Brigitte Kronauer, 1940 in Essen geboren, starb am 22. Juli 2019 mit 78 Jahren nach langer schwerer Krankheit in Hamburg. Ihr schriftstellerisches Werk wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis der Stadt Berlin, mit dem Heinrich-Böll-Preis, dem Hubert-Fichte-Preis der Stadt Hamburg, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Jean-Paul-Preis ausgezeichnet. 2005 wurde ihr der Büchner-Preis von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehen.
Posthum erschien am 9. August ihr letztes Buch „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“, bestehend aus 39 Romangeschichten. Dieses Buch ist ein großartiger, brillanter, universeller Nachlass für uns Leser.
Vorlage für all die Geschichten, die in diesem Buch versammelt sind, ist das momentane Leben einer Schriftstellerin, die vorübergehend im Haus eines Ornithologen lebt. Aufgrund veränderter Umstände kommt sie mit ihrem geplanten Roman nicht recht voran. Stattdessen drängen sich ihr die Vögel des Waldes auf. Alsbald schon schälen sich aus den Vogelgesichtern die Gesichter von Freunden und deren Geschichten. Es ist „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“, von denen Brigitte Kronauer uns hier erzählt. Doch die Schönen sind nicht immer auch am Ende noch schön, und die Schäbigen vielleicht doch nicht so schäbig wie sie am Anfang erscheinen. Hinzu gesellen sich die Schwankenden, die noch nicht so recht wissen, zu welcher Kategorie sie gehören. Brigitte Kronauer stellt mit und in diesen Geschichten alles augenscheinlich Sichtbare auf den Kopf und in Frage. Sogar das Schriftstellerleben selbst steht hier auf dem Prüfstand.
In der ersten der 39 Romangeschichten in „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“ spricht die Autorin – entgegen aller literaturwissenschaftlichen Vorgaben – augenscheinlich selbst zu uns. Die Ich-Erzählerin schreibt im Ornithologen-Haus an einem Buch, genauer gesagt: an einem Roman mit dem vorläufigen Titel »Glamouröse Handlungen«. Von dem Haus, in dem sie vorübergehend lebt, heißt es: „An den Wänden hängen Fotografien, Schautafeln, Zeichnungen, auf denen das geflügelte Tierreich prächtig und in Überfülle präsentiert ist, vom Eisvogel bis zum Östlichen Waldpiwi, vom Federhelm-Turako bis zum Schwarzstirnwürger. Ein gefiedertes Volk, in dem jeder in der Lage ist, sich dann, wenn es ihm in Erdnähe zu lästig wird, in die Lüfte zu schwingen.“
Was letztendlich beim Anblick der künstlichen Vogelwelt im Haus und der realen Vogelwelt außerhalb entsteht, sind 39 Romangeschichten, in denen in den 3 Kategorien „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“ und in jeweils 13 Geschichten von den unterschiedlichsten Menschen erzählt wird. Das Schöne steht für den Aufstieg, das Schäbige für den Absturz, das Schwankende für die Möglichkeiten dazwischen. Das Konzept umschreibt die fiktive (oder reale) Autorin folgendermaßen: „Drei Entwicklungsstufen hätten die Figuren zu durchlaufen, mit sehr unterschiedlichem Erfolg, je nach Abteilung. Die Schäbigen würden in einen stetigen Fall geraten, von akzeptabler Plattform aus wäre es ein Sturz ins immer Unerfreulichere ohne Aufenthalt. Die Schönen müßten so beginnen, dass man ihre herausragende Eigenschaft zunächst nicht bemerkt. Erst allmählich, aber kontinuierlich, würde sich ihr Aufstieg abzeichnen aus der normalen Lebenstrübnis zur lichten Offenbarung. Die Schwankenden, so hatte ich es geplant, sollten weder ausdrücklich so noch so beginnen, vielmehr durchmischt, unentschieden anfangen, dann zu einem glänzenden Moment aufsteigen und von dort aus wieder absinkend, in der Weise gezähmt, wie sie es jeweils verdienten.“
