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Michael Lüders: Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet

Das Eigentor der „Guten“. Wer wüsste das nicht – spätestens seit dem 9/11-2001 wird die Welt in zwei Lager geteilt. Die Guten und die Bösen. Wer die ersteren sind, das bestimmen die USA, Großbritannien und die Staaten der EU, allen voran Deutschland, wer die Bösen sind ebenfalls. Damit die Welt endlich zur Ruhe und zu Wohlstand komme. Und wenn es sein muss, dann mit Gewalt. Krieg gegen den Terror?

So simpel und vereinfacht fangen mitunter Märchen an, doch wir leben in einer realen Welt der sozialen Trümmer, die zunehmend irreal erscheint. Das Erscheinungsbild ist erschütternd, lässt traumatisierte Bürger ängstlich den Kopf schütteln ob der ungeheuren Flüchtlingsströme, ob des Blutvergießens im Konflikt Israel/Palästina oder durch die Gräueltaten des „Islameschen Staates“. Millionen ergreifen die Flucht.

Warum? Die einstige Kolonialisierung und heutige Globalisierung, die imperialistische Kriegspolitik der USA und seiner NATO-Verbündeten, die finanzielle und materielle Unterstützung von Terrormilizen wie „al-Qaida“ und „Islamischer Staat (IS)“, die verhängten Embargos sowie unser krankes Banken- und Finanzsystem (Stichworte: Troika, IWF, Austeritätspolitik, Rettungsschirme für Banken, Griechenland) verursachen und hinterlassen Blutspuren, Not und Leid. Ein weltweiter Konflikt zwischen Gut und Böse?

Wer sich von dieser verdummenden Formel nicht vereinnahmen lassen will, der lese das sehr tiefgründig recherchierte Buch mit dem Titel „Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet“ von Michael Lüders. Er war viele Jahre Nahost-Korrespondent der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT. Er kennt alle Länder der Region, hat sie persönlich bereist. Ein Kenner des Orients.

Die Region von Algerien bis Pakistan, in diesem Krisenbogen mit unzähligen Interessengruppen und Konfliktherden, mit Bildern der Religiosität und der Gewalt, setzt der mutige Autor ein hochkompliziertes Puzzlespiel zu einem einzigartigen Mosaik zusammen. Endlich, möchte man sagen. Er tut das als freischaffender Journalist und nimmt damit den großen und kleinen bürgerlichen Medien, diesem unendlichen Schweigekartell, wenn es um tiefe gesellschaftliche Ursachen geht, die Arbeit ab.

Michael Lüders holt weit aus. Er bringt die Ingangsetzung der sogenannten Verteidigung westlicher Werte mit dem Sturz Mossadegh 1953 im Iran zur Sprache, der sich als demokratisch gewählter Premierminister mit der Nationalen Front gegen die britische Vorherrschaft stemmte und deshalb gestürzt und ins Gefängnis geworfen wurde. Der Autor analysiert im Einzelnen die vom Westen inszenierten Kriege gegen Irak, Libyen, Syrien sowie gegen die Gewaltpolitik im Konflikt Israels/Palästina.

altDie mit einer Fülle von Fakten verdichtete Argumentation und Aufhellung der Machenschaften der westlichen Elite geht mit klaren Aussagen zu den vorgegebenen und tatsächlichen Ursachen der Verwüstungen und terroristischen Bedrohungen einher. So gehe es darum, „geopolitische Widersacher auszuschalten, zu schwächen oder kleinzuhalten“. Auf Seite 47 zitiert der Autor Präsident Bush Senior, der sagte – und damit die Carter-Doktrin von 1980 bestätigt – der Zugang zum Öl des Persischen Golfs und die Sicherheit befreundeter Schlüsselstaaten seien entscheidend für die nationale Sicherheit der USA. Zu den Ursachen gehören vor allem die Gewinne der US-Rüstungskonzerne. Man habe die Aussicht auf einen „neuen 30-jährigen Krieg“, so Leon Panetta, ehemaliger CIA-Chef und Verteidigungsminister von 2011 bis 2013. Die amerikanische Politik folge nicht einer hegemonialen Vernunft, die auf ein Gleichgewicht der Kräfte abziele, sondern darauf, „die politische und wirtschaftliche Vorherrschaft der USA weltweit zu sichern“.
Gründlich analysiert der Autor die Ursachen der Entstehung des IS. Wie der Überfall auf Irak zeigt, hat sich in seinem Gefolge der Islamische Staat - sozusagen gefördert durch die Aggression der USA - erst gebildet. Den Angriffskrieg der USA gegen Irak im Jahre 2003 hatte u.a. Anarchie, Chaos, die Auflösung der irakischen Armee und das Verbot der Baath-Partei als „krimineller Vereinigung“ zur Folge. Das war sozusagen die Geburtsstunde des sunnitischen Widerstandes gegen die amerikanische Besatzung und die neuen militärischen Machthaber, das war der Grundstein für Terror und Gewalt. Während vor der Zerstörung des Irak, so lesen wir auf Seite 53, die religiöse Zugehörigkeit zu Sunniten oder Schiiten „nur eine untergeordnete Rolle“ spielten, erwuchsen später daraus Al-Qaida und 2006 die Vorläuferorganisation des Islamischen Staates. Die Brutalität der „Dschhad“-Miliz „Islamischer Staat“, so der Autor, habe ihre ideologischen Wurzeln in Saudi-Arabien, ebenso die heutige Konfrontation zwischen Sunniten und Schiiten. Die erzkonservative Strömung des Islam, der „Wahhabismus“, sei dort Staatsreligion. Demnach seien vor allem alle Muslime ungläubig. Der rechte Glaube bemesse sich im bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Herrscher, dem Kalifat oder König. Unzweideutig warnt Michael Lüders: Der Islamische Staat sei mittelfristig „weniger eine militärische als vielmehr eine ideologische Gefahr“.

Was hinter den Kulissen der Weltbühne passiert, wird von den Mächtigen durch vielerlei verschiedene Bühnenvorhänge massiv verdeckt, verschleiert. Michael Lüders stellt Zusammenhänge her, das, was unüblich geworden ist, um die imperiale Herrschaft nicht zu gefährden. So verweist er auf die ideologischen Hintergründe, mit denen die westliche Elite ihr Vorherrschaftsstreben in Nahost und überall in der Welt, bemänteln. Wie soll man zum Beispiel „wertorientiertes“ Handeln, so die Behauptung der westlichen Politik, verstehen, wenn sie „im Nahen und Mittleren Osten“ vielfach „verbrannte Erde“ hinterlässt? Verpackt in der dreisten und heuchlerischen Lüge, sie betrieben „ein weltweit angelegtes Demokratisierungs- und Wohlfahrtsprogramm“. Auf Seite 114 heißt es dazu, wer eine feudale Ordnung zwangsweise demokratisieren will, schafft „naturgesetzlich ein Machtvakuum, das anschließend von gewalttätigen Gruppen gefüllt wird, ob mit oder ohne Islam im Wappen“. Zum Grundmuster westlicher Politik gehöre vor allem die „Dämonisierung des Gegners im Vorfeld“ der eigentlichen kriegerischen Enthauptung.

Nicht unbedingt förderlich zum tieferen Verständnis der Interventionen der westlichen Welt sind die bedauernden Worte des Autors von Fehlern und Dummheiten, davon, man könne nