Nino Haratischwili: „Das achte Leben – für Brilka“ – 100 Jahre Familienschicksal
- Geschrieben von Marion Hinz -
Hut ab vor dieser Autorin: von Anfang bis Ende fesselnd und faszinierend erzählt Nino Haratischwili in ihrem ausgezeichneten Familienroman „Das achte Leben – für Brilka“ von acht außergewöhnlichen Schicksalen während der georgisch-russischen Kriegs- und Revolutionswirren bis hinein in unsere heutige Zeit.
Ein zu Recht preisgekrönter Roman, ein großer literarischer Wurf – davon konnten sich Leser in Lübeck von der Autorin selbst im Rahmen einer Lesung überzeugen lassen. Schon einmal war die Autorin in Lübeck zu Gast: 2011 gewann sie den Debütpreis des Buddenbrookhauses Lübeck für ihren Roman „Juja“. Jetzt kam die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin erneut nach Lübeck. Eingeladen hatten das Buddenbrookhaus und dessen Förderverein. Die Lesung fand nicht – wie zu erwarten gewesen wäre – im Buddenbrookhaus, sondern in unmittelbarer Nachbarschaft statt: in der Dr. Julius-Leber-Straße, der optischen Verlängerung der Mengstraße, im stylischen Design-Möbelhaus „BoConcept“. Hier las Nino Haratischwili, vor locker im Raum auf schickem Verkaufsmobiliar platziertem Publikum, aus ihrem 2014 erschienenen Familienroman, der jetzt auch als Taschenbuch erhältlich ist.
Mit ihrer Kunst des Erzählens begeisterte die in Tiflis (Tbilissi, Georgien) geborene und in Hamburg lebende Nino Haratischwili das Publikum. Durch das Programm inklusive des an die Lesung anschließenden Gesprächs mit den Zuhörern führten die Buddenbrookhaus-Mitarbeiterinnen Helene Hoffmann und Britta Dittmann. Mit einem klug gewählten Auszug aus dem „Prolog“, der den Untertitel „Die Partitur des Vergessens“ trägt, führte Nino Haratischwili in den Roman ein. „Eigentlich hat diese Geschichte mehrere Anfänge“, lautet der erste Satz des in acht Bücher gegliederten Romans, wobei das letzte Buch ungeschrieben bleibt: es ist für Brilka gedacht, es soll von ihr gelebt, geschrieben werden. Drei mögliche Anfänge für diese Familiensaga gibt es. Und weil das so ist, entschied die Autorin, ihren Roman tatsächlich mit allen drei Anfängen anzufangen: in einer Berliner Altbauwohnung mit einem „gnadenlos talentierten Musiker“, mit einem „zwölfjährigen Mädchen, das beschließt, der Welt, in der sie lebt, ein Nein ins Gesicht zu schleudern“. Man kann aber auch ganz weit, „zu den Wurzeln, zurückgehen und dort beginnen“. Und schon sind wir mittendrin in den drei Anfängen. Der fulminante Ritt durch den Roman hat begonnen.
Erzählt wird „Das achte Leben – für Brilka“ aus der Perspektive von Niza, Urenkelin eines Schokoladenfabrikanten. Der Fabrikant vererbt ein verhängnisvolles Schokoladenrezept, das von Generation zu Generation weitergegeben wird und dessen Wirkung Segen und Fluch ist. Immer wieder richtet Erzählerin Niza ihre Worte an Brilka. Das überrascht uns jedes Mal aufs Neue. Denn wir Leser sind inzwischen tief eingetaucht in die georgische Geschichte und in die Geschichte dieser Familie. So tief, dass wir irritiert sind, wenn wir wieder zurück an die Oberfläche geholt werden. „Ich verdanke diese Zeilen vor allem dir, Brilka“, heißt es im Prolog. „Sei alles, was wir waren und nicht waren. Sei ein Leutnant, eine Seiltänzerin, ein Matrone, eine Schauspielerin, ein Filmemacher, eine Pianistin, eine Mutter, eine Krankenschwester, eine Schriftstellerin, sei rot und weiß oder blau, sei Chaos und Himmel und sei sie und ich und sei all dies nicht, tanze vor allem unzählige Pas de deux. Durchbrich diese Geschichte und lass sie hinter dir.“ Mit diesen schönen Worten ist das Hauptpersonal des Romans umfasst.
Dieser epochale, opulente Roman der auf Deutsch schreibenden, 1983 in Georgien geborenen Autorin Nino Haratischwili erzählt von Anpassung und Widerstand, von Liebe und Hass, von Tod und Lebenswillen, von Verzweiflung, Vergewaltigung und Verrat. Mit der Geburt Stasias beginnt die Geschichte. Stasia ist Tochter eines angesehenen Schokoladenfabrikanten, die als junges Mädchen nichts anderes will, als nach Paris zu reisen und dort die Kunst des Tanzens zu erlernen. Die ihr Leben lang nur tanzen will, stattdessen einen Leutnant heiratet und mit hundert Jahren traumergeben unterm Apfelbaum tanzt. Mit der Geburt dieser Stasia also beginnt die Handlung des Romans im Jahr 1900. Eine Handlung, die sich auf 1.275 Seiten über sechs Generationen erstreckt und die acht Hauptfiguren hat. Langeweile kommt trotz der seitenzahlmäßigen Länge beim Lesen des Buches nicht auf. Warum auch: Schließlich haben wir es mit einer dramatisch gut geschulten Schriftstellerin zu tun, die schon in ihrer Jugend Theaterstücke schrieb und in ihrer Heimat Georgien zur Aufführung brachte.
