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Oft wird gespöttelt: Günter Kunert sei ein Pessimist, ein Schwarzseher, eine Art männliche Kassandra von Kaisborstel. In diesem Dorf bei Itzehoe lebt der 1929 in Berlin geborene Schriftsteller seit 1979, seit seinem Weggang aus der DDR. Längst gehört Kunert zu den bedeutendsten deutschen Lyrikern der Gegenwart. In seinem jüngsten Gedichtband „Aus meinem Schattenreich“ (Carl Hanser Verlag) zeigt der Dichter einmal mehr seine hohe Kunst, schreibend zu denken und denkend zu schreiben. Wie immer geht er Widersprüchen auf den Grund und hilft der Wirklichkeit auf die Sprünge.


Kunert ist Halbjude. Vielleicht ist das der Ursprung seiner auch im neuen Lyrikband „Aus meinem Schattenreich“ oft düsteren Gedichte, die für uns Leser so erhellend sind. Schon als 14jähriger schrieb Günter Kunert Gedichte. Auch solche, die sich mit den Grausamkeiten der Nazidiktatur auseinandersetzten. Gerne hätte er nach der Schule studiert, doch das verboten ihm die Nazis, war er doch Sohn einer Jüdin. Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs konnte Kunert ein Kunststudium beginnen, das er allerdings nach fünf Semestern wieder abbrach. Er entschied sich für den Beruf des Schriftstellers. Gezeichnet, gemalt, geformt hat er aber auch später noch. Immerhin so gut, dass bildnerische Werke von Kunert zum 80. bzw. 85. Geburtstag des Künstlers in Hamburg, Berlin und Schleswig zu sehen waren.


Die bildnerische Arbeit nimmt vom Gesamtwerk nur 30 Prozent ein. Der große Rest gehört der schreibenden Kunst. Stetig und unermüdlich hielt Kunert im Laufe vieler Jahrzehnte seine Gedanken schreibend fest und brachte sie auf den Punkt. Seit 1963 erscheinen seine Bücher im Carl Hanser Verlag. So auch der neue Lyrikband mit dem dunklen Titel „Aus meinem Schattenreich“. Da wird uns von Anfang an nichts vorgemacht. Das beginnt mit dem Titel und setzt sich fort. Da gibt es keine Täuschungsmanöver: Kunerts knallharte dichterische Realität stellt den Fuß in die Tür und stößt die Tür zum Leser weit auf. Dies geschieht unversehens, sowie sich der Leser mit den ersten Gedichten dieses Buches bekannt gemacht hat. Und da ist es bereits zu spät für den Rückzug.

 

IN EINER DÜSTEREN GASSE
begegnet mir der Sinn
des Lebens. Er war alt und
schmutzig und schon sehr
abgegriffen. Ein falsches
Lächeln voll ungehemmter
Schamlosigkeit und grußlos
davon.

 

altDer Sinn des Lebens – worin mag er für Kunert liegen? Kunert, der nicht weiß, wo Daheim liegt, wie er in seinen Aufzeichnungen von 1999-2011 „Tröstliche Katastrophen“ schreibt. Kunert, der Menschen gegenüber „eigentlich wenig misstrauisch“ ist. Der aber, sowie sie Zuneigung bekunden, sofort skeptisch wird. Der immer wieder ein düsteres Weltbild für die Zukunft malt und dementsprechende Schlüsse zieht: „Für Schriftsteller sieht die Zukunft also recht düster aus. Wer wird denn in einigen Dezennien noch Gedichte lesen? Und wer welche schreiben?“ Wie tragisch, wo doch für Kunert der Sinn seines Lebens im Schreiben liegt, wie vermutet werden darf.


Und Schreiben, das kann er. Das beweist er erneut in „Aus meinem Schattenreich“. Was hier zunächst auffällt, ist: Die erste Zeile bildet immer zugleich auch den Titel. In Großbuchstaben geschrieben, gleiten die Titelzeilen in den nächsten Vers. Ein Inhaltsverzeichnis gibt es nur insofern, als dass die einzelnen Parts in I bis IV nummeriert sind. Wir müssen uns also den Lyrikband samt Sinn selbst erschließen. Wir können die Gedichte in der vorgegebenen Reihenfolge lesen oder wir können die Auswahl zufällig treffen. Ich entscheide mich für die zweite Möglichkeit. Doch schon auf der gegenüberliegenden Seite des soeben zitierten Gedichts halte ich inne und lese Folgendes:

 

DIE WELT HINTER GLAS
Tut nicht weh. Kein Schuss
trifft dich, kein Feuer
brennt dich. Das Leben
ist eine Fiktion
für wenig Geld.
Das Nichtleben dagegen
hat einen hohen Preis.


