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Mariana Leky Foto: Marion Hinz

„Was man von hier aus sehen kann“ ist das „Lieblingsbuch der Unabhängigen 2017“ – gewählt von Buchhändlerinnen und Buchhändlern aus ganz Deutschland. Natürlich spricht das für sich und für dieses Buch.
Erzählt wird in diesem zärtlichen, klugen, humorvollen und märchenhaften Roman von einem Dorf im Westerwald mit skurrilen Bewohnern. Sie leben in einer Gegend, „in der die Übergänge fehlen“. Eine Gegend, in der jedes Mal, wenn Selma von einem Okapi träumt, kurz darauf jemand stirbt. Lübecker Leser konnten im Rahmen der „LiteraTourNord 2017“ Mariana Leky als sympathisch-lebhafte Autorin dieses Romans bei einer Lesung im Buddenbrookhaus mit Auszügen aus dem Buch live erleben.

Erzählt wird die Geschichte in drei großen Kapiteln aus der Ich-Perspektive von Luise. Die erzählte Zeit reicht von Luises 10. bis 35. Lebensjahr. Immer wieder wird Luise mit dem Tod konfrontiert: In jedem der drei Teile des Romans stirbt eine Person. Dennoch ist der Roman nie düster. Die Liebe und Zuneigung der Dorfbewohner untereinander hellt alles auf. Alles und alle sind miteinander verbunden. Diese Verbundenheit wird rasch vom Leser geteilt, denn die Autorin schreibt „zum Niederknien“ (NDR Kultur). Das hat sich herumgesprochen. Entsprechend gut gefüllt war der große Lesesaal im Buddenbrookhaus. „Wir sehen am Zulauf, dass dieses Buch begeistert“, so die Leiterin der Einrichtung, Birte Lipinski. „Ein Buch, das auch vom Tod handelt, aber sehr lebendig ist.“ Kein Wunder, dass dieser Roman gleich nach Erscheinen wochenlang auf der Bestsellerliste des „Spiegel“ stand.
Mariana Leky BuchumschlagEin Buch also, das viele Leser begeistert. Eben noch lächeln wir höchst beglückt. Im nächsten Augenblick sind wir zutiefst traurig. Eben noch war alles hell und warm. Plötzlich ist alles dunkel und kalt. Doch keine Sorge: Dieses Buch ist ein warmblütiges, zärtliches Buch mit phantastisch gezeichneten Figuren. Da ist Luise, die bei Herrn Rödder probeweise in der Buchhandlung arbeitet und unter „Verstockung“ leidet. Da ist Selma, die Großmutter der Ich-Erzählerin Luise, bei der alle Dorfbewohner gerne Rat suchen. Selma hat eine ausgeprägte Neigung zu alkoholgefüllten Pralinen. Sie lebt in einem baufälligen Haus – eine Metapher „für nichts Geringeres als das Leben, ein windschiefes Leben mit Einsturzgefahr“, wie Luises Vater meint, der unter einem „eingekapselten Schmerz“ leidet.
Luises bester Freund Martin nimmt bei Selma Zuflucht vor seinem gewalttätigen Vater. Auch Luise verbringt viel Zeit bei der Großmutter. Ihre Eltern sind vor allem damit beschäftigt, unglücklich verheiratet zu sein. Die Mutter hat einen Blumenladen und ein Verhältnis mit Eiscafébesitzer Alberto. Den dauerhaft um die Welt reisenden Vater sieht Luise selten. Das vereinfacht die Liebe, „denn Abwesende können sich nicht danebenbenehmen“. Eine weitere liebenswerte literarische Figur dieses Romans ist der Optiker. Er ist unaussprechlich in Selma verliebt – ein Geheimnis, das alle Dorfbewohner längst kennen. Der Optiker selbst aber kann dies nur in wunderschönen, nie abgeschickten Brief(-anfäng)en an Selma bekennen. Diese Briefanfänge beglücken uns Leser – und letztendlich auch Selma. Der Optiker wird von inneren Stimmen geplagt und beherrscht das Ähnlichkeitsspiel: „Man sagte dem Optiker zwei Sachen, die nicht im Geringsten zusammen gehörten, und er stellte aus dem Stand eine enge Verwandtschaft her.“ Er kann die abwegigsten Dinge miteinander verbinden: „Kaffeekannen und Schnürsenkel beispielsweise, oder Pfandflaschen und Tannenbäume“.
Wir Leser lernen die abergläubische Elsbeth und die ständig schlecht gelaunte Marlies kennen und beide in ihrer Verschrobenheit lieben. Das gilt auch für Buchhändler Rödder, der aus Angst vor schlechtem Atem ständig Veilchenpastillen isst. Und für Frederik, den in Hessen aufgewachsenen buddhistischen Mönch aus Japan, dessen Augen „sehr blau, beinahe türkis“ sind. So blau, so türkis, dass er Luises Herz gewinnt. Nicht zu vergessen Mischlingshund Alaska, „sperrig und struppig und riesig und grau, und er roch wie eine nie gelüftete Wahrheit.“ Alaska wächst ins schier Unendliche und lebt unendlich viele Leben. Gekauft wurde er an Selmas Geburtstag vom Vater, um auf Empfehlung von Dr. Maschke des Vaters eingekapselten Schmerz zu externalisieren: „Der Hund ist quasi eine Metapher. Eine Metapher für den Schmerz.“
Und dann ist da noch das Okapi: Immer dann, wenn Luises Großmutter Selma von einem Okapi träumt, stirbt jemand. Das ist tragisch und das ganze Dorf gerät in Aufruhr. Die einen wünschen sich, der Tod möge doch diesmal sie treffen und treffen entsprechende Vorsorge. Andere haben Heidenangst vor dem Tod. So wie Jäger Palm, der sich nach einem Schicksalsschlag von seiner Alkoholsucht befreite und fortan der Bibel zuwendete. „Er konnte nichts davon wissen, denn die Heidenangst kam erst, nachdem der Tod eingetreten war, durch die Tür“. Aber durch seine Tür tritt der Tod nicht. Auch nicht durch die Tür von Bauer Häubel, der schon so lange lebte, „dass er beinahe durchsichtig war“. Der sich in Erwartung des Todes gleich nach dem Frühstück wieder ins Bett legt und noch einmal kurz aufsteht, „weil er vergessen hatte, die Dachluke zu öffnen, damit nachher die Seele umstandslos hinausfliegen konnte“.
Wenn jemand stirbt, trauert das ganze Dorf. „Auch Elsbeth trug noch Schwarz, sie stand mit einem Laubbläser im Garten. Sie hielt den Bläser an den Apfelbaum. Es war April und die Blätter entsprechend jung.“ Elsbeth will aufgrund des Todesfalls, dass „es schon Herbst ist“. Doch die Blätter wollen nicht fallen. Sie „fühlten sich kein bisschen bedroht, sie fühlten sich eher geföhnt“. Das ist schön gedacht, zu Herzen gehend geschrieben und macht tieftraurig. Bei dem Wort Fön denkt mancher Leser möglicherweise an Tilman Rammstedt und dessen Buch „Mein Leben als Fön“. Und der Name dieses Autors taucht tatsächlich am Ende des Buches auf. Genauer gesagt: in Mariana Lekys Danksagung. Hier erfahren wir, dass Tilman Rammstedt dieses Buch von der ersten Idee bis zum Epilog begleitet hat. Wir erfahren auch, dass einzelne Motive zum Roman erstmals 2012 in dem Hörspiel „Der Buddhist und ich“ auftauchten, also fünf Jahre vor Erscheinen des Romans bei DuMont. Zum Glück ist ein Buch daraus geworden.