Nino Haratischwili breitet in ihrem preisgekrönten Roman einen bunten Teppich aus Fakten und Legenden aus. Vier Jahre hat sie an dem Roman gearbeitet, zwei Jahre waren allein der Recherche gewidmet. Herausgekommen ist ein bunter Teppich, gewebt aus den Fäden menschlicher Schicksale und georgischer Geschichte. Ein Teppich kommt tatsächlich im Roman vor, gleich zu Beginn, im Prolog. Erzählerin Niza erinnert sich an die „Geschichte des Teppichs“, einst zu Gehör gebracht von Großmutter Anastasia, genannt Stasia. Diese Stasia also stand auf dem Balkon und „klopfte einen von Motten zerfressenen Teppich aus, wunderschön gemustert und in granatroten Farbtönen“. Und etwas weiter im Text heißt es „Ein Teppich ist eine Geschichte. In ihr verbergen sich wiederum unzählige andere Geschichten.“ Die bunten Ornamente seien einzelne Fäden, jeder Faden sei wiederum eine einzelne Geschichte. Fürwahr: es sind viele Fäden, es sind viele Geschichten, die hier zusammenfinden. Jede einzelne ist es wert, erzählt zu werden. Zumal auf diese Weise, wenn Historie und Fiktives so gekonnt miteinander verwoben werden.
„Ich hätte nicht gewagt, so einen Wälzer zu schreiben, das hätte mich abgeschreckt“, erzählte Nino Haratischwili dem Lübecker Publikum. Eigentlich habe sie einen Roman schreiben wollen, der vom Georgien ihrer Kindheit und Jugend erzählt. Einen Roman über eine Zeit, „in der die Gesellschaft auseinanderfiel“. Doch im Laufe der Recherche habe sie festgestellt, dass der von ihr gewählte zeitliche Rahmen der Handlung „nur der Abschluss einer Epoche ist“. Ihr Blick ging immer weiter zurück in die Vergangenheit. „Das hat einen ganz eigenen Sog entwickelt.“ Der Umfang des Romans nahm deutlich zu. Für die Recherchen zum Buch konnte die Autorin Dank eines „Grenzgänger“-Stipendiums der Bosch-Stiftung durch Russland reisen, in Moskau in Archiven arbeiten, nach Georgien fahren, vor Ort Gesprächspartner suchen und finden. Immer mehr Fakten und Figuren fügten sich in den Teppich, das Buch der acht Bücher wurde immer umfangreicher, wobei das achte Buch nur den Titel trägt und im Roman ungeschrieben bleibt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Familiäre Fäden sind es, die den Romanteppich bilden. Dabei im Hintergrund stets präsent: die schillernde Geschichte Georgiens im Verbund mit der Welt. Vom Georgien kurz vorm Ersten Weltkrieg bis hin zum Deutschland um die Jahrtausendwende hat Nino Haratischwili ihren erzählerischen Bogen gespannt. Die fiktive 100jährige Familiengeschichte und die reale georgische Geschichte des 20. Jahrhunderts ergeben zusammengewebt ein atemberaubendes Leseerlebnis. Mit der Geburt von Nizas Großmutter Stasia nimmt diese Familiengeschichte ihren Anfang. Atemlos und begeistert bleibt der Leser am Ende zurück.
Wer nach den vielen Buchseiten immer noch nicht genug hat von der uns plötzlich so nahen 100-jährigen Geschichte Georgiens, immer noch nicht genug hat von den uns ans Herz gewachsenen Schicksalen der Familienangehörigen unserer Erzählerin Niza, der kann als Ablenkung vom Buch zur Abwechslung seinen persönlichen Handlungsort ins Hamburger Thalia Theater verlegen. Dort lässt sich derzeit eine Aufführung dieser Geschichte erleben. Denn: Aus der Feder von Emilia Heinrich, Julia Lochte und Jette Steckel gibt es jetzt auch eine Bühnenfassung des Romans. Die Autorin selbst hat nicht an der Theaterfassung mitgeschrieben und auch nicht an der Inszenierung mitgewirkt. Das hat ganz private Gründe: Sie ist Mutter einer einjährigen Tochter und war bei den Vorbereitungen zum Stück hochschwanger. Doch die „anderen“ haben ihre Sache offensichtlich auch sehr gut gemacht: Das 5-Stunden-Stück wurde bei der Uraufführung am 8. April 2017 im Hamburger Thalia Theater von den Premierengästen bejubelt und steht dort aktuell auf dem Spielplan.
Nino Haratischwili, Das achte Leben
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014
ISBN 9783627002084
Gebunden, 1280 Seiten
Taschenbuch
Ullstein Verlag, 2017
ISBN-13 9783548289274
Biographie Quelle: Heinrich Böll Stiftung
Abbildungsnachweis:
Header:
Foto von Nino Haratschwili: Marion Hinz
Buchumschlag
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