Porträtiert werden in diesen 39 Geschichten Menschen, deren Gesichter sich der Schriftstellerin beim Anblick der Vögel auf jener Insel einstellen, zu der man über den Hindenburgdamm gelangt. Wir wissen also, wo wir uns befinden. Die Autorin sitzt hier in einem Café, um eine Postkarte an ihren Ehemann zu schreiben. Dabei wird sie von einer Dame gestört, die an ihrem Tisch als unaufgefordertes Gegenüber Platz nimmt. Die Schriftstellerin kann (und will) sich dieser Störung letztendlich nicht entziehen, und die Geschichte nimmt ihren verblüffenden Lauf. Wie eine „wahre Gelbstirnamazone“ kommt ihr die gegenübersitzende Dame vor angesichts „der blonden Pracht auf dem Kopf der Frau, dem das wüste Wetter kein Härchen krümmen konnte, deren Kleid so kühn in Grüntönen gefärbt, an den Schultern mit ein bißchen frechem Rot betreßt. […] Dunkel schimmernde Augen, wahrhaftig hagebuttenrote Lippen lächelten mich an: „Jaja.“ […] Ich nickte dieser hübschen, zur Not noch blühenden Frau kurz zu, gespielt zerstreut, als hätte ich das Geräusch für das Knistern beim Hantieren mit den Milchtöpfchen gehalten.“
Immer wieder lassen sich – wie in dieser Eingangsgeschichte die Gelbstirnamazone – Vögel in diesem Buch nieder. Das eine Mal geschieht dies direkt und real im Fiktiven, ein anderes Mal indirekt und irreal oder auch beides zugleich. Bei der Sängerin Rosita sitzt beispielsweise der spöttisch-melancholische, schmachtende Nachtigallenlaut in der Kehle. „Hubertus“ erscheint wie ein munteres Spatzenmännchen. In „Rosetta“ betritt selbige „mit festem Schritt, schwingenden Hüften und einigen in ihr fülliges Haar gesteckten, steil aufragenden Federn, die von einem exotischen Vogel stammen mochten“ den für eine Abendgesellschaft mit Vierertischen hergerichteten Raum. Die umwerfend schöne Rosetta, die mit Sternenaugen lacht und ausgestattet ist mit einem „übermütigen Springbrunnen aus Federn auf ihrem Kopf“ sowie „einem großen gurrenden Mund.“
Ganz anders erscheint der rote Lukas, der alte Rotkopfspecht. Lukas ist Pfleger, wegen des lädierten Rückgrats aber eher Betreuer, erzählt uns Brigitte Kronauer in „Der rote Lukas“. So wie die Autorin selbst verfügt auch Lukas über eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe. Er beschreibt die alten Menschen, die er betreut, mit Realitätsbewusstsein und Phantasie zugleich. Diese literarisch gelungene Mischung schafft große Nähe und kann dem Leser die Liebe vermitteln, die Lukas‘ für die ihm Anvertrauten empfindet, so dass sie geradezu zu Anverwandten werden. Das Wahrhaftige, nämlich die Wahrheit und also das Wesentliche, zeigt sich erst am Ende dieser Geschichte, die zur Abteilung des Schönen gehört.
Doch zuvor lernen wir noch den jungen Lukas kennen: Jetzt ist er ein Kind, dessen Mutter stirbt und dessen schwacher Vater ihm selbst dann nicht hilft, als die wahrhaftig böse Stiefmutter den kleinen Lukas am Heiligabend aussperrt von den Festlichkeiten, so dass er allein in der Finsternis die in den Raum geschobenen neuen Spielzeugwerkzeuge zertrümmert. „Kein einziges Sternchen am Himmel für mich“, sagt er als Erwachsener zum Ich-Erzähler.
Wir erleben und verleben mit dieser und allen anderen Geschichten, die in diesem Buch versammelt sind, irrlichternde Sternstunden der Literatur. Es sind Geschichten, die unsere Gegenwart beleuchten, Vergangenheit wiederbeleben und in die Zukunft weisen - mal besinnlich, mal heiter, mal kritisch-skeptisch oder wohlwollend-optimistisch, mal wissend-klug oder unwissend-fragend. Ob klein oder groß, ob Freud oder Leid – mit diesen großartigen Geschichten von Brigitte Kronauer liegt das ganze Leben mit seinen vielfältigen Möglichkeiten als vielsagendes Buch in unserer Hand. Die Romangeschichten „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“ erschienen posthum am 9. August dieses Jahres. Mit 78 Jahren starb die Schriftstellerin am 22. Juli 2019 nach langer schwerer Krankheit in Hamburg und ist für immer von uns gegangen. Doch Brigitte Kronauers einfühlsame Geschichten von uns Menschen werden weiterleben. Vielleicht für immer.
Brigitte Kronauer: „Das Schöne, Schäbige, Schwankende". Romangeschichten
Klett-Cotta Verlag, StuttgartISBN 978-3-608-96412-7
596 Seiten
- Weitere Informationen zum Buch
- Leseprobe
- Meldung: Brigitte Kronauer verstorben
Abbildungsnachweis:
Headerfoto: Portrait 2016. Foto © Jürgen Bauer
Buchumschlag © Klett-Cotta Verlag
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