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Yorkshire Foto Tim Hill

Die meisten deutschen Leser haben die 91jährige englische Schriftstellerin Jane Gardam erst spät kennengelernt. Das war 2015, als sie mit ihrer Trilogie um Old Filth einen Megaerfolg beim deutschen Publikum und bei der Kritik erzielte. Ein Erfolg, der bis heute anhält. Zu Recht, denn Jane Gardam ist eine großartige Erzählerin – und eine Grande Dame der englischen Literatur.
Die deutsche Lovestory zwischen Autorin und Lesern begann also mit Old Filth. Genau um diesen drehte sich fast alles in „Ein untadeliger Gentleman“, dem ersten Teil der Trilogie. Diesem Roman folgte „Eine treue Frau“ und zu guter Letzt „Letzte Freunde“. Allesamt liebenswerte Bücher. Zum Glück erschienen und erscheinen nach und nach immer mehr „neue“ Gardam-Bücher auf dem deutschen Buchmarkt.

Zu verdanken ist das dem Verlag Hanser Berlin und der Übersetzerin Isabel Bogdan, die alle bisher auf Deutsch erschienenen Bücher von Jane Gardam übersetzt hat.
Insgesamt 25 Bücher – Romane und Erzählungen – hat die 1928 in North Yorkshire geborene und heute in East Kent lebende Jane Gardam bisher veröffentlicht. Nach dem überaus großen Erfolg im deutschsprachigen Raum mit der Trilogie um Old Filth, diesen untadeligen Gentleman und dessen treuer Frau, die vielleicht doch nicht so treu war, wie uns der Titel des zweiten Romans der Trilogie glauben machen möchte, und nach „Letzte Freunde“, wo zwei Männer in alter Feindschaft verbandelt sind und sich hoffentlich zu guter Letzt doch noch versöhnen (ob das gelingt, soll hier nicht verraten werden), erschien ein Band mit 16 Kurzgeschichten der Autorin auf dem deutschen Buchmarkt. Mit diesem Buch bewies Jane Gardam, auch das Gebiet der Short-Story beherrscht sie ausgezeichnet. Hier wie dort berühren ihre Geschichten, kommen ihre Figuren uns nahe.

Jane Gardam wird gerne verglichen mit Alice Munroe oder mit Katherine Mansfield. Das kann man machen. Man kann das auch sein lassen. Denn Jane Gardams Stil spricht für sich, er ist eigenwillig und eigenartig. Ihr Stil ist kraftvoll, wie von starkem Willen geprägt. Jane Gardam hat eine ganz eigene Art, Menschen und deren Umwelt zu sehen, zu beschreiben. Ihre Figuren sind eigenwillig, auch dann, wenn sie zunächst angepasst erscheinen. Und sie sind eigenartig in dem Sinn, als dass sie ihre eigene Art (und Weise) entwickeln und im besten Fall ausleben. Das gelingt – natürlich – nicht immer. Was aber immer gelingt, das ist die eigentliche Kunst dieser Autorin: Es gelingt ihr, den Leser zu fesseln und in Bann zu ziehen.
Entsprechend sehnsüchtig warteten viele deutschsprachige Leser nach diesen großartigen ersten Erfolgen auf weitere Bücher von Jane Gardam. Und die Bücher kamen: 2018 erschien bei Hanser Berlin der Roman „Weit weg von Verona“, der auf dem englischsprachigen Buchmarkt bereits 1971 erschien. In diesem Buch erzählt Jane Gardam vermutlich auch von der eigenen Kindheit. Aus der Ich-Perspektive einer 13Jährigen erzählt sie von Eltern und Lehrern, von Mitschülern und Freundinnen, von der ersten Liebe und von ersten Schritten auf dem Weg zur Schriftstellerin. Das alles geschieht im Schatten des Krieges. „Wie lang geht diese schreckliche Teenagerzeit?“, fragte Vater. „Ich bin sicher, dass ich nie so war“, sagte Ma. „Ich war eigentlich immer ganz zufrieden. Aber so sind sie heute. Das macht der Krieg.“ (S. 117)

weit weg von verona cover„Ich möchte von Anfang an klarstellen, dass ich nicht ganz normal bin, denn im Alter von neun Jahren hatte ich ein einschneidendes Erlebnis. Das sage ich lieber gleich, denn mir ist aufgefallen, dass man beim Lesen, wenn etwas erst so langsam im Laufe eines Buches durchsickert, irgendwann enttäuscht ist oder sich ausgetrickst fühlt, wenn es dann klar wird.“ So beginnt der Roman „Weit weg von Verona“. Die 13jährige Erzählerin Jessica ist anders als andere Kinder in ihrem Alter. Sie will unbedingt Schriftstellerin werden und „weiß immer, was die Leute denken.“ Fatal ist aber vor allem: Sie sagt „unweigerlich immer und überall die Wahrheit“. Klar, dass sie damit aneckt, auch und vor allem in der Schule. Einmal, da wird sie nach einem Tadel – es ist bereits der dritte Tadel an diesem Tag, was unweigerlich den Schulverweis nach sich ziehen muss - von ihrer Lehrerin Miss Dobbs gepackt und aus dem Klassenzimmer getragen. „Und ich fiel in die Schuhbeutel und brach in Tränen aus“ (S.48). Herzzerreißend und hinreißend beschreibt Jane Gardam, wie Jessica hier, zwischen den Schuhbeuteln an der Garderobe, die Englischlehrerin Miss Philemon kennenlernt und in dieser „grauhaarigen, sehr kleinen Frau, deren Unterrock etwas hervorguckte“ endlich jemanden findet, der sie versteht.
Jemand, der sie auch zu verstehen scheint, ist Christian. Jessica lernt den Jungen auf einer Party kennen, zu der sie eigentlich gar nicht gehen wollte. „Er hatte ein so schönes Gesicht, und sein Haar war unglaublich lang und dick […]. Ich kam mir vor wie in Romeo und Julia oder so[…] (S. 137)“, schreibt sie ihrer einzigen Freundin Florence. Als Jessica und Christian einmal mit dem Bus einen Ausflug zu den Docks in Shields East unternehmen, hält Christian ihre schweißnasse Hand: „Ich sterbe“, dachte ich. „Das ist der glücklichste Tag meines Lebens. Ich werde nie, nie glücklicher sein als jetzt“ (S. 156). Doch dieser Tag endet völlig anders als gedacht. Der Himmel wird „von einem Donnern zerrissen, und dann kam die Backsteinlawine. Und dann übernahm die Flak. Wie Riesen, die auf Lauer gelegen hatten. Wir kriegen euch, schienen sie zu sagen (S. 162).“ Wie Jane Gardam diese furchtbare Situation, diese grauenvolle Realität mit Worten in die Welt schickt, ist genauso faszinierend geschrieben wie alles andere auch. Hell und Dunkel zugleich ist dieser Roman. Doch immer wieder verflüchtigt sich das Dunkel, wird die Geschichte wieder ins Helle geführt, gewinnen Humor und Heiterkeit die Oberhand.

