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Versuch über den Schwindel

Schwindel ein Thema der Philosophie? Und dann auch noch im ausgehenden 18. Jahrhundert? Marcus Herz, ein heute nur noch Spezialisten bekannter Autor der Goethezeit, schrieb eine Monographie über ein Problem, das wohl jeder kennt. Jetzt gibt es eine empfehlenswerte Edition in der Philosophischen Bibliothek des Felix-Meiner-Verlages.

Den Arzt Marcus Herz (1747-1803) interessierte der Schwindel als ein psychosomatisches Phänomen – wie sehr Leib und Geist zusammenhängen und welchen Einfluss sie aufeinander nehmen, zeigt er eingangs seines Buches in dem ersten von vier „Hauptstücken“, in dem es um die „Verbindung der Seele mit jedem Teile des Körpers“ geht. Diese psychosomatische Ausrichtung seiner Medizin ist durchaus modern, wogegen sein Vokabular nicht nur antiquiert wirkt, sondern auch zeigt, warum Herz als Mensch seiner Zeit den Schwindel noch gar nicht richtig verstehen konnte. Er, als Mediziner ganz auf der Höhe seiner Zeit, spricht vom „Nervensaft“, der aus dem Gehirn austrete und über die Nervenbahnen die Muskeln und anderen Teile des Körpers erreiche – er kennt also noch nicht die einfachsten Grundlagen der Neurophysiologie.

Es wäre aber billig, sich darüber lustig zu machen, zumal er sich der Grenzen seines Wissens nur allzu bewusst war: Wiederholt gibt er zu, dass ihm „die Natur des Gehirns ebenso fremd ist, wie die Natur der Nerven überhaupt“. Vor allem kann er als Mensch des ausgehenden 18. Jahrhunderts nichts wissen über die Entdeckung des Gleichgewichtsorgans durch Friedrich Goltz (1870) und die Weiterführung von dessen Studien durch den späteren Nobelpreisträger Robert Barány. Was aber wäre für den Schwindel wichtiger als dieses Organ?

Für Herz ist es der „widernatürlich schnelle Fortgang der Ideen“, der den Schwindel erregt – zu viele zu schnell aufeinander folgende Sinneseindrücke machen es dem Menschen unmöglich, sie zu verarbeiten, und als Folge dieser Reizüberflutung entsteht der Schwindel. „Das Wesen des Schwindels besteht […] in der zu kurzen Weile, d.i. in dem Fortrücken der Ideen, welches im Verhältnis mit dem, der Seele eigentümlichen Ideengang zu schnell geschieht.“ Dabei geht Herz davon aus, dass jeder Mensch eine individuelle Befähigung zu dieser Reizverarbeitung hat, so dass es keine allgemein anzugebene Schwelle geben kann, die bei einem Überschreiten notwendig zum Schwindel führt.

Lohnt sich die Lektüre? Es handelt sich um eine sehr sorgfältige Edition, die im Anhang noch die Übersetzung der lateinischen Zitate sowie Erläuterungen zu den von Herz zu Rate gezogenen Autoren bietet. Besonders willkommen muss die Erläuterung des in der Literatur der Zeit häufigen Ausdrucks „Nervenfieber“ sein, zu der die Herausgeberin mit Herwig Finkeldey einen ausgewiesenen Fachmann gewinnen konnte. Dazu kommt die lange, stellenweise furiose Einleitung durch die in Hamburg lebende Philosophin Bettina Stangneth – auch wer sich ein wenig in dieser Zeit auskennt, wird einiges, vielleicht sogar vieles über die Kulturgeschichte hinzulernen.

Aber die Hauptsache ist doch der Text der Abhandlung, der eher von historischem Interesse zu sein scheint. Grundsätzlich aber muss man dem Autor zubilligen, dass er seine Argumente in einem klaren Deutsch und übersichtlich gegliedert vorträgt, so dass die Lektüre viel angenehmer ist als bei anderen Werken der Zeit.

Marcus-Herz_Versuch-ueber-den-Schwindel_BuchumschlagEmpfehlenswert ist der grüne Band der renommierten Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner-Verlages aus zwei Gründen: Der „Versuch über den Schwindel“ ist für den Medizinhistoriker wie für den Psychologen und endlich für den an Kulturgeschichte interessierten Leser interessant, vielleicht mehr noch aber der biographische Essay, mit dem die Herausgeberin den Band einleitet. Denn Stangneth, eine ausgezeichnete Kennerin der Werke Immanuel Kants, macht uns mit der Laufbahn seines jüngeren jüdischen Freundes Marcus Herz bekannt. Kant stand mit Herz noch über Jahrzehnte im Briefwechsel, nachdem dieser von Königsberg nach Berlin gegangen war, um dort zu studieren und als erfolgreicher Arzt tätig zu werden. Und nicht allein das: Herz hielt in Berlin Vorlesungen über die Philosophie Kants und trug auf diese Weise zu ihrer Bekanntheit bei.

Aber erst der zweite, deutlich kürzere Aufsatz im Anhang ist von philosophischem Interesse, denn er ist ganz eindeutig von den Auffassungen von Raum und Zeit geprägt, die Kant in der Vernunftkritik entwickelt hatte. In seinen Überlegungen geht es Herz um die Assoziation („Verkettung“, „Aneinanderhaftung“), also darum, dass „gleichörtliche und gleichzeitige Veränderungen und Begebenheiten sich einander in der Seele erhalten und erregen.“ Es handelt sich um Gegenstände, „welche für sich mit andern in Verwandtschaft treten, sie in der Seele herbeirufen und von denselben herbei gerufen werden.“

Marcus Herz war ein Autor von bemerkenswerter Originalität und großer Produktivität. Noch erstaunlicher wird sein Leben, wenn man liest, dass für diesen großartigen Autor Deutsch nicht die Muttersprache war, sondern er sie erst als Halbwüchsiger lernte. Herz, der in Berlin zu den Freunden Moses Mendelssohns zählte, wurde einer der ersten emanzipierten Juden Deutschlands, der immer auch als Jude kenntlich blieb. Offenbar mußte ein Jude unglaublich begabt sein, um sich aus den Fesseln seiner Herkunft zu befreien.

Marcus Herz, Versuch über den Schwindel.

Mit den Ergänzungen von 1797 und 1798, Einleitung, Werkverzeichnis und Anmerkungen herausgegeben von Bettina Stangneth, Hamburg 2019
Felix Meiner Verlag Hamburg
ISBN 978-3-7873-3447-6
ISBN eBook 978-3-7873-3448-3
Leseprobe (24 Seiten)


Abbildungsnachweis:
Header: links: Marcus Herz, 1795, Portraitgemälde von Johann Friedrich Weitsch (1723-1803) Öl auf Leinwand. Rechts Erstausgabe
Buchumschlag, Felix Meiner Verlag

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