Der in Aachen lebende Lyriker Jürgen Nendza wird mit dem Christian-Wagner-Preis 2018 für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Überreicht wird der Preis am 17. November im baden-württembergischen Leonberg. Das ist eine frohe Botschaft auch für seine Leser.
Die acht Lyrikbände des mehrfach ausgezeichneten Dichters sind seit 1992 in verschiedenen Verlagen erschienen, die letzten drei Bände im „poetenladen“. Nendzas „sprachsensiblen und formal strengen Gedichte, die Wahrnehmung, Geschichte und Landschaft synchronisieren, sind vorbildliche Lektionen in poetischer Genauigkeit", begründet die Jury u.a. ihre gute Wahl. Und laut Literaturkritiker Michael Braun zählt Jürgen Nendzas Buch „picknick“ zu den zehn empfehlenswertesten Gedichtbänden deutschsprachiger Lyrik 2018.
Jürgen Nendza, geboren 1957 in Essen, studierte Philosophie und Germanistik in Aachen. Neben zahlreichen Gedichtbänden veröffentlichte er Hörspiele, Radio-Features und Erzählungen. Jürgen Nendza ist auch als Herausgeber tätig. Für seine Gedichte erhielt er diverse Stipendien und u.a. den Lyrikpreis Meran. Zuletzt erschienen seine Gedichtbände „Apfel und Amsel“ (2012) und „Mikadogeäst. Gedichte aus 20 Jahren“ (2015) und „Picknick“ (2017), alle drei im Verlag „poetenladen“. Seinen ersten Lyrikband „Glaszeit“ veröffentlichte Nendza mit 35 Jahren.
Das ist lange her. Der Dichter ist drangeblieben. Ganz dicht dran. Das gilt auch für die Vergangenheit. So in dem Gedicht „DAS SIND doch ausgeschlagene / Zähne…“. Hier wird das dritte Reich thematisiert und an die Gräuel der Nazizeit erinnert, u.a. durch die Schauspielerin Anna Führing, die für die Germania-Briefmarken des deutschen Reiches Modell stand. Gedichtzeilen wie „Am Karussell geht einer / immer um, das böse /Ding, das Tier“ erinnern das unfasslich Schreckliche auf literarische Weise. Der Mensch - das böse Ding, das Tier: es verrennt sich, es verläuft sich. Auch „die Sätze verlaufen sich“, wie Nendza es in seinem Gedicht „Die Wimpern“ (aus: „Apfel und Amsel“, 2012) beschreibt:
DIE WIMPERN knistern, dein Blick treibt unter
dünnem Eis: Das Tageslicht hockt über uns.
Wir stehen auf und niemand weiß, welches Gesicht
mit ihm erwacht. Das Fenster ist ein großer Garten,
das Stille öffnet in der Luft und Schlaf
glüht nach, ist warm, ist eingefärbt mit Äpfeln.
Der Morgen dreht sich mit der Erde und eine Amsel
hüpft durch deinen ersten Satz: So wächst Vertrauen
in die Wiederholung, die dich vergisst. Das Licht
bedeutet wir sind wach. Wir stehen auf: Die Zeit ist
unerreichbar zwischen Atemzügen. Und dieses Tasten
nach der Hand, wenn die Sätze sich verlaufen.
Über das Schreiben von Gedichten - speziell seiner eigenen Gedichte - sagt der Autor in dem Buch „Umkreisungen“ (25 Auskünfte zum Gedicht, herausgegeben von Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt, poetenladen 2010) unter anderem: „Nein, hinreichend zu rekonstruieren, wie ein Gedicht, wie dieses Gedicht zustande gekommen ist, halte ich für unmöglich.“ Dabei bezieht er sich auf den folgenden Text:
I.
Vielleicht
ist es das Erzittern,
mit dem wir beginnen und enden,
während die Augen am Himmel saugen
im Rhythmus einer Sprache
ohne persönliche Besitzanzeige:
Kupfer, Zimt, ein türkisfarbenes
Fliegengewicht, sagen die Luftwurzeln,
und wir zerstäuben im Lichtfächer
des Kolibris, im Nonstoppflug, Jetlag:
drei Gramm Flugtöne und -rausch,
Variationen in Kalliopes Stimme.
So bleiben wir stehen
in der Luft, in einer Schleife
ohne toten Umkehrpunkt, während
unter uns die Landschaft
weiterzieht.
