Was für ein Glücksfall: Ein Antiquariatsfund in Rīga führte 2018 dazu, dass das Prosapoem „Straumēni“ von Edvarts Virza nun auch für deutschsprachige Leser als großartige lettische Literatur zu entdecken ist.
Zu verdanken ist dies dem Guggolz Verlag und Übersetzer Berthold Forssman. Das im Frühjahr 2020 erschienene, außergewöhnliche und ungewöhnliche Werk aus dem Jahr 1933 ist eine Hymne auf das bäuerliche lettische Leben Mitte des 19. Jahrhunderts.
Es führt uns durch „Ein altes Zemgaler Gehöft im Jahresverlauf“, so der Untertitel des Buches. Nicht ein einzelner Bewohner, sondern der Hof selbst wird zur Hauptfigur des Buches. Die Sprache, in der Virza uns Leser ein Jahr lang durch das ländliche Leben der vorindustriellen Zeit geleitet und begleitet, ist wie ein Strom, der unaufhaltsam voranstrebt. So wie der Fluss Lielupe, der sich rund um das fiktive Gehöft Straumēni durch die Wiesen der real existierenden Landschaft schlängelt. Der Autor verknüpft in diesem Prosapoem das Leben auf dem Gehöft, Kindheitserinnerungen und Erzählungen der Großeltern mit dem Takt der Natur. Da summt, raschelt, knistert und duftet es. Und es klingt in den Wörtern – eine wahre Freude für uns Leser.
Zumal wir diese von Virza literarisch so eindringlich und bildhaft gestalteten Stimmungen, Gefühle, Gepflogenheiten und Gewohnheiten bis hin zu Trauer, Verlust und Tod selbst kennen: „Jeder wird schon einmal an einem ruhigen Sommertag in die Tiefe eines Sees, eines Flusses oder eines Teiches geblickt haben.“ Mit diesem Satz beginnt das Buch, das kein Roman ist, wohl aber romanhafte Züge hat. Wir sehen die Birke, die sich im Wind biegt, hören den Vogel in den Zweigen, „doch sein Lied ist nicht zu vernehmen“. Im Wasser spiegeln sich die Dinge, spiegelt sich die Welt, die stumme Welt, die hinter allen Dingen zu sehen ist. Von großer Ähnlichkeit mit dem Tod spricht der Autor in diesem Zusammenhang. Das gilt auch für Erinnerungen, die nichts anderes sind, „als die Spiegelungen des vergangenen Lebens in unserem Geist“. Darum sei ein Gang auf den Spuren dieser Erinnerungen „ein Gang durch das Totenreich“, so Virza. Das klingt höchst dramatisch, liest sich aber leicht und schön: Ein Lesefluss beginnt, der nicht abreißen will.
Am Anfang des Buches wird uns Straumēni vorgestellt, wir lernen das alltägliche Leben auf dem Gehöft kennen, die dort lebenden Menschen, die einzelnen Gebäude. „Zwar errichtet der Mensch ein Haus nach seinem Ebenbild, aber ist es erst einmal erbaut, beginnt es ein Eigenleben zu führen. Jeder, der darin wohnt, wird nach ihm geformt, und je älter es ist, desto tiefer ist der Eindruck, den es bei seinen Bewohnern hinterlässt“, heißt es über Straumēni, dieses von Feldern und Wiesen umgebene lettische Gehöft. „Wenn Sie von der Nordseite in eines dieser Häuser hineingelangen wollen, müssen Sie lange durch einen Kiefernwald laufen, […] Wie überall auf der Welt, haben auch auf dem Gehöft Straumēni die Mitglieder der Hofgemeinschaft ihre jeweiligen Aufgaben zu verrichten. „Ihre höchste Weisheit und ihr Glück besteht darin, die göttliche Ordnung zu begreifen und sich ihr zu fügen.“ So wird im Einklang mit der Natur im Frühjahr gepflügt und gesät, im Sommer bewirtschaftet und herangereift, im Herbst geerntet und geschlachtet, im Winter eingelagert und sich häuslich eingerichtet.
