„Warum“, möchte „Der Freitag“ von einer erfolgreichen Drehbuchautorin wissen, warum „kommt bei Angst so viel Rosamunde Pilcher heraus?“ Mit Angst spielt „das Meinungsmedium“ auf die Befürchtung der großen Fernsehanstalten an, bereits ein auch nur halbwegs intelligentes und anspruchsvolles Skript könne das Publikum abschrecken. Sollte man diese Frage nicht auch Lektoren und Literaturkritikern stellen? Denn warum haben Autoren, die eigene Wege einschlagen, so wenig Erfolg? Viele scheitern oft genug bereits damit, auch nur einen Verlag zu finden. Und andere werden gar nicht erst bemerkt.
Wolfgang Marx ist bei der Edition „Das dritte Programm“ des Züricher KaMeRu Verlages untergekommen, der sich auf „Urfassungen von Texten“ konzentriert, „in der Ursprünglichkeit ihrer Sprache und ohne die Absicht einer Marktanpassung.“ Mit anderen Worten: Der Autor darf schreiben, wie es ihm sein Konzept nahelegt.
Damit ist diese Edition ideal für den von der Norm abweichenden Roman eines Außenseiters, der ganz offensichtlich keinen glattgebügelten Bestseller schreiben und seine Erzählung nicht in ein vorgegebenes Schema pressen lassen wollte. Trotzdem oder vielmehr deshalb hat er einen interessanten und jederzeit unterhaltenden, also uneingeschränkt empfehlenswerten Roman vorgelegt. Gut, das ZDF wird ihn nicht verfilmen, aber das war ganz gewiss nicht die Hoffnung des Autors. Bleibt nur die Frage, warum der Roman auch von der Kritik mit konsequenter Nichtachtung bestraft wird.
Die Frage des „Freitag“ ist für einen Einstieg schon deshalb geeignet, weil der Plot des kleinen Romans „Am grauen Meer“ von Wolfgang Marx wirklich stark nach Rosamunde Pilcher und Konsorten riecht. In allen diesen Fernsehfilmen kommt irgendwer – meist eine attraktive Mittdreißigerin – nach Jahren der Abwesenheit in ihr Heimatdorf in wunderschöner Landschaft zurück, wo sie wie zufällig ihrer alten Liebe über den Weg läuft. Und schon bricht „Gefühlschaos“ aus. Eben dies geschieht auch in „Am grauen Meer“. Nur idyllisch will es trotz des niedlichen Eckernförde nicht werden.
Denn es sind seelische Abgründe, die nach Jahrzehnten wieder aufbrechen, als „Wolf“ zurück nach Ultima Thule (= Eckernförde) kommt, um seine Mutter zu beerdigen. In dem Frühstückszimmer seines Hotels, auf der Promenade oder in Kneipen begegnet er seiner weiteren Verwandtschaft und alten Freunden, aber ihre Gespräche sind wenig sentimental, sondern kreisen um die alten Konflikte. Zunächst hatte Wolf Anke sitzen gelassen und sich sodann aus seiner Heimat verdrückt – offenbar für Jahrzehnte. Jetzt, nach dem Tod der Mutter, geht es zusätzlich um das mütterliche Erbe und damit um das liebe Geld. Einerseits eine tief verletzte Seele, andererseits der schnöde Mammon…
Marx schreckt auch vor drastischen Szenen nicht zurück, aber weil bei diesem Autor alles dialogisch ist, werden diese vom Personal seines Romans erzählt oder wenigstens angedeutet, nicht etwa von einem Erzähler breit ausgeführt. Zum Beispiel „der Showdown auf dem Friedhof“, also der Fall Wolfs in die Grube – Anke, seine Jugendliebe, hat nämlich noch eine Rechnung offen und begleicht sie ausgerechnet auf dem Gottesacker, wo sie ihren Verflossenen in das offene Grab seiner Mutter stößt. In den Worten Marens, seiner Kusine, hört sich das so an: „Na, ist ja auch egal, er jedenfalls unten, Anke oben und wirft ihm ihre Rose nach, dreht sich um und stapft davon. Allgemeiner Aufbruch, geradezu fluchtartig.“
Und auch die zweite drastische Szene hat mit Anke zu tun und wird von einem Unbeteiligten erzählt – nachdem Wolf vor vielen, vielen Jahren aus Eckernförde verschwunden war, ließ sich Anke von ihrem Vater auf einem Sofa mit dem Gürtel züchtigen: „Da dröhnte dann eine Stille aus diesem Zimmer, direkt unheimlich, bis dann dieses Klatschen anfing, er hat sie mit dem Gürtel, weißt du“. Das Verb fehlt, wie das oft so ist in der mündlichen Rede. Das Buch besteht ja fast nur aus Redebeiträgen, und Syntax und Vokabular spiegeln das deutlich wieder; vieles ist schnoddrig – „Ob ich maa zaahln daaf?“, heißt es ganz am Anfang im Stile des vom Autor verehrten Arno Schmidt –, aber dialogisch im Wortsinn ist wirklich alles, nämlich ein anspielungsreiches Hin und Her – wie sich eben Gespräche zwischen Freunden, Bekannten und Verwandten entwickeln. Nicht unbedingt nett, aber immer ziemlich lebhaft.
