Welches Thema könnte aktueller sein? Massenphänomene begegnen uns seit vielen Jahren, und sie nehmen immer mehr zu – im Sport und in der Popmusik, in der Mode oder im Straßenverkehr. Aber jetzt, da auf der ganzen Welt populistische Bewegungen das Ruder bereits übernommen haben oder vielleicht bald übernehmen werden, scheint diese Thematik noch viel drängender und wichtiger als in den Jahrzehnten zuvor.
Das wahrscheinlich bedeutendste Werk deutscher Sprache über die Masse ist Elias Canettis „Masse und Macht“, ein Buch von 1960, an dem der Verfasser buchstäblich über Jahrzehnte gearbeitet hat. Mit seinen nüchternen und präzisen Beschreibungen der verschiedenen Formen der Masse ist es Canetti immer wieder gelungen, sich tief in das Gedächtnis seiner Leser einzugraben. Die Grundthese von Gebauers / Rückers Buch wendet sich direkt gegen dieses Werk, insofern die Behauptung Gustave Le Bons, Canettis und anderer bezweifelt wird, dass der Einzelne in der Masse untergeht. Der Titel überspitzt diese Kritik noch einmal, aber es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass sein zweiter Teil, der von „der neuen Macht der Einzelnen“ spricht, vom Verlag formuliert wurde, nicht von den Autoren, die diese These überhaupt nicht vertreten.
Zusätzlich zielt dieses Buch nicht wie das ältere Werk auf anthropologische, im Prinzip zeitlose Einsichten, sondern beabsichtigt eine Analyse aktueller Entwicklungen. Canettis Buch schöpft teils aus ethnographischer und historischer, teils aus psychiatrischer Fachliteratur, und seine Überlegungen erheben den Anspruch einer überzeitlichen Geltung; dagegen ist „Vom Sog der Massen“ sehr stark auf die letzten Jahrzehnte focussiert, indem es versucht, den Wandel in der Erscheinung der Masse seit den sechziger Jahren zu beschreiben und zu verstehen. So begreift sich dieses Buch als die Beschreibung eines sich eben jetzt vollziehenden kulturellen und gesellschaftlichen Wandels. Die Autoren ziehen nicht, wie es Canetti tut, die Mechanismen der Psychoanalyse zu Rate, sondern gehen breiter vor, indem es sie die verschiedensten kulturellen Phänomene darstellen und diskutieren. Insofern ist dieses Buch perspektivenreicher, und es ist enorm anregend.
Vor allem bezweifeln die Autoren die Grundthese fast aller ihrer Vorgänger, die eine Ent-Individualisierung der Mitglieder einer Masse behaupten. Nein, so Gebauer / Rücker, die Mitglieder einer Masse geben ihre Individualität keinesfalls auf, sondern sie „sind Einzelne, die massenhaft auftreten“. Diese ziemlich geschickte Formulierung erlaubt es den Autoren, auch das Internet und alle anderen Bereiche einzubeziehen, in denen die Massen nicht mehr aus lebendigen Leibern bestehen, aus Individuen, die auch als Körper anwesend und beteiligt sein müssen – das ist eine Voraussetzung, die bei Canetti und anderen Autoren ganz selbstverständlich gilt, ohne dass sie ausdrücklich thematisiert würde. Dem Begriff der „virtuellen Masse“ hätten sie ratlos gegenübergestanden. Aber der Leser muss sich ganz ernsthaft fragen, ob so überhaupt noch von denselben Phänomenen die Rede sein kann. Ist eine virtuelle Masse eine Masse im Sinne Canettis? Kann man beim Internet überhaupt von Massenphänomenen sprechen? Unterliegen beide Phänomene tatsächlich denselben Gesetzen?
Es ist die große Schwäche dieses Buches, dass der Massebegriff sich ins Unbestimmte verläuft. Sogar Heidegger wird behandelt – mit dem „Man“, das er in „Sein und Zeit“ als defizientes Dasein bestimmt hat, als eine opportunistische, selbstvergessene Weise zu leben. Einen Zusammenhang mit der Masse kann ich hier überhaupt nicht sehen, sowenig wie beim „Arbeiter“ Ernst Jüngers, der von diesem als Gestalt beschrieben wird, nicht als Teil einer Masse.
Eines der wenigen historisch argumentierenden Kapitel zieht historische Beschreibungen von Massen aus der Feder großer Autoren heran: E.T.A. Hoffmann, Edgar Allan Poe, Friedrich Engels und Charles Baudelaire. Hier wird es besonders deutlich, dass die Autoren dieses Buches über etwas anderes schreiben, als es ihre Vorgänger getan haben. Man kann das sehr leicht an ihrer Interpretation der Erzählung „Des Vetters Eckfenster“ von E.T.A. Hoffmann sehen. Sie verstehen diese Erzählung so, dass der kranke Vetter eine Masse auf dem Berliner Gendarmenmarkt beobachtet. Aber in Wahrheit beschreibt Hoffmann gar keine Masse – obwohl er dieses Wort wirklich gebraucht –, sondern eine dichtgedrängte Menge von Individuen, die keine gemeinsame Bewegung kennen und sich keineswegs als singuläre Persönlichkeiten aufgegeben haben. Die einzelnen Personen gehen ganz unbeteiligt über den Platz und durch die Menge und verschwinden wieder, wenn sie eingekauft haben, was sie für das Mittagessen brauchen. Weder bilden sie eine Masse, noch üben sie als Individuen Macht aus.
Verräterisch ist eine Stelle, an der man erkennen kann, in welcher Weise in diesem Buch der Begriff der Masse gebildet wird: nämlich nicht aus der Nähe und schon gar nicht aus dem Inneren einer Masse, sondern aus sicherer Distanz. „Masse ist ein performatives Konzept“, schreiben die Autoren, aber das gilt nur für den, der von außen auf die Masse schaut. Wer ihr angehört, der kann sie nicht als eine Theateraufführung ansehen oder erleben.
Wann beginnt eine Menge, eine Masse zu bilden? Könnte man sagen: In dem Augenblick, in dem sie eine gemeinsame Bewegung findet oder von einer solchen erfasst wird? Hat eine gemeinsame, sogar rhythmische Bewegung nicht unbedingt eine Art Hypnose zur Folge (darauf läuft Le Bons und Canettis These hinaus), wohl aber eine zumindest partielle Aufgabe der Individualität? Muss es deshalb nicht ein Widerspruch sein, von einer Masse von Individuen zu sprechen, weil man eben (noch) nicht Teil einer Masse ist, wenn man sich seine Individualität bewahrt hat?
Das Buch ist auffallend gut geschrieben und entsprechend angenehm zu lesen, und es bietet eine Reihe interessanter Hinweise; aber seine Grundthese ist wenig überzeugend.
Gunter Gebauer / Sven Rücker: Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen
Deutsche Verlagsanstalt 2019352 Seiten, 22 €
978-3421048134
Abbildungsnachweis:
Header: „Masse“. Foto Ben Kerckx
Buchumschlag
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