Ein schwarzer Backpacker, aufgewachsen in einem Arbeiterviertel in Sheffield, reist in europäische Hauptstädte, um schwarze Menschen und Communitys kennenzulernen. So simpel könnte man Johny Pitts spannendes, aufschlussreiches Buch „Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa“ skizzieren, für das er im Mai dieses Jahres den Leipziger Buchpreis erhalten hat.
Doch mit dem Begriff „Afropäisch“ verknüpft der Autor, Fotograf und Journalist mehr: die Hoffnung und Möglichkeit, Schwarzsein als Teil einer europäischen Identität zu beschreiben, und damit sich „selbst als komplett und ohne Bindestrich zu begreifen“, wie er in der Einleitung erklärt. Am Ende seiner Winterreise durch postkoloniale Städte wie Paris, Amsterdam oder Lissabon bleibt ihm von dieser Vorstellung immerhin das Bild einer „Art beflecktes Utopia“.
Bevor Johny Pitts seine Reiseerzählung beginnt, stellt er sich vor, legt seine Perspektive offen: seine Mutter stammt aus der weißen nordenglischen Arbeiterklasse, sein Vater ist ein afroamerikanischer Musiker des Northern Soul. Doch die Frage nach der Herkunft ist in dem multikulturellen Milieu des traditionellen Arbeiterviertels Firth Park von Sheffield zweitrangig, zu den ansässigen Jemeniten, Pakistani und Indern kommen im Laufe der 90er Jahre noch Syrer, Albaner, Kosovaren. Durch einen älteren jemenitischen Freund lernt er als Jugendlicher nicht nur die arabische Küche schätzen, sondern auch Kunst, Schach und den Hip-Hop. Im Alter von etwa 16,17 Jahren löst sich der Zusammenhalt der Straße. Er geht aufs College, entwickelt eine berufliche Perspektive außerhalb seines Viertels, manche seiner Freunde dagegen landen im Gefängnis oder in der Psychiatrie. „Der einzig erkennbare Unterschied zwischen uns bestand darin, dass meine Eltern für ein einigermaßen stabiles Heim sorgten.“ Johny Pitts beginnt in London eine Karriere als Moderator und Journalist.
Vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit ihren Brüchen startet der Autor seine Reise, steigt an einem kalten Oktobertag in den Eurostar Richtung Paris. Sein selbst finanziertes Reisebudget ist knapp, meist sind es Eisenbahnabteile, günstige Hostels, Cafés und Straßen, wo er mit den Menschen ins Gespräch kommt. Er besucht weniger die Sehenswürdigkeiten, sondern vorwiegend die Stadtrandsiedlungen, Kultur- und Gemeindezentren, um herauszufinden, wie die schwarze Community einer Stadt im Alltag lebt und welche Geschichte sie hat. Er schlendert, flaniert, fotografiert und macht sich Notizen. Im Gepäck hat er Literatur wie z.B. das Buch „Nachtzug nach Lissabon“ (2004) von Pascal Mercier, das er selbstverständlich auf einer Nachtfahrt in die portugiesische Metropole liest.
Johny Pitts schildert seine Beobachtungen, Gespräche und Erfahrungen präzise, humorvoll und unterhaltsam: wunderbar skurril schildert er die Szene, als er in Berlin unvermittelt in eine Demonstration antifaschistischer Aktivisten gerät. Angesichts ihrer teilweise kahlrasierten Schädel und schwarzen Montur fürchtet er, unter Neonazis zu sein, als man ihn beruhigt, man kämpfe hier gegen Rassismus. Allerdings ist weit und breit kein Schwarzer zu sehen. Immer wieder erweitert und reichert Pitts seine Erzählung an mit historisch-politischen Exkursen, Reflexionen, wissenschaftlichen und literarischen Zitaten. In Paris und Südfrankreich bewegt er sich auf den Spuren berühmter schwarzer Schriftsteller wie James Baldwin (1924-1987) oder Frantz Fanon (1925-1961). In Brüssel findet er in einer Galerie im Viertel Matongé nicht nur aktuelle brillante afropäische Kunst: er erinnert sich auch an die naiv-kindlichen Freuden seiner Lektüre des rassistischen „Tim und Struppi“-Comics und ärgert sich. In einem Café in Lüttich diskutiert er darüber mit seinem großen Vorbild, den britisch-karibischen Literaten Caryl Phillips. Der hat schon 1987, dem Geburtsjahr von Johny Pitts, in seinem Buch „The European Tribe“ eine ähnliche Europa-Tour beschrieben und wird sein Mentor – ein Glücksfall, der Pitts Buch schließlich ermöglicht hat.