Autor und Übersetzer gelingt es, uns diese Welt sinnlich vor Augen zu rufen, uns mitzunehmen, uns teilhaben zu lassen. Wir lesen von einer Frau – und wir sehen diese Frau: Sie sitzt auf einer Bank und schlägt Butter. Von ihr heißt es, die Schönheit habe in ihrem Gesicht so tiefe Spuren eingegraben, „dass nicht einmal die Zeit sie hat mit sich nehmen können“. Für uns Leser ist das Besondere und Schöne an Stellen wie diesen: Virza beschränkt sich nicht auf kurze, stimmige Beschreibungen. Er setzt seine Betrachtungen fort, führt sie aus, führt uns fort, reißt uns mit sich - und wir sind berührt und gerührt. Das setzt sich fort, zieht sich durch das ganze Buch. Nicht zuletzt dank der Sprachmelodie Virzas, die Übersetzer Berthold Forssman eindrucksvoll nachbildet.
Die Bäume haben eigene Stimmen, die Mägde singen beim Mahlen, und frühere Bewohner, die einander „nach Jahren zuerst nicht wiedererkannten, erkannten sich doch an dem ehrlichen Sinn, der von ihrer Stirn strahlte“. Wir erleben im dortigen Frühjahr das erste Hochwasser, die Rückkehr der Störche, die Vorbereitungen für das Osterfest. Das ganze Jahr über wird nicht nur gearbeitet, sondern auch fröhlich gefeiert: Mittsommer, Erntedank, Weihnachten. Und doch ist auch Melancholie, Trauer spürbar, wie ein verhaltener Schmerz über das unwiederbringlich verlorene Ideal. Die poetische Sprache ist es, die alles zusammenhält, den Leser mitnimmt. Selbst philosophische Gedanken kommen nicht mit erhobenem Zeigefinger daher. Sie passen sich demütig an, sind eins und einig mit dem Menschen, der Heimat, Natur: „Die Stufen des Lebens sind die Stufen des Geistes […], heißt es an einer Stelle. Fakt ist, alle unsere Sinne werden beim Lesen dieses reichen Buches angesprochen, wenn wir uns wirklich und wahrhaftig auf das Abenteuer dieser Lektüre einlassen.
Edvarts Virza (1883-1940), dessen richtigen Name Jēkabs Eduards Liekna ist, gilt als einer der berühmtesten lettischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er schrieb Gedichte, war Publizist und Übersetzer von Poesie. Sein Elternhaus in der Nähe von Iecava ist heute ein Museum, das die Möglichkeit bietet, sich mit dem Werk von Virza bekanntzumachen. Hier, im Haus „Billītes“, entstanden viele seiner Gedichte, sein erster Gedichtband „Biķeris “ erschien 1907. Hier schrieb er auch das 1933 erstmals veröffentlichte, legendäre Werk „Straumēni“, das bis 1942 zehn Auflagen erlebte. Virza war sogar für den Literaturnobelpreis im Gespräch, doch sein Tod 1942 kam dem zuvor. Während der sowjetischen Okkupation Lettlands wurde Straumēni totgeschwiegen und erst ab 1988 wieder veröffentlicht, zunächst in einer Literaturzeitschrift und noch vor der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands auch in Buchform. Heute ist das Buch klassische Schullektüre in Lettland und Teil des „Lettischen Literaturkanons“, wie aus dem Nachwort von Bernhard Forssman zu erfahren ist. Auch das ist lesenswert – so wie das gesamte Buch. Zumal dieses entschleunigte Durchqueren durch das bäuerliche lettische Leben Mitte des 19. Jahrhunderts auch eine Reise zu uns selbst ist.
Edvarts Virza, Straumēni
Guggolz Verlag 2020
Aus dem Lettischen und mit einem Nachwort von Berthold Forssman
333 Seiten
Gebunden, Fadenheftung mit Lesebändchen
ISBN 9783945370254
Weitere Informationen
Leseprobe
Erläuterungen der lettischen Begriffe und deutsche Namen:
(Region) Zemgale – Semgallen
(Fluss) Lielupe – Kurländische Aa
(Autor) Edvarts Virza – Eduard Wirsa
Abbildungsnachweis:
Buchumschlag
Portrait Edvarts Virza (Eduard Wirsa), 1914. Foto: Ansis Skariņš
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