingungen in ein Lager gesperrt wurden – buchstäblich bei Wasser und Brot („verschimmeltes Brot und Wassersuppe“).

Das sehr konzise und konzentriert erzählende Buch nimmt keine Nebenfäden auf, erzählt also zum Beispiel nicht die aus deutscher Sicht beschämende Zerstörung der wunderbaren Bibliothek der Katholischen Universität Leuven – ein erstes Mal im 1., ein zweites Mal im 2. Weltkrieg… Beide Male wurde der schöne Bau wieder neu errichtet. Horstens Buch ist die sehr dichte, faktenorientierte, keine Widersprüche und Leerstellen überspielende Geschichte eines bedeutenden Mannes, der das Glück hatte, auf eine seinen Talenten angemessene Aufgabe zu stoßen, und den unbedingten Willen besaß, dieser Aufgabe sein ganzes Leben zu widmen.


Toon Horsten: Der Pater und der Philosoph. Die abenteuerliche Rettung von Husserls Vermächtnis.

Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Galiani Berlin 2021.

288 Seiten

978-3869712116

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