Ein großartiges Buch mit einer wunderschönen, wundersamen Geschichte. Alles in diesem Roman ist gekonnt miteinander verbunden: Menschen und Dinge, Fähigkeiten und Eigenarten, Fantastisches und Reales. Wir Leser tauchen beglückt ein in diese fiktive Welt, gemischt aus Tragik und Humor. Das gilt auch für die Zuhörer. Ja, sie kommt gut an, Mariana Lekys erdachte Welt, die Glauben und Aberglauben, Fantastisches und Reales vereint. Eine Welt, in der Metaphern und Vergleiche in Variationen als Wiederholungen auftauchen und somit den Eindruck des Märchenhaften vermitteln. Dank der Könnerschaft der Autorin wird diese märchenhafte Welt für den Leser zur wirklichen Welt. Die Schlange am Lübecker Bücher- und Signiertisch war entsprechend lang, der Applaus am Ende der Lesung groß. „Ich mag es gerne, wenn etwas Trauriges von etwas Humoristischem flankiert wird“, hat Mariana Leky dem Lübecker Publikum erzählt. Das scheint ein guter Ansatz zu sein. Es ließen sich viele Sätze und ganze Absätze zitieren, die von literarischer Schönheit sind. Am besten aber ist, Sie lesen das Buch selbst. Es lohnt sich.

Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann
DuMont Verlag, Köln 2017
Gebunden, 320 Seiten

ISBN 9783832198398


Fotonachweis:
Header: Mariana Leky in Lübeck. Foto: Marion Hinz
Buchumschlag DuMont Verlag

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