bell and harry coverZuletzt erschien in deutscher Sprache Jane Gardams Roman „Bell und Harry“, eine Geschichte über das Leben auf dem Land und die Schwierigkeiten von Städtern, sich mit diesem Wunschleben allsommerlich zu arrangieren. Um Lärm und Stress der Großstadt London eine Zeitlang zu entkommen, mieten sich die Batemans für den Sommer auf dem Land ein. In Yorkshire hofft der Vater auf Entspannung in bäuerlicher Umgebung. Hier trifft sein kleiner Sohn Harry auf Bell, den jüngsten Sohn der Vermieter, und eine tiefe Jungenfreundschaft beginnt. Sommer für Sommer und mit jedem gemeinsam erlebten Abenteuer wird diese Freundschaft erneuert und vertieft, so unterschiedlich die Sphären, in denen beide leben, auch sind. Erzählt wird dies in neun Geschichten, in losen zusammenhängenden Kapiteln, aus wechselnder Perspektive. Am Anfang des Buches, das einen Zeitraum von 20 Jahren umfasst, tritt der achtjährige Bell als Erzähler auf. Am Ende ist es dessen inzwischen elfjährige Tochter Anne.

Am Anfang erzählt uns der 8jährige Bell: „In dem Tal, in dem ich wohne, stehen überall kleine Häuschen, bei denen das Gras zwischen den Steinen rauswächst und die seit Jahren niemand haben will. […] Sie haben große Gärten drum herum, und Weiden für Schafe und so, und riesige Heufelder.“ (S.9). Es handelt sich um Häuser, die jahrelang leer standen, verlassen von den alten Bauernfamilien. Häuser, in denen jetzt die Schwalben und Mauersegler ein- und ausfliegen. Häuser, deren Dächer einfallen und an deren Wänden der Dreck runterläuft. Nun aber werden sie mit neuem Leben erfüllt: Denn die Städter haben die dörfliche Idylle entdeckt. Städter wie die Familie Bateman aus London, die hier zunächst nur für einen Sommer das Wohnhaus auf der Farm „Light Trees“ mieten, aber dann Jahr für Jahr wiederkommen. Bell beschreibt dieses Haus so: „Das Haus ist ein bisschen ins Moor eingekuschelt, sodass es hinten sozusagen mit dem Kinn im Gras liegt.“ (S.16)
Harry fühlt sich hier von Anfang an zu Hause. Er flieht vor der Eierhexe, lauscht den alten Geschichten und Mythen, die der Schornsteinfeger erzählt und freundet sich mit Bell an. Die beiden Jungen erleben dies und das und erkunden sogar einen verlassenen Stollen. Solange, bis Geröll ihnen den Rückweg versperrt, bis drinnen und draußen Dunkelheit herrscht, und die Eltern sich besorgt auf die Suche nach den Kindern machen. Ein Abenteuer, das an Tom Sawyer und Huckleberry Finn und deren unzertrennliche Freundschaft erinnert. Von einer solchen Freundschaft erzählt auch dieses Buch. Es erzählt aber auch von den Konflikten, die sich naturgemäß zwischen Land- und Stadtbewohnern ergeben. Und es erzählt von den Möglichkeiten, wie Konflikte dieser Art friedlich beigelegt werden können. Das alles geschieht auf liebevolle, empathische Art und Weise.

Vor unseren Augen entstehen impressionistische Bilder von Stadt- und Landmenschen und von der Landschaft, in der sie leben. Jane Gardam agiert dabei wie eine Puppenspielerin, die ihre fiktiven Figuren mit einer Hand hält und mit der anderen Hand bewegt. Sie spielt mit ihnen, sie spielt mit uns. Wir Leser lassen uns gerne von dieser Spielerin an den Fäden führen wie Marionetten. Wir sind begeistert, auf diese Weise an diesem wunderbaren Spiel teilnehmen zu können.

Jane Gardam

übersetzt von Isabel Bogdan:
Weit weg von Verona
Hanser Berlin, 2018
ISBN 978-3-446-26040-5
Gebunden, 240 Seiten
Leseprobe

Bell und Harry
Hanser Berlin, 2019
ISBN 978-3-446-26199-0
Gebunden, 192 Seiten
Leseprobe


Abbildungsnachweis:
Headerfoto: Yorkshire. Foto: Tim Hill
Umschlagfotos Hanser Verlag

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