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Manfred Otto

Ein DDR-Arbeiter gibt zu Protokoll: Mit Presslufthammer und Maurerkelle
Manfred Otto: Stein auf Stein dem Himmel entgegen. Aus dem Arbeitsleben eines Schornsteinmaurers / Zwischen Aufstieg & Abstieg / Zwischen Aufbruch & Abbruch

Kaum zu glauben: Ein Mann erbaute 70 Schornsteine, reparierte 45 und riss 12 voller Schmerz nach der Wende 1989 wieder ab, genannt die Abbruchzeit. Von 1959 bis 1990 schuftete er im Schweiße seines Angesichts an 324 Baustellen in der DDR. Legte 527.020 laufende Meter im sogenannten „Steigegang“ zurück. War stolz auf seinen Beitrag, volkswirtschaftlich wichtige Betriebe mit in Gang zu halten. Und stellt nüchtern und ohne Gehabe am Schluss seiner arbeitsreichen Zeit, die keine Arbeitslosigkeit kannte, fest: „Ich habe mein ganzes Leben hart gearbeitet und mich nie um die große Politik gekümmert. Erst heute juckt es mich bisweilen, mich doch noch einzumischen.“ Er kann zum Beispiel nicht verstehen, weshalb es die 600 Bundestagsabgeordneten, die sich selbst so großzügig ihre eigenen Diäten erhöhen, in 30 Jahren nicht geschafft haben, eine gerechte Lohn- und Rentengleichheit für Ost- und Westdeutsche durchzusetzen.

Also mischt er sich ein, und wie! Das gibt der Autor Manfred Otto in seinem 370-seitigem Buch „Stein auf Stein dem Himmel entgegen“ auf Seite 362 zu Protokoll. Nach dem Lesen dieses großartigen Buches im Berichtstil kann der Rezensent dies feststellen: Er ließ und lässt nicht mit sich spielen. Er behauptete sich in der Arbeit, im Kollektiv, bei Mängeln und gegenüber jenen, die stets alles besser wissen wollten. Er war ein Arbeiter von Schrot und Korn, er war ein Politiker in der Arbeitswelt.

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Das Buch hat 115 Kapitel. Jedes beginnt mit der Ortsbestimmung und der Einordnung des jeweiligen Betriebes im Wirtschaftsgefüge der DDR. Auffallend der Stolz des Manfred Otto, dabei sein zu dürfen. Er, der aus einfachen Verhältnissen kam, Vater Tischler, gefallen im Zweiten Weltkrieg, Mutter Plätterin, er, der sich nach der Schulzeit für die Vielfalt des Berufes Maurer begeisterte. Ihn lockten Arbeitsabenteuer und wohl auch die Gewissheit, Arbeit zu finden, „denn Arbeitslose gab es wegen des verfassungsmäßig verbrieften Rechts auf Arbeit nicht“, wie auf Seite 74 zu lesen. Industrieschornsteinmaurer haben es dem jungen Mann besonders angetan. Und so wundert es nicht, wenn er stolz davon berichtet, am damals größten und modernsten Porzellanwerk Europas in Kahla und an anderen bedeutenden Industrieanlagen mitgewirkt zu haben. Was den DDR-Arbeiter auszeichnete? Auf Seite 86 heißt es: „Gute Arbeit zu leisten gehörte ohnehin von Anfang an zu meinen Grundsätzen. Das verdanke ich wohl meinem Opa Ptak, der immer streng zu mir war und keinerlei Schlampigkeit durchgehen ließ.“

Buchumschlag Manfred Otto Stein auf SteinDer Rezensent kann nicht die unzähligen Goldkörner von Fakten und Details aufzählen, die durch die berichtenden Zeilen dieses Schornsteinmaurers hindurch glänzen. Ob es um den mitunter selbstlosen geistigen und körperlichen Einsatz beim Schornsteinbau geht, um Vorschläge der Arbeiter, kostengünstiger zu produzieren, um die mutige Verteidigung eines Brigademitglieds, als Manfred Otto als Gesellschaftlicher Verteidiger fungieren musste. Wobei auch die Poesie des Schreibers nicht zu kurz kommt, wenn er von 100 Meter hohen Schornsteinen aus seine Augen über die Weite der Landschaften schweifen ließ...

Als geduldiger und neugieriger Leser wirst du Erkenntnisse gewinnen, die man sonst nirgends findest. Du wirst Spaß haben am Witz unseres Arbeitshelden, du wirst erfahren, wie sich unser Mann der herrschenden Klasse im guten kameradschaftlichen Arbeitsklima der gegenseitigen Hilfe wohlfühlt, wie er nicht nur wegen der Knete darum ringt, sein Tagewerk mit der Brigade stets ordnungsgemäß und oft genug mit der Note „sehr gut“ an die jeweilige Betriebsleitung zu übergeben.