(Aus dem Zyklus „ … sagen die Luftwurzeln“, aus: „Die Rotation des Kolibris“, Weilerswist:Landpresse 2008)
„So wenig ich über einen Bauplan für eine gelungene, gar kühne Metapher verfüge, so wenig verfüge ich über ein Verfahren, dass dem Gedicht vorausgeht und es womöglich an die Leine nimmt. Das Silbenzählen ist für mich kein Verfahren, und das Gedicht selbst ist bekanntlich mehr als die Summe seiner Worte […] jedes Gedicht ist sein eigenes Verfahren“, sagt Jürgen Nendza. So kann es sein, dass er wie „ein Muschelwächter wandert zwischen den Dingen“ oder zum„Sandfänger“ wird, oder sein „Blick sprüht auf in Zwittern aus Wasser“. Jürgen Nendza lässt uns Bilder sehen, „die sich selbst durchörtern: Du bist das dort im dunklen“. (Zitate aus: „Picknick“, 2017).
Der dunkle Dichter spricht ins Helle, der helle Dichter spricht ins Dunkle - wie man es auch dreht und wendet: der Dichter spricht immer zu sich und zugleich immer zu uns. Luft und Licht spielen eine wichtige Rolle in diesen luftigen, leichten Gedichten. Sie wirken zart und zerbrechlich. Sie sind leuchtend hell, selbst dann, wenn sie Dunkles berühren und auf leisen Sohlen daherkommen. Letzteres, weil der Autor eine „Vorliebe für das Unscheinbare, Unspektakuläre, vermeintlich Unvertraute und Periphere“ hat.
Die Titel der Gedichte werden oft aus ersten Wörtern gebildet, die luftig-groß in Kapitälchen gesetzt sind. Oder sie befinden sich mittendrin im Gedicht, sind fett- und klein gedruckt. So wie im Zyklus „Verborgene Ehen“ im 2017 erschienenen Band „picknick“. Der Buchtitel ist klein geschrieben, obwohl die Anfänge der Gedichte mit Großbuchstaben beginnen. Auch Zeilensprünge fallen auf im freien Vers, sie scheint der Dichter zu lieben. Diese technisch-poetische Vorliebe wird z.B. im Gedicht „Kleinigkeiten“ praktiziert, das die Cover-Rückseite von „picknick“ mit roter Schrift auf bunt getupftem Gras stilvoll schmückt:
KLEINIGKEITEN
picken wir auf im Mittagslicht,
das sich staut, das Gras
überzieht
mit einer Bewegung,
in der wir schwimmen
im Denken, wie das Gehirn
schwimmt in einer Flüssigkeit
in uns, weltumspannend
in eine Teezeit hinein
und sich verzweigt
mit einer gefiederten Maske:
Der Distelfink sprenkelt
dein Ohr.
Die poetische Textbewegung des Schreibens ist für Nendza„ein unvorhersehbares Zusammenspiel von Konstruktion und Überraschung, Kalkül und Entdeckung, Handwerk und Rätsel.“ Das bedeutet natürlich nicht, dass Jürgen Nendza unreflektiert poetisiert. Ganz im Gegenteil:„Reflexion kann selbst zu einem wesentlichen Moment des poetischen Sprechens werden“, sagt der Dichter, für den jedes Gedicht sein eigenes Verfahren ist (siehe oben). Will sagen, das Gedicht leitet sich aus sich selbst heraus (ab), wird aus sich selbst heraus entwickelt, schreibt sich sozusagen selbst. Das Gedicht spricht für sich, zum Dichter, zu uns. Der Dichter gibt dem Gedicht eine Stimme, seine Stimme.
„Die Gedichte von Jürgen Nendza stiften produktive Unruhe. Und das tun sie meisterhaft“,lobt der Lyrikkritiker Michael Braun (DFL, Büchermarkt). Ja, es knistert mächtig in Nendzas Gedichten, nicht nur die Wimpern, wie in dem gleichnamigen, zu Anfang des Artikels erwähnten Gedicht. Diese produktive Unruhe überträgt sich auf den Leser, wenn er den mit scheinbar leichter Hand geschriebenen, rhythmisch und poetisch geglückten Auseinandersetzungen des Autors mit der Welt folgt. In dieser poetischen Welt verbinden sich Innen und Außen, Gegenwärtiges und Vergangenes, Mensch und Natur auf faszinierende Weise immer wieder neu, immer wieder anders.
Jürgen Nendza,picknick. Gedichte
poetenladen 2017ISBN 978-3-940691-84-2
72 Seiten, Hardcover, Schutzumschlag.
Abbildungsnachweis:
Headerfoto: Claus Friede
Autorenfoto: Anette Barns
Buchumschlag
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