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Vom Wasser und von der Sicht aufs Leben: Ulrike Draesners Roman „Kanalschwimmer“

Biochemiker Charles hat „zu sicher gelebt“. Das begreift er leider erst im Alter von zweiundsechzig Jahren, also kurz vor dem Ruhestand.
Als seine Frau ihm eröffnet, dass ein anderer Mann fortan das Haus mit ihnen teilen soll, setzt Charles seinen eigenen Traum um und dagegen: er will einmal im Leben durch den Ärmelkanal schwimmen.

Ob dieser Trumpf zum Triumpf wird, erweist sich im Laufe des Romans „Kanalschwimmer“, den die vielfach preisgekrönte Autorin Ulrike Draesner im Rahmen der Reihe LiteraTourNord in der Lübecker Buchhandlung Hugendubel präsentierte. Buchhändlerin Martina Dusollier lobte die „unglaubliche Bandbreite“, die das Gesamtwerk der Autorin auszeichne. Dieses Lob galt gleichermaßen für Prosa und Lyrik. Lyrische Elemente und andere Kunstgriffe finden sich auch in ihrem aktuellen Roman „Kanalschwimmer“.

Die Geschichte einer Kanalüberquerung ist zugleich die Geschichte eines Lebens. Der Roman ist also auch eine Reise nach innen, führt tief hinab in die menschliche Seele. Beide Ebenen verbindet Ulrike Draesner klug miteinander. „Sie beschreibt so anschaulich, dass man beim Lesen glaubt, man sei selbst der Schwimmer“, so Buchhändlerin Dusollier. Dass Ulrike Draesner ebenso gekonnt vortragen wie schreiben kann, stellte die Autorin bei der Lesung in Lübeck unter Beweis. Mit angenehmer Stimme und stimmigen Gesten unterstrich sie die inhaltliche Wirkung des Romans. Im Gespräch mit der Buchhändlerin erzählte sie dem Publikum zusätzlich die eine und andere Geschichte aus dem „richtigen“ Leben. So bekannte sie, sie habe den Kanal nicht selbst durchschwommen: „Ich war nur bis zu den Knien drin. Das reichte mir, um ein Gefühl für Kälte zu haben.“

Draesner Kanalschwimmer COVERIm Roman „Kanalschwimmer“ geht es auf der einen Ebene um die Überquerung des Ärmelkanals, auf der anderen Ebene um eine verwickelte, mit Geheimnissen behaftete Lebens- und Liebesgeschichte: Charles' Frau Maude trifft nach vielen Ehejahren, nach einem Leben in Deutschland und Rückkehr nach England, Charles früheren Freund Silas wieder. Silas ist jedoch nicht nur früherer Freund, sondern auch Charles alter (und neuer) Rivale in der Liebe. Und schon ist die eingespielte Zweisamkeit zwischen Maude und Charles gefährdet. Verlangt Maude tatsächlich von ihm, eine Beziehung zu dritt zu führen? Charles reagiert darauf, wie es Männer gerne tun: „Er ist weggerannt. Als wäre er ein Eheanfänger. Ein Krisenanfänger. Dabei ist vierzig Jahre lang alles gut gegangen, aus seiner Sicht.“ Dabei hatte er doch das Gefühl, „zusammen mit Maude vollständiger zu sein, gefüllter. Eine gänzere Person.“ Und nun? „Was unterschied Vorher von Nachher, machte eine Katastrophe, eine Erkenntnis aus […] Nichts änderte sich, der Zusammenbruch geschah im Kopf.“

Die Vergangenheit hat Charles wieder eingeholt. Und er weiß absolut nicht, wie er damit umgehen soll, dass diese komplizierte Liebesgeschichte nach mehr als drei Jahrzehnten aus der bloßen Erinnerung plötzlich wieder im gegenwärtigen Leben auftaucht. Irgendwie scheint dadurch alles aus dem Ruder geraten zu sein. Um wieder klaren Kopf zu bekommen, beschließt Charles, sich seinen Lebenstraum zu erfüllen. Er will von Dover nach Calais schwimmen, den Kanal überqueren als Schwimmer. Er will das tun, um einen Ausweg zu finden, eine Entscheidung zu treffen. Doch ist das die Lösung? Gewiss ist nur eines: es ist eine gewaltige Herausforderung. Die Enttäuschungen seien das Schlimmste, warnt sein Pilot Brendan ihn vor dem Start. Brendan, der eigentlich Fischer ist, der aber, weil die Fischerei nicht mehr so recht läuft und er deshalb Geld braucht, Pilot für Ärmelkanalschwimmer geworden ist. Hingeben werde er sich müssen, sagt Brendan zu Charles. Sich hingeben. Sich dem Wasser hingeben, dem Leben hingeben. Kann Charles das überhaupt? Vielleicht trieb alles nur an der Oberfläche dahin, hier wie da.

Im Wasser jedenfalls würde es keinen Gegner geben. „Nur Erschöpfung und Rausch, Verführung und Kraft.“ Der Kanal ist kalt. Die Strömung ist mächtig, das Wasser stark, anziehend, gefahrvoll. Mal ist es „rostig rot wie Fischblut“, mal eine „eisige Salzsuppe“, mal gleicht das Meer „einer Lichtung in einem Wald“. Manchmal ist es still, als wenn Schnee auf Seewasser fällt, manchmal ist die See wie eine glatte Wand, die sich vor Charles erhebt. Allmählich verliert er das Gefühl für Zeit, verliert die Kontrolle, die Sicht auf sein Leben verändert sich. Am Ende des Romans hat Charles verstanden, dass er die Lösung seines Problems in der Gegenwart suchen muss und nicht in der Vergangenheit. Doch für diese Erkenntnis brauchte es den Rückblick. Und wir blicken – während wir den Schwimmer rhythmisch bewegt beim Durchqueren des Ärmelkanals durch sämtliche Höhen und Tiefen begleiten - gemeinsam mit Charles auf drei Sommer der Liebe zurück, blicken auf menschliche Leidenschaften und gescheiterte Utopien. Wir fühlen mit dem „Kanalschwimmer“ und erinnern uns am Ende der Geschichte vielleicht an den Anfang des Romans. An den Charles Grandpa, der von Odysseus schwärmte, und den der Junge zu Beginn des Romans sagen hört, „Sea… schau, das Meer. Swim!“ Grandpa, der hinauszeigte „in das Blau, und Charles verstand, dass Sehen und Meer eines waren.“

Ulrike Draesner: Kanalschwimmer

Roman. Marebuchverlag, Hamburg 2019
ISBN 9783866482883
Gebunden, 176 Seiten
Lesetermine


Abbildungsnachweis:
Headerfoto von Ulrike Draesner: Marion Hinz
Buchumschlag

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