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Eindringlicher Holocaust-Roman von Affinity Konar: Mischling

„Ich kann nicht behaupten zu wissen, wie man über den Holocaust schreiben soll“, sagt Affinity Konar. Sie hat es dennoch getan und den Roman „Mischling“ geschrieben.
Der Holocaust – vor allem die unsäglichen Menschenversuche des Dr. Mengele – ließ sie nicht mehr los, seit sie als 16-jährige erstmals Augenzeugenberichte las, die 1994 unter dem Titel „Die Zwillinge des Dr. Mengele" (Originaltitel: "Children of the Flames") auf Deutsch erschienen.

Affinity blieb nach der Lektüre dieses Buches zutiefst erschüttert zurück und begann, fortan selbst zum Thema Holocaust zu recherchieren. Diese tiefgehende Recherche wurde zum Teil ihres Lebens.

Ursprünglich gab es drei Fassungen und statt nunmehr 368 Seiten über 500 Seiten. Viele Szenen über den KZ-Arzt Dr. Mengele wurden wieder herausgenommen: Die Autorin wollte dem Ungeheuer Mengele nicht so viel Raum geben. Sie wollte vielmehr das Schicksal der beiden 12jährigen eineiigen Zwillingsschwestern Perle und Stasia in den Mittelpunkt stellen. Affinity Konar wollte die Mädchen „sprechen lassen, sie das Zentrum des Buches werden lassen. Gerade wenn man sich seine (Dr. Mengeles) Geschichte anguckt, dass er dann noch geflohen ist, nie wirklich zur Rechenschaft gezogen worden ist, im Exil gelebt hat und so weiter – ich wollte diesem Kriminellen keinen Raum geben. Und vielleicht ist das auch die beste Art, die Zwillinge zu würdigen“, sagt die Autorin im Interview bei Deutschlandfunk Kultur. Was für ein Ungeheuer Mengele ist, wird dennoch deutlich. Und sei es durch die Aufzählung all der Namen – 20 an der Zahl – die der NS-Kriegsverbrecher benutzt hat, um seinen Verfolgern nach dem Krieg zu entgehen (S. 18). Mit Erfolg, wie wir wissen: Mengele starb 1979 beim Schwimmen im Meer am brasilianischen Badeort Bertioga an einem Schlaganfall.

„Mischling“ erschien in der amerikanischen Originalausgabe 2016. Der Hanser Verlag veröffentlichte 2017 den Roman in deutscher Übersetzung von Barbara Schaden. Der Titel wurde beibehalten. Erzählt wird die erschütternde Geschichte der jüdischen Zwillinge Perle und Stasia aus Lodz (Polen). Dies geschieht in 22 Kapiteln, abwechselnd aus der Ich-Perspektive von Perle und Stasia. Das Buch beginnt mit deren Geburt. Die Zwillingsschwestern sind ein Herz und eine Seele, untergebracht in zwei Körpern. Sie sind unzertrennlich und sehen identisch aus. Um einander zu unterscheiden, einigen sie sich auf Folgendes: „Stasia sollte für das Lustige, die Zukunft, das Böse zuständig sein. Ich [Perle] für das Traurige, das Gute, die Vergangenheit.“ (S. 28)

Mischling COVERDiese Art der Spiele und die kurze Kindheit von Perle und Stasia enden schon nach wenigen Seiten des Buches. Im September 1944 werden die beiden inzwischen 12-jährigen Mädchen zusammen mit Mutter und Großvater im Güterwaggon ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Der Vater ist bereits seit längerem spurlos verschwunden. In Auschwitz werden die Zwillinge von Mutter und Großvater getrennt. Im sogenannten „Zoo“ des KZ-Arztes Dr. Josef Mengele missbraucht dieser sie für seine Menschenexperimente. Dieses Schicksal teilen Perle und Stasia mit anderen Mehrlingen, Kleinwüchsigen und Albinos. Um in Dr. Mengeles „Zoo“ zu überleben, flüchten sich die Geschwister in magische Welten.
Sie erfinden neue Spiele wie Leichenkitzeln oder das Tötet-Hitler-Spiel (S. 105). Sie erfinden Legenden, magische Szenen und Lügen für Mengele und schmeicheln sich sogar bei ihrem Peiniger ein. Mitunter glauben sie gar Mengeles Lügen, um den Wahnsinn in diesem Menschenzoo auszuhalten. So glaubt Stasia der Aussage Mengeles, er mache sie mit einer von ihm gespritzten Substanz todeslos. „Die Nadel machte mich zum Mischling. Das Wort hatte jetzt eine andere Bedeutung als das Etikett, das uns die Nazis angehängt hatten, diese grausamen Gleichungen aus Blut und Kult und Erbe.“ (S. 76)

