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Rammstedt Foto Saage

Tilman Rammstedt, der letzte Autor der diesjährigen Reihe „LiteraTour Nord“, der seinen Roman „Morgen mehr“ in der Lübecker Buchhandlung Hugendubel vorstellte, ist so etwas wie ein Thomas Crown der Literatur.
Der Mann ist einfach nicht zu fassen. Er ist ein Schelm, der als Autor getarnt Schelmenromane verfasst. Der Möglichkeiten aufzeichnet, die so ungeahnt vielfältig sind („Wir bleiben in der Nähe“, 2005), dass eine Entscheidung verständlicherweise schwer- oder gar komplett ausfallen muss.

Doch Tilman Rammstedt kann auch anders. In seinem neuen Roman „Morgen mehr“, der zunächst Tag für Tag drei Monate lang kapitelweise im Internet erschien und erst im zweiten Schritt als gedrucktes Buch, hat der Erzähler nur eine einzige Möglichkeit: Er muss seine zukünftigen Eltern zusammenbringen, sonst ist sein Leben zu Ende, bevor es begann. Für ihn gibt es nur diese eine Chance zu leben, zu überleben. Eine zweite Chance kann es schon aus biologischen Gründen nicht geben: denn unser Held ist überhaupt noch nicht geboren.

Tilman Rammstedt - Morgen mehr - BuchumschlagEines Tages, Anfang 1972: Das ganze Leben liegt noch vor dem Erzähler- vorausgesetzt, alles verläuft nach Plan. Er sieht alles schon vor sich, er freut sich darauf. Doch das Problem ist: Er ist noch nicht geboren. Um genau zu sein, ist er nicht einmal gezeugt worden, seine zukünftigen Eltern wissen noch nichts voneinander und beide haben im Moment ganz andere Sorgen. Seine Mutter ist im Begriff, einem schwermütigen Südfranzosen zu verfallen, während sein Vater gerade mit einbetonierten Füßen in den Main geworfen wird. Wie es dem Erzähler gelingt, die beiden in herzzerreißend komischen, unendlich traurigen Abenteuern zueinander zu führen, ist großartige Literatur, ist ein Feuerwerk der Erzählkunst.
„Morgen mehr“ erzählt von einer Mutter, die Anfang der 70er-Jahre auf Selbstfindungstour in Südfrankreich ist, nachdem ihre Schwester gestorben ist. Erzählt wird vom Vater in Frankfurt, der eigentlich schon auf dem Grund des Mains liegen soll, was aber misslingt. Erzählt wird von Claudia, die vom Vater geliebt wird, aber selbigen nicht liebt. Erzählt wird von einem Jungen, der manchmal schlauer ist als alle Erwachsenen. Eine Rolle spielen zudem drei Männer im Pelz aus dem Frankfurter Untergrund, die am liebsten in den Ruhestand entlassen werden würden. Deren mieser Chef, weitere Menschen und ein Schaf bevölkern den Roman. Ein Notizbuch, eine Liste und weitere Dinge wie Rucksack und Koffer sind ebenfalls wichtige Bestandteile des Buches. Auch die Zeit spielt eine große Rolle: denn es gibt nur den heutigen Tag, 24 Stunden und – zum Glück – eine Schaltsekunde.
Es ist eine wilde Road-Novel, die in Frankfurt und Marseille beginnt, rasant Fahrt aufnimmt und in Paris zum finalen Halt kommt. Die einzelnen Kapitel tragen neugierig machende Überschriften. Das fängt gleich beim ersten Kapitel an: „in dem es aufgrund eines kleinen Problems noch nicht losgehen kann“. Im fünften Kapitel werden „einige ausgesuchte Stellen“ aus den Gedichten des Vaters zitiert. Zwischendurch wird hin und wieder Inventur gemacht: „Was wir bislang wissen“, „Was wir noch nicht wissen“. Manche Überschriften sind kurz, andere lang, immer aber sind die angekündigten Kapitel kurzweilig, nie langweilig.

(Seite 73:) Mitschrift der Befragung der Sehnsucht meines Vaters:
Stimmt es, dass Sie über einen Zeitraum von dreiundvierzig Tagen immer wieder betont haben, wie wichtig es für meinen Mandanten sei, Claudia wiederzusehen? Sehnsucht: Ja. Das stimmt. Und stimmt es, dass Sie sich sogar zu folgender Behauptung haben hinreißen lassen, ich zitiere wörtlich: Nichts anderes auf der Welt hat sonst noch irgendeine Bedeutung? Sehnsucht: Ich kann mich an den genauen Wortlaut nicht erinnern. Aber ja, sinngemäß trifft das wahrscheinlich zu. (usw.)

(Seite 75:) Mitschrift der Befragung der Sehnsucht von Dimitri:
Stimmt es, dass Sie immer wieder behauptet haben, ein fahrendes Auto zu rammen, sei mit Sicherheit eines der erhabensten Gefühle der Menschheit? Sehnsucht: Japp. (usw.)
Mag sein, dass dies auf den ersten Blick nur in seiner Komik zu erfassen ist und nicht gleichzeitig auch in seiner Tragik. Und doch ist in diesem Roman immer beides vorhanden. Erdachte knallharte Realität trifft auf gefühlte Realität. Knallhartes Leben trifft auf geträumte Wünsche, trifft auf Sehnsucht, Melancholie, Liebe, Traurigkeit. Witzig formulierte Passagen, die wie Fanfarenklänge daherkommen, sind ebenso vorhanden wie leise Töne, mit der Lyra gespielt. Einmal fragt die Liebe „leise, ob sie nun besser gehen solle, und mein Vater sagt, nein, das komme überhaupt nicht in Frage, nun dürfe sie erst recht nicht gehen, sonst würde es ja auf diese Weise enden mit ihm und Claudia, und dann wäre ja alles nur vollkommen lächerlich gewesen und nichts, was man sich später Arm in Arm zum hundertsten Mal erzählen konnte. Die Liebe hatte gefälligst zu bleiben.“ (Seite 90).
Am Ende gelingt die Sache mit der Liebe, wenn auch nicht mit Vater und Claudia. Aber das war ja auch nicht der Plan unseres Helden, nicht der Plan unseres Autors. Fakt ist, die Liebe gewinnt! Fakt ist, Vater, Mutter, Kind sind vereint. Das Leben kann also beginnen. „Die Traurigkeit würde später sagen, dass sie sich plötzlich wie das fünfte Rad am Wagen vorgekommen sei. Sie habe für so etwas durchaus ein Gespür. Aber geblieben ist sie trotzdem. Wo sollte ich denn hin? würde sie fragen und einen lange anschauen.“ (Seite 174).

Tilman Rammstedt „Morgen mehr“
Hanser Verlag 2016
ISBN: 978-3-446-25096-3
Gebunden, 224 Seiten | E-Book
Leseprobe

Tilman Rammstedt: "Morgen mehr". Im Rahmen der Lesereihe „Literatur in der Lounge - Literatur im Gespräch“ liest der Autor in Rendsburg
Nordkolleg Rendsburg, Lounge,
Am Gerhardshain 44, 24768 Rendsburg
Donnerstag, 16. Februar 2017, um 19:30 Uhr
Kurzvita


Abbildungsnachweis:
Header Tilman Rammstedt. Foto: Carolin Saage
Buchumschlag

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