Acht Episoden sind es, in denen der weltberühmte japanische Schriftsteller Haruki Murakami (72) in seinem neuen Buch „Erste Person Singular“ auf Ereignisse in seinem Leben zurückblickt.
Erstaunliche Geschichten, die geschickt auf der Grenze von Fiktion und Realität balancieren und mit den Möglichkeiten des Traumes spielen.
Eine wahrlich nicht ungefährliche Kunst, die der Autor jedoch perfekt beherrscht. In diesen Geschichten geht es um Frauen, die verschwinden oder deren Namen aus wahrhaft affiger Liebe gestohlen werden. Es geht auch um Männer. Solche, die hin und wieder Anzug tragen, die manchmal mehr oder weniger allein in Bars sitzen, die Baseball und die Beatles lieben oder Charlie Parker und Robert Schumann. In all diesen Geschichten geht es immer auch um philosophische Betrachtungen. Geboten wird ein kurzweiliger, intelligenter Sprachmix aus Melancholie, Komik und Tragik.
Das dies so ist, dafür sorgt Haruki Murakami, der 1949 in Kyoto geboren wurde, längere Zeit in den USA und in Europa lebte und der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen ist. Alle seine Bücher sind in deutscher Übersetzung von Ursula Gräfe bei DuMont erschienen. „Erste Person Singular“ ist eine besondere Art der Biografie. Es geht in diesem Buch um Augenblicke des Schreckens und der Schönheit, um unvergessliche Momente der Sehnsucht und des Suchens. Manchmal aber geht es auch einfach nur um Sex. Und genau damit beginnt Murakami seinen erzählerischen Erinnerungsreigen, hautnah dargeboten aus der Ich-Perspektive.
In dieser ersten Geschichte mit dem Titel „Auf einem Kissen aus Stein“ erzählt Murakami von einer jungen Frau, von der er so gut wie nichts weiß, mit der er als 19jähriger zufällig eine einzige Nacht verbrachte und die eine ziemlich merkwürdige Angewohnheit hat: sie neigt dazu, beim Orgasmus den Namen eines anderen Mannes zu rufen, ja, herauszuschreien. Problematisch ist dies allein schon deshalb, weil der Ich-Erzähler in einem „morschen alten Holzhaus mit Wänden so dünn wie Waffeln“ wohnt. Was also tun? „Wenn sie hier mitten in der Nacht schrie, wüssten sämtlich Nachbarn Bescheid.“ Da scheint es eine gute Idee zu sein, ein möglichst festes Handtuch zu Hilfe zu nehmen, es sicherheitshalber neben das Kissen zu legen. „Geht das? fragte ich. Sie kaute ein wenig auf dem Handtuch herum wie ein Pferd auf einer neuen Trense. Dann nickte sie.“ Das ist lustig und tragisch zugleich. Für einen Menschen mit neunzehn allerdings, dem die Regungen des eigenen Herzens noch unbekannt sind, „ganz zu schweigen von jenen anderer Menschen“, ist diese Situation unvergesslich.
Es passiert viel, alles und nichts in diesen Geschichten. Ob wir uns auf einem schummrigen Schulflur befinden mit einem schönen Mädchen, deren Rocksaum schwingt und die eine Beatles-Platte unter dem Arm hat. Oder in einem kleinen New Yorker Second-Hand-Laden, wo plötzlich eine Bossa-Nova-Platte von Charlie Parker auftaucht, die es gar nicht geben kann: der Bossa Nova wurde erst nach Charlie Parkers Tod populär. Oder ob wir einen sprechenden Affen kennenlernen, der prima massieren kann, hin und wieder gerne ein Feierabendbier trinkt und seine Liebe zu Frauen auf besondere Art lebt. Oder ob wir von einem Mädchen erfahren, deren Zungenschnalzen den damals jugendlichen Helden möglicherweise bewog, für immer mit dem Klavierspiel aufzuhören. Es ist „eine uralte Geschichte, die noch dazu keine Quintessenz hat“, heißt es in dieser Geschichte über diese Geschichte.
Da gibt es ein Konzert, das nicht stattfindet, einen alten Mann auf einer Bank, der von der „Crème de la Crème“ (so der Titel dieser Geschichte) des Lebens philosophiert, ein Fahrzeug, aus dem eine Stimme ertönt, die eine christliche Botschaft verkündet: „Alle Menschen sterben“. Dieses bizarre Setting spielt in einer Szenerie, die auf jeden Fall als mysteriös bezeichnet werden muss. Im Übrigen sind dies nur einige der Zutaten dieser Story, für diese „seltsame Kette von Ereignissen“, die keinen Sinn zu ergeben scheinen. Oder doch? Das weiß der Leser so manches Mal nicht so recht und bleibt daher so manches Mal irritiert zurück. Natürlich ist das kein Zufall, sondern vom Autor genau so gewollt. Vielleicht ist das der Grund: Haruki Murakami will uns wieder dorthin führen, wo unsere Phantasie uns einst willkommen hieß, zurück in diese vergessene, verloren gegangene Welt voller Träume, mangelnder Wirklichkeit und zugelassener Irritation.
„Womöglich erscheint einem der Tod eines Traums trauriger als der eigentliche Tod“, heißt es in „With the Beatles“. Ein wenig weiter in dieser Geschichte lesen wir: „Die entscheidende Botschaft ging wie der Sinn aller Träume in einem Labyrinth verloren, nicht anders als bei den meisten einschneidenden Ereignissen im Leben.“
Haruki Murakami sorgt dafür, dass wir uns glücklicherweise an seine Träume erinnern können und sie zukünftig nicht vergessen werden. Vielleicht hilft uns das, unsere eigenen wesentlichen Erlebnisse und Träume wieder neu zu entdecken und für immer zu behalten. Schön wär´s!
Haruki Murakami: „Erste Person Singular“
Erzählungen. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
Dumont Verlag 2021
Gebunden, 224 Seiten
ISBN: 9783832181574
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