Mengele ist fasziniert von den flachsblonden Haaren der beiden Mädchen. Doch ihre braunen Augen stören ihn. Das macht sie zum „Mischling“. Durch die Experimente des „Onkel Doktors“ – wie Mengele von allen „Zoo“-Kindern genannt werden möchte und muss – verliert Stasia auf einem Auge die Sehkraft und auf einem Ohr das Gehör. Perle, die für ihr Leben gerne tanzt, kann ihre Beine nicht mehr gebrauchen. Stasia ist häufig in Mengeles Nähe, schreibt ein medizinisches Tagebuch. Perle wird in einen Käfig gesteckt. Eines Tages, kurz vor der Befreiung, verschwindet Perle und ein unheilbarer Riss geht durch Stasia. Zusammen mit Feliks, einem weiteren Opfer Mengeles, reist sie durch die verwüsteten Landschaften Polens auf der Suche nach ihrer Schwester.

Stasia und Feliks haben zwei Pläne: Sie wollen Perle finden und Mengele töten. Dieser starke Wille gibt ihnen die notwendige Energie für den Überlebenskampf. Der Hass auf den KZ-Arzt stärkt ihre Fähigkeiten und die Widerstandskraft. Feliks musste mit ansehen, wie sein Bruder mit einem Messer aufgeschnitten und getötet wurde. Und Stasia sah, wie ihre Mutter auf einer Ladefläche eines Lastwagens, „in einem Haufen anderer“ lag – sterbend, mit geöffneten Augen (S. 185/186). „Weine nicht“, sagten die tränenerfüllten, weit aufgerissenen Augen meiner Mutter, als sie zu mir zurückstarrten.“ Wen wundert es da, dass der Himmel in diesem Buch zwar häufig vorkommt, doch meist nicht blau wie ein normaler Himmel, sondern als angesengte graue Decke (S. 45) oder als Höllenhimmel (S. 203).

Am Ende des Romans zeichnen die beiden wiedervereinten Mädchen, so wie früher Rücken an Rücken sitzend, „Himmel, die uns für den Rest unseres Lebens beschützen würden…“ (S. 361)

Wenn man überhaupt von Glück sprechen kann im Zusammenhang mit diesem Holocaust-Roman: Wo auch immer sich Saskia und Perle aufhalten (müssen), ob in Auschwitz, Krakau oder Warschau – immer wieder begegnen ihnen Menschen, die trotz aller durchlittenen Grausamkeiten Mitmenschlichkeit zeigen, Empathie empfinden. Menschen, die sogar die Fähigkeit zu lieben nicht verloren haben. So wie Dr. Miri, die der KZ-Arzt Dr. Mengele unversehrt ließ – trotz ihrer Schönheit. Miri, die – soweit es ihr möglich ist – das Leben der Kinder im „Zoo“ erträglicher macht und einige Todgeweihte retten kann. Oder wie Zwillingsvater, der mal Zwi Singer war (S. 38), „aber das spielt jetzt keine Rolle mehr“. Oder wie Feliks, der Stasia beschützt und begleitet auf der Suche nach Perle. Oder wie Peter, der wiederum Perle beschützt und begleitet auf der Suche nach ihrem verlorenen zweiten Ich.

„Mischling“ ist dank der eindringlichen, fantasievollen, poetischen Sprache von Affinity Konar trotz aller Gräuel auch ein Buch der Hoffnung. Bewegende Bilder, eindringliche Emotionen, entwaffnende Schönheit und knallharte Brutalität stehen und bestehen nebeneinander. Am Ende des Romans wird ein Baby geboren und geborgen. Der totgeglaubte Vater von Perle und Stasia lebt. Er und die beiden Mädchen sind wieder vereint. Auf ihrem Weg ins neue Leben wird die nicht mehr ganze und auch nicht mehr heile Familie von einem Hund begleitet. Das zusammen wird dem einen oder anderen Leser möglicherweise kitschig erscheinen. Aber vielleicht braucht ein solcher Roman ein solch versöhnliches, tröstliches Ende, um das Unerträgliche überhaupt lesbar und erträglich zu machen.

Affinity Konar, Mischling

Aus dem Englischen von Barbara Schaden
Hanser Verlag 2017
Gebunden, 368 Seiten | E-Book

ISBN 13 978-3-446-25646-0
Leseprobe

Zur Person
Affinity Konar, Jahrgang 1978, wuchs in Kalifornien auf und lebt heute in Los Angeles. Sie studierte Schreiben an der Columbia Universität und der San Francisco State University. Sie stammt aus einer Familie polnischer Juden, die Anfang des 20. Jahrhunderts in die USA auswanderte. Quelle: Hanser Verlag


Abbildungsnachweis:
Header: Detail vom Buchumschlag und Portrait Affinity Konar © Gabriela Michanie
Buchumschlag

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