Eine Kulturgeschichte der menschlichen Hand hat der Germanist Jochen Hörisch vorgelegt. Welcher Teil unseres Körpers eignete sich besser für ein solches Vorhaben als die Hände? Spielen sie nicht eine gewaltige Rolle in unserem Leben, in unserem Alltag wie in der Kultur?
Heute scheint es ja die uneingeschränkte Mehrheitsmeinung, dass es erst das so wunderbar entwickelte Gehirn ist, das den Menschen zum Menschen machte. Aber stimmt das wirklich?
Der auch in diesem Buch zitierte große französische Paläanthropologe André Leroi-Gourhan sah in der menschlichen Hand unser zentrales Organ und schrieb in seinem Klassiker „Hand und Wort“, dass „die Entwicklung des nervösen Apparates, der des Körperapparates folgt.“ Überhaupt legte Leroi-Gourhan, dessen Blick auf die Evolution des Menschen nicht wenig vom Mainstream abweicht, Wert auf die Feststellung, „daß das Gehirn der allgemeinen Bewegung folgt und nicht ihr Motor ist.“ Wenn er recht hat, wenn also die Hände zuerst da waren, dann wären sie für unser Menschentum das wichtigste Organ, denn erst dank ihrer wären wir in und mit ihnen ganz Mensch.
Muss oder darf man so weit gehen wie Leroi-Gourhan? Haben nicht auch Affen Hände, deren Gesten nicht nur gelegentlich menschlich anmuten? Hätten sie dann nicht auch Kultur entwickeln müssen? Oder kann man die Hand eines Schimpansen gar nicht mit der eines Menschen verwechseln, handelt es sich nur um eine ganz oberflächliche Ähnlichkeit? Leroi-Gourhan war konsequent genug, „die Verwandtschaft des Affen mit dem Menschen […] als äußerst problematisch“ anzusehen, und eben damit stellte er sich entschieden gegen die Mehrheitsmeinung.
Wie auch immer man über unser Verhältnis zur lieben Verwandtschaft denken mag: In jedem Fall ist die Bedeutung der Hand für den Menschen ganz offensichtlich – sie liegt an der Oberfläche, und es ist unmöglich, sie zu übersehen. Ohne die Sensibilität und Geschicklichkeit der Hand gäbe es weder Künste noch irgendein Handwerk, sie spielt eine dominierende Rolle in unserem Sozial- und Liebesleben, und wenn man jemanden einen Grobmotoriker nennt, dann gilt das seinem ganzen Wesen, nicht etwa allein seiner Fingerfertigkeit, so dass hier die Hand für den ganzen Menschen steht.
Wie schreibt man eine Kulturgeschichte der Hand? Wie könnte man zum Beispiel den Einfluss der Musik auf die Entwicklung der Hand erforschen, auf die Steigerung ihrer Sensitivität und Geschicklichkeit? Wahrscheinlich ist das unmöglich, zumindest für frühere Zeiten, weil uns dafür die schriftlichen Quellen fehlen. Es gibt deshalb wohl nur zwei Zugänge: die Literatur und die Kunstgeschichte, und eben diesen Weg geht Hörisch in seinem ungewöhnlich anregenden und vielseitigen Buch. Immer wieder greift er auf die Interpretation von Bildern zurück, spricht also über Gottvaters ausgestreckten Finger auf Michelangelos berühmter „Erschaffung Adams“ oder über Ölgemälde Caravaggios, Tizians oder Rembrandts. Und es findet sich auch eine Plastik, nämlich Auguste Rodins „Kathedrale“ (zwei sich aneinander aufrichtende, wie eine gotische Kirche himmelwärts strebende Hände). Und er spricht über berühmte Filmszenen… Auch Bücher über die Gesten der Hand oder die Bedeutung der Hand für die Chirurgie werden erwähnt.
Trotzdem: Im Zentrum seines Buches steht die Literatur. Hörisch hat die verschiedensten Autoren im Blick, aber es ist der Klassiker schlechthin, der dieses Buch dominiert. Zwar wird auch Thomas Mann zitiert (die Interpretation der „Buddenbrooks“ mit Blick auf das Leitmotiv der Hand ist sehr erhellend), Gotthold Ephraim Lessing („Emilia Galotti“), Rainer Maria Rilke mit einem seiner Herbst-Gedichte, weil an dessen Ende Gott („Einer“) uns „unendlich sanft in seinen Händen hält“, oder Heinrich Heine in seinen „Englischen Fragmenten“.
