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Die letzten zehn Tage im Leben einer Ikone Ach, Virginia. Ein Roman ueber Virginia Woolf

Virginia Woolf (1882-1941) ist eine Ikone der literarischen Moderne. Wie kaum eine andere Frau ihrer Zeit steht sie für das Ringen um Eigenständigkeit und Raum für sich. Ihr Leben war geprägt vom ständigen Wechsel zwischen Kreativität und Krankheit.
In seinem biografischen Roman „Ach, „Virginia“ bezeichnet Michael Kumpfmüller die große Schriftstellerin gleich zu Beginn als kleines Mädchen „das sie ja ist und bis zum Ende bleiben wird“. Das Ende, das ist der Tod. Das ist der mit Steinen in den Manteltaschen beschwerte Gang ins Wasser. Zum Zeitpunkt des Geschehens ist Virginia Woolf 59 Jahre alt.

Im Mittelpunkt des Romans stehen die letzten zehn Lebenstage von Virginia Woolf. Der Leser begibt sich gemeinsam mit dem Autor auf die Spuren der einst berühmten Schriftstellerin, deren Fluch die Männer sind, von deren Erfolg nur noch ein Abglanz geblieben ist. Tagebucheinträge und Briefauszüge bilden den wahrhaftigen Hintergrund. Hinzu kommen fiktive Gedanken Virginia Woolfs.
Die Haltung der berühmten Frau und ihres Gatten Leonard vor und zu Beginn des Krieges ist nicht nur leichtlebig, sondern sogar leichtfertig: Vom Bombenangriff Hitlers auf London im Mai 1940 scheinen die beiden zunächst wenig beunruhigt zu sein. Dies, solange sie sehen konnten, dass „es vorläufig nur andere trifft“. Sorgen bereiten dem Ehepaar lediglich die zunehmenden Schwierigkeiten mit der Lebensmittelbeschaffung sowie der Verlust des festen Personals, den eine stundenweise beschäftigte Frau aus dem Dorf kaum ausgleichen kann, erzählt uns der Autor. Diese eher sorgenfreie Haltung ändert sich erst, als die Woolfs in London selbst ausgebombt wurden und daraufhin ganz in ihr südenglisches Feriendomizil „Monk’s House" in Rodmell ziehen.

Depressionen, Rast- und Kraftlosigkeit, die Langeweile des zur Routine gewordenen Landlebens setzen Virginia mehr und mehr zu. Die alten Gespenster ergreifen Besitz von ihr. Sie findet kaum Schlaf, wird des Nachts bedrängt von vielerlei Stimmen. Nun fliegen auch Bomben über das kleine Cottage in Südengland, das Virginia und ihr Mann Leonard bewohnen. Im März 1941 gerät Virginia Woolf in eine weitere, letzte Krise. Die psychische Krankheit raubt ihr alle Kraft. Sie isst kaum, liegt auch tagsüber meist im Bett, lebt in Erinnerungen, befragt kritisch und krankhaft zugleich ihre Liebe zu Leonard, ihr Verhältnis zu Lebenden und Toten. Virginia ist nicht nur eine Gefangene ihrer selbst, sie führt auch das Leben einer Gefangenen. Sie wird besorgt und argwöhnisch beobachtet, erhält Anweisungen. Sie hadert mit dem Schicksal, zumal ihr neues Buch wenig erfolgreich ist. Und Neues fällt ihr nicht ein. Nur ein Abschiedsbrief soll es noch sein. Ein letzter Brief an den Ehemann: „Liebster, ich bin mir sicher, dass ich wieder wahnsinnig werde […] Wenn jemand mich hätte retten können, wärest Du es gewesen", schrieb sie ihrem Mann zum Abschied. Soweit, so bekannt.

Ach, Virginia – Roman ueber Virginia WoolfKumpfmüller beschreibt Virginia Woolf als komplizierten Menschen, deren Humor eher kalt sei, „sie hat eine spitze, flinke Zunge und liebt es, Leute bis auf die Knochen auszuziehen.“ Dabei sei ihr beinahe jedes Mittel recht. War Virginia Wolf so? War sie das ewige Mädchen, das sich einen „respektablen Ruf als Intrigantin“ erworben hatte, die Ich-bezogene Person? Ist es das allein das Bild, was uns mit diesem Buch vermittelt wird, vermittelt werden soll? Zum Glück ist das nicht so: Kumpfmüller vermittelt dem Leser das Bild einer psychisch kranken, hochsensiblen, kreativen Frau, die wenig von Männern weiß, die so gut wie keine physische Erfahrung mit Männern hat, „sie weiß nur, wie versklavt und verbohrt Männer sind und wie empörend unbekümmert und frei. Lügner und Vergewaltiger sind Männer.“
„Ich glaube, dass die psychische Krankheit mit der Quelle ihrer Kreativität verbunden ist“, sagt Michael Kumpfmüller im Interview mit „Deutschlandfunk Kultur“. Eine klare Unterscheidung zwischen „Wahnsinn“ und „Normalität“ sei dabei gar nicht möglich: „Als Schriftsteller hat mich interessiert, inwieweit man das nachvollziehen und verstehen kann, ohne sie dabei als Opfer oder Täter zu behandeln, sondern als jemand, der eben in diesem schwierigen Gelände operiert.“ Drei Monate lang ist der Autor in die schriftlichen Hinterlassenschaften der großen Vorgängerin eingetaucht, um den Roman schreiben zu können. Dies, um zu verstehen, wer sie wirklich war, wer sie gewesen sein könnte.

Manch gut gewähltes Sprachbild taucht auf: das Bild vom Gebäude des Lebens, das Bild von jemandem, der die Trümmer schon aufgeräumt hat, „wobei beim besten Willen nicht zu erkennen ist, was man dereinst damit noch anfangen soll.“ Anderes ist von anderen Autoren schon so oft beschrieben worden, dass es in der ewigen Wiederholung eher banal wirkt. So wie das Bild der Vögel, die den Frühling bejubeln und begrüßen. Das Ende dieses Jubels ist wiederum ein schöner, stimmiger Gedanke, der den Bezug zu Virginia Woolfs tragischen Gedankenflügen herstellt: die Vögel, die „[…] damit nur beweisen, wie dumm sie sind.“ Dabei greift Kumpfmüller oftmals zu einer Technik, die typisch für Virginia Woolfs literarisches Schaffen war: die Technik des inneren Monologs. Diese Kunst hilft uns Lesern – wir fühlen mit Virginia Woolf. Wir teilen deren Trostlosigkeit, den Schmerz, die Hoffnungslosigkeit. Ein weiterer Verdienst dieses einfühlsamen Romans ist: Wir bekommen Lust, Virginia Woolfs Bücher zu lesen, erneut zu lesen.

Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia

Kiepenheuer und Witsch Verlag 2020
Roman. Gebunden, 240 Seiten
ISBN 9783462049213
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Leseprobe


Abbildungsnachweis:
Headerfoto von Michael Kumpfmüller: Joachim Gern
Buchumschlag

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