Denn darum geht es ihm: anzuknüpfen an die Arbeit europäischer schwarzer Künstler und Intellektueller, um eine Tradition weiterzuentwickeln, die diesen – befleckten utopischen - Raum „Afropäisch“ umkreist und kreiert. Was in der Musik der von Pitts bewunderten Sängerin Marie-Daulne mit ihrer Gruppe Zap Mama als Idee aktuell gelingt - nämlich das Zusammenfügen von Elementen aus verschiedenen Kulturen zu einer eigenständigen neuen Komposition – findet er im sozialen Raum vielleicht im Gebäude der Vereinigung Ons Suriname (V.O.S. / www.veronsur.org) in Amsterdam. Der traditionsreiche, etwas verstaubte Verein ehemaliger Migranten aus Surinam hat durch Aufnahme des New Urban Collective, ein junges schwarzes Netzwerk, neuen Auftrieb bekommen. Die afroniederländischen Student*innen und Akademiker*innen bauen hier jetzt die Black Archives auf. Sie sammeln die Nachlässe von Aktivisten und Intellektuellen der afrikanischen Diaspora – die teilweise die ihrer Vorfahren oder Eltern sind, die bisher fast nie mit ihren Kindern über ihre Kämpfe und Debatten gesprochen haben. So bewahren The Black Archives die Tradition schwarzer Emanzipationsbestrebungen wie die Harlem-Renaissance oder Négritude-Bewegung vor dem Vergessen, und würdigen so ihren Anteil an den großen sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts.
Pitts verdeutlicht das an der Geschichte des Ehepaares Otto und Hermina Huiswoud, die sich zwischen Britisch-Guayana, Surinam, New York und Amsterdam abspielte. Dass Otto Huiswoud (1893-1961) in den 1920er Jahren das erste schwarze Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei in den USA war, weltweit für den Sozialismus warb, hat die Geschichtsschreibung der Harlem Renaissance lange ignoriert, das FBI allerdings sorgfältig dokumentiert.
Die buchstäbliche „Weißwaschung“ der Geschichte ist symptomatisch. Während des Zweiten Weltkriegs stammten etwa zwei Drittel der französischen Armee aus den Kolonien. Als es 1944 darum ging, welche Kompanie an der Spitze der alliierten Truppen in Paris einmarschieren soll und damit das Bild des Sieges über die Deutschen prägen wird, drang General Charles de Gaulle darauf, dass es seine Soldaten sein sollen. Pitts zitiert einen Brief des britischen Lieutenant-General Frederick E. Morgan (1894-1967) vom 14.1.1944, in dem dieser betont, dass nur dann französische Truppen an der Spitze einmarschieren können, wenn sie weiß sind. Da solche weißen Franzosen knapp waren, mussten spanische Soldaten aushelfen, um das manipulierte Bild eines weißen Sieges zu produzieren.
Nach dem düsteren Kapitel über seinen Abstecher nach Moskau, wo man erfährt, dass Alexander Puschkins Urgroßvater schwarz war und Pitts seinen Afro-Look unter einer dicken Wollmütze vor den Blicken der Skinheads verstecken muss, bringt Marseille für ihn die Erholung. Die Mittelmeer-Metropole und Einwandererstadt bietet unter südlicher Sonne ein derart entspanntes vielfältiges multikulturelles Straßenbild, das Pitts hier Gentrifizierung, Armut und Korruption zwar benennt, aber diese Themen für ihn irgendwie an Gewicht verlieren. Fakt ist: schon als 2005 in den Pariser Vororten die migrantische Jugend den Aufstand probte, blieb es in Marseille relativ ruhig.
Johny Pitts entwirft in seinem Reisebericht ein breites Panorama an schwarzen Geschichten als Teil europäischer Geschichte, ein Mosaik von Lebensentwürfen, schwarzen und weißen Ressentiments, von Erkenntnis und Hoffnung. Er erzählt von Gemeinschaftssinn und Freundschaft, schildert trostlose abgehängte Siedlungen oder lebendige vielfältige Viertel, die von Gentrifizierung bedroht sind. Die bauliche Struktur der Städte spiegelt meist auch die soziale. Schwarze trifft die Segregation, die zunehmende soziale Spaltung besonders stark. Die kulturelle Teilhabe ist für sie keine Selbstverständlichkeit, für viele bilden Rassismus und Armut das Webmuster ihres Alltags. Pitts stellt keine konkreten politischen Forderungen, er entwickelt eher das Lebensgefühl einer hybriden bzw. multikulturellen Identität. Trotzdem hat er ein politisches Buch geschrieben. Er sucht Zugehörigkeit und sieht sich einer postkolonialen europäischen Gesellschaft gegenüber, die den schwarzen Anteil ihrer Geschichte und Kultur immer noch verdrängt.
Johny Pitts: „Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa“
Suhrkamp 2020
Fester Einband mit Schutzumschlag, 461 Seiten
ISBN: 978-3-518-42941-9
ARD-Interview mit Johny Pitts (ttt, 3:22min)
Video: Johny Pitts – Preisträger für „Europäische Verständigung"
Netzwerk Afropean – Adventures in Black Europe (engl.)
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