Unduldsam geht er an gegen Diebe, zum Beispiel, als einmal ein Trabbi erwischt wurde, der mit volkseigenen Zementsäcken beladen war, gegen dogmatische Irrtümer, gegen Materialmangel oder auch gegen eine übertriebene „Überwachung“ durch „Horch und Guck“. Aber auch das gab es: Auf Seite 285 erzählt er von einem Mann, der um ein neuerbautes Kesselhaus schlich. Er suchte händeringend nach Schamottematerial für seinen Hauskamin. Dem Mann war zu helfen: Schamotte gegen ein 60-Kilo Spanferkel.

Alle Achtung vor den Arbeitern, die oft genug – auch in unzähligen freiwilligen Arbeitseinsätzen – sozusagen aus Scheiße Bonbons gemacht haben. An dieser Stelle nochmals Hut ab auch vor diesem Industrieschornsteinmaurer, der beispielsweise mit seinen Brigadeleuten dem Produktionsverlust, entstanden wegen des Erdölstopps durch die Sowjetunion, mit größter Mühe begegnen konnte.

Abbruchzeiten
Der sich bislang als unpolitisch bezeichnende Schornsteinmaurer äußert sich in seinem Protokoll über seinen Lebensweg etwa über ein viertel hundert Mal zu politischen Ereignissen, besonders – wie kann es anders sein, über die schmerzliche „De-Industrialisierung“ in der DDR nach dem Mauerfall. Nein, er sei kein „Jammer - Ossi“, dazu sei er zu real denkend, mit beiden Beinen auf dem Boden stehend. Sein Rentnerleben genießt er mit seiner Münz- und Briefmarkensammlung, mit Gartenarbeit, an der Seite seiner Freundin mit Kuren in Marienbad oder an der polnischen Ostseeküste. Und er schrieb ein Minibuch mit dem Titel „INGO. Spaziergänge im Niemandsland“, in dem er gegen die seit der Wende durch die Medien geisternden schießwütigen Grenzer angeht.

Und dennoch. Nicht kalt lässt es ihn, was nach dem Mauerfall geschah. Bei einem traditionellen Treffen mit ehemaligen Kollegen im Jahre 2016 in Brandenburg/Havel, hält der Autor auf Seite 204 fest: „Von all den Industriebauten, in denen unsere Kraft, unser Herzblut und unser Schweiß steckten, fanden wir nichts mehr vor.“ Dem gestandenen Arbeiter wurde der Titel Meister der volkseigenen Bauindustrie aberkannt. Er denkt an Frankfurt/Oder, wo nach der Wende „wegen der massiven De-Industrialisierung“ die Einwohnerzahl auf die Hälfte schrumpfte, „sodass Tausende Wohnungen geschreddert wurden. Für einen Bauarbeiter ein sehr trauriger Vorfall“. (S. 144) Bei Verhandlungen mit einer Westfirma musste Arbeiter Otto resigniert feststellen, die brauchten nur ein paar spezialisierte Facharbeiter, „das unqualifizierte Fußvolk und unsere Technik nicht“. Hin und wieder bekam er Arbeit, vermittelt durch alte Freunde, doch auch Manfred Otto musste tippeln und betteln, was er und Millionen DDR-Bürger nicht erspart blieb: Tut uns leid – Sie sind zu alt und zu qualifiziert, also zu teuer.

Einmal war ein Chef mit der Tagesleistung unzufrieden. Manfred Otto schlug ihm deshalb vor, selbst hochzusteigen und einen Tag lang wie früher mitzuarbeiten. „Nach einem halben Tag“, so schreibt der Autor, „stieg Burkhardt geschafft ab und gab mir Recht“.
Diese Autobiografie – nennen wir sie mal Arbeitsprotokoll eines ehrlichen Schwerstarbeiters – dem kann man nicht den Stolz und Würde auf Geleistetes nehmen. Er ruft auf Seite 363 den Lesern entgegen: Einen Wunsch habe er noch: Seine Kinder und Enkel „sollen nie einen Krieg erleben, denn ohne Frieden ist alles andere ohne Sinn“. Danke für seine mit Herzblut geschriebenen Zeilen. Ihm, dem Mann mit Presslufthammer und Maurerkelle. Dem Mann mit Charakter. Dem Arbeiter mit politisch hellwachem Geist. Auf Seite 315 bekennt er: Lass dir nichts gefallen, denn in dieser Ellenbogen-Gesellschaft ist sich jeder selbst der Nächste.

Manfred Otto: Stein auf Stein dem Himmel entgegen. Aus dem Arbeitsleben eines Schornsteinmaurers/Zwischen Aufstieg & Abstieg / Zwischen Aufbruch & Abbruch

Edition Märkische Reisebilder, 1. Auflage, 2018
370 Seiten, Verlagsprogramm: www.carlotto.de,
ISBN 978-3-934232-98-3,
Telefon: 0331/270 17 87.
Auch zu finden in der Erinnerungsbibliothek DDR e.V. – Sammlung und Aufbewahrung von DDR – Biographien



Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.
Erstveröffentlichung dieser Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung.


Abbildungsnachweis:
Header: Detail aus Buchumschlag, Buchumschlag

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