Doch es ist Goethe, dessen Gesamtwerk Hörisch mit Blick auf die Hände liest. Goethe, so schreibt er, sei „seinem frühen Schreibprogramm, von Hand und Händen zu handeln, zeit seines Lebens treu geblieben.“ Der Leser mag das zunächst ein wenig übertrieben finden, kann sich dann aber leicht von der Wahrheit dieses Satzes überzeugen. Schließlich werden eigentlich alle großen Werke Goethes in diesem Buch mit Blick auf die Hand zitiert, und auch Leroi-Gourhan hätte sich bestätigt gesehen, denn „gleich mehrere Szenen und Passagen in Goethes Werken nehmen sich wie vorweggenommene Illustrationen zur These vom engen evolutionären und strukturellen Zusammenhang zwischen Hand und Wort, Extremitäten und Hirn aus.“ Dabei interessiert sich der Autor vor allem für jene Teile aus Goethes Werk, die zu lesen die Mehrheit sonst hübsch unterlässt, nämlich „Faust II“ und „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. Wie diese beiden als langweilig verschrienen Werke, so wird man auch den „Götz von Berlichingen“ noch einmal durchstudieren wollen, nachdem man Hörisch dazu gehört hat, denn als aufmerksamer Literarhistoriker sind ihm Zusammenhänge aufgefallen, die wohl nur die wenigsten von sich aus bemerken.
Hörisch ist Germanist, aber er hat sich in früheren Büchern auch schon mit Religion und Ökonomie beschäftigt, und während der Leser über Hände in der Kunst wenig überrascht sein wird, ist er es hier vielleicht nun doch. Allerdings, man braucht nicht lange zu überlegen, um die ökonomischen Worte zu finden, die etwas mit der Hand zu tun haben. Das erste ist natürlich der Handel, das zweite die Abkehr von der Hand oder von der Handarbeit: „Das Zeitalter des Kapitalismus und das der Handvergessenheit gehören zusammen.“ Dabei kommt „manus“ (Hand) sogar in der anglisiert-kapitalistischen Berufsbezeichnung schlechthin vor, im „Manager“.
Viel wichtiger in der Darstellung Hörischs ist die „unsichtbare Hand des Marktes“ als Nachfolgerin der Hand Gottes. Diese Thematik stellt Hörisch am Beispiel verschiedener Bilder vor, von Tizians „Zinsgroschen“ bis Georg Baselitz, der ein „Ökonomie“ betiteltes Bild gemalt hat. Und wieder läuft es auf Goethe hinaus: „Kein zweiter Kopf um 1800 dürfte die Transposition der Metapher von der unsichtbaren Hand aus religiösen in ökonomische Sphären so aufmerksam beobachtet und bedacht haben wie der Finanzminister Goethe.“ In diesem Zusammenhang mutiert Heinrich Faust sogar zum „Wirtschaftsweisen“ – aber natürlich nur in „Faust II“, den man erst einmal lesen muss, um den ökonomischen Sachverstand des Meisters zu entdecken.
Wenn die Hand zu den Wesensmerkmalen des Menschen zählt, und wenn eine leichte und geschickte Hand zu einem gebildeten Menschen gehört – was bedeutet es dann, dass die Hand in unserem täglichen Leben eine immer geringere Rolle spielt? Die Handschrift zum Beispiel – auf der ganzen Welt ein Synonym für Bildung – soll schon bald überhaupt keine Rolle mehr spielen, wenn es nach gewissen Pädagogen geht. Aber wenn es wahr ist, dass die Hand der Entwicklung des Denkens, der Wahrnehmung und überhaupt der Kultur vorangeht, dann sollte man ihrer Erziehung die allergrößte Aufmerksamkeit schenken, denn dann wäre eine gepflegte, in Jahren ausgebildete Handschrift alles andere als eine Last, ihre Reduktion auf eine Blockschrift aber eine Katastrophe.
Hörischs Buch ist keine Abhandlung, die sich in wenigen Sätzen zusammenfassen lässt, sondern vor allem ein anregender und eleganter Essay – nicht selten assoziativ ausschweifend und jederzeit dank einer umfassenden und vielseitigen Bildung des Autors perspektivenreich und interessant. Er präsentiert, gut lesbar dargeboten, eine wichtige Thematik. Man kann das Buch gar nicht warm genug empfehlen.
Jochen Hörisch: Hände. Eine Kulturgeschichte
Hanser Verlag 2021
304 Seiten
ISBN: 978-3446267749
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