„Aus meinem Schattenreich“ enthält überwiegend Gedichte aus den Jahren 2016/17. Eingang gefunden haben zudem Texte aus den Jahren 2005 bis 2006 und 2010 bis 2014. Sie alle sind das Resümee eines langen Dichterlebens, sind Rückblick und Ausblick zugleich. Das liest sich oft trostlos und selten positiv. Aber das positive Denken ist es ja auch nicht das, was Günter Kunert um- und antreibt. Er glaubt an die Unverbesserlichkeit des Menschen, an dessen Untergang. „Ach, übrigens: die Sintflut hat schon begonnen“, heißt es in seinen Aufzeichnungen. Und: „Die Vernichtung des Planeten lässt sich nicht aufhalten.“

 

WÄHREND ICH SCHLIEF
ging die Welt unter.
Nach dem Erwachen
fand ich mich inmitten
echter Kulissen
und Figuren, denen man
nicht ansah, dass sie
nur so taten, als seien
sie wirklich Menschen.


Wie ein roter Faden zieht sich solch poetisch-reflektiertes Nachdenken durch diesen Lyrikband. Oftmals ironisch, mitunter zynisch, misstraut Kunert dem schönen Schein. Er deckt Widersprüche und Ungereimtheiten auf. Er spielt mit Worten auf Leben und Tod. Der Glaube an ein Jenseits ist ihm fremd. Also sagt er uns hier und jetzt, was er uns zu sagen hat als „Botschafter“ und „Überbringer schlechter Nachrichten“. Für den Antworten nur in immer neue Fragen münden. Der sich selbst für einen „Träumling“ hält und als pessimistischer Realist gilt. Schon als Heranwachsender schrieb Günter Kunert Sätze wie „Die Dinge können nicht lügen“. Dessen sei er sich, „im Zeitalter der Vortäuschungen und der virtuellen Irrealität, sicherer denn je“, schreibt er als Gealterter. Kunert ist kein geschwätziger Mann, eher das Gegenteil ist der Fall. Denn: „Was zur Rede wird, wird nicht mehr zur Schreibe“. In manchen Träumen verspüre er ein gesteigertes Empfinden, „das mir in der Realität versagt bleibt“, gesteht er.


1947 veröffentlichte Günter Kunert sein erstes Gedicht: "Ein Zug rollt vorüber". Weitere Gedichte, Glossen, Parodien und Kurzprosa folgten. Kunert wurde Berufsschriftsteller in Ostberlin. 1949 trat er in die SED ein. 1979 ging er in den Westen. Dazwischen liegen dreißig Jahre der Überzeugung, des Zweifelns, der gesellschaftlich, politischen, persönlichen Veränderung. 1950 erschien Kunerts erster Lyrikband. Damals wurden Johannes R. Becher und Berthold Brecht auf ihn aufmerksam. Zwölf Jahre später, 1962, erhielt Kunert den Heinrich-Mann-Preis. Veröffentlichungen in der BRD wie zum Beispiel „Erinnerungen an einen Planeten. Gedichte aus fünfzehn Jahren“ (1963) und „Tagträume“ (1964) machten ihn bald auch international bekannt.


In der DDR hingegen fiel Kunert zunehmend aufgrund seiner wachsenden Kritik am realen Sozialismus negativ auf. Eine schwierige Gradwanderung begann, zumal die Reiseerlaubnis nicht gefährdet werden durfte. Jetzt, wo Kunert in der Welt der Bücher als anerkannter Schriftsteller angekommen war. Jetzt, wo er zunehmend Einladungen ins Ausland erhielt, auch in die USA. Jetzt, wo sein Bekanntheitsgrad wuchs, er mehr und mehr zu dem erfolgreichen, kritischen Dichter und Denker wurde, als den wir ihn heute wahrnehmen. 1976 gehörte Kunert zu den Erstunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann. Daraufhin wurde ihm 1977 die SED-Mitgliedschaft entzogen. 1979 ermöglichte ihm ein mehrjähriges Visum das Verlassen der DDR. Seitdem lebt er in Kaisborstel bei Itzehoe.


Im Laufe seines Lebens schrieb Günter Kunert Essays, Kurzgeschichten, Reiseberichte, Hörspiele, Features, Gedichte, einen Roman („Im Namen der Hüte“, Carl Hanser Verlag, 1967) und vieles andere mehr. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Hier nur eine kleine Auswahl: Seit 1981 ist Günter Kunert Mitglied in der Akademie der Künste. 1991 wurde er mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg geehrt, 1997 mit dem Georg-Trakl-Preis für Lyrik. 2005 erhielt Kunert die Ehrendoktorwürde des Juniata College Huntingdon, Pennsylvania, USA sowie die Ehrendoktorwürde der Università degli Studi di Torino, Italien. 2009 wurde er mit dem Norddeutschen Kulturpreis des Landeskulturverbandes Schleswig-Holstein ausgezeichnet. 2010 verlieh man ihm die Ehrendoktorwürde des Dickinson College Carlisle, Pennsylvania, USA, 2012 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland mit Stern, 2014 den Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein.


Ein weiser alter Mann will Günter Kunert auch mit fast 90 Jahren nicht sein. Er habe sich seine Naivität bewahrt, sei so unweise, wie er es immer war, sagt er und schreibt weiter seine „Gedichte, die Bilder aus Worten sind“.


Günter Kunert, Aus meinem Schattenreich. Gedichte

herausgegeben von Wolfram Benda
Carl Hanser Verlag 2018
ISBN 978-3-446-25817-4
Gebunden, 87 Seiten

Alle Zitate aus: „Tröstliche Katastrophen“, Carl Hanser Verlag, München 2013

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