Es ist nicht der erste Roman des Psychologieprofessors Wolfgang Marx, aber es ist vielleicht sein bislang bester und ganz gewiss derjenige, der einem breiten Publikum am ehesten gefallen kann. Denn er ist schon dank seiner oft lebhaften, mit Zitaten, Anspielungen und Witzen durchsetzten Dialoge sehr unterhaltsam. Auch besitzt der Roman einen richtigen Plot, eine abgeschlossene Handlung, wenngleich das Ende eher offen geraten ist. Größtenteils bestehen alle Romane dieses Autors aus Gesprächen, in denen fast immer das „er sagte“ ebenso fehlt wie eine Beschreibung der Umstände, so dass von einem raunenden Beschwören des Imperfekts wie überhaupt von einem traditionellen Erzählen keine Rede sein kann. In diesem Buch aber bewegt sich Marx auf konventionelleren Pfaden, und es finden sich besonders in dem ersten und dem letzten Kapitel doch Hinweise auf die Umgebung, sprich auf Eckernförde.
Typisch für Marx sind die zwischen die einzelnen Redebeiträge eingestreuten, in Klammern gesetzten Kommentare. Die Klammern symbolisieren die Gehirnwände des Erzählers – in sie sind einfach die Eindrücke von seinem Gegenüber eingeschlossen, sehr häufig ohne ein Verb. Persönliche Reaktionen des Helden auf die Rede anderer Personen – etwa: „es gab mir einen Stich“ oder dergleichen – verschweigt er dem Leser, und weil die Stadt und die Landschaft keine große Rolle spielen, ist es fast so, als läse man ein Drehbuch oder ein Theaterskript. In jedem Fall ist Aufmerksamkeit geboten, um das Verhältnis zwischen dem Erzähler und seinen Gesprächspartnern richtig einschätzen zu können, denn es finden sich immer genug Informationen, die dem Leser aber mehr untergeschmuggelt als direkt mitgeteilt werden und die klarmachen, wer das ist, mit dem er gerade spricht, und wie die Figuren zueinanderstehen.
Wolfgang Marx war in seinem ersten Leben ein renommierter Hochschullehrer, am Ende seiner Laufbahn für mehr als zehn Jahre mit einem Lehrstuhl in Zürich, ein Psychologe, der ganz regelmäßig auch im „Merkur“ veröffentlichen durfte. Aber bereits in den 90er Jahren entdeckte Marx seine Leidenschaft für das Erzählen, und er veröffentlichte „Megastar“ und „Die Essverwandtschaften“. 2012 und 2014 erschienen „Der Standpunkt der Schafe“ und „Der göttliche Marquis“, und im vergangenen Jahr also sein bislang gelungenster Roman, „Am grauen Meer“.
Und das ist ein wirklich schönes Buch, das man nach der Lektüre ungern aus der Hand legt – ich jedenfalls hätte gern noch ein wenig mehr gelesen.
Wolfgang Marx: Am grauen Meer
Roman, Kameru Verlag,978-3-906082-46-2, 2018
Leseprobe
Abbildungsnachweis:
Headerfoto: Leigh Johnson, New Zealand
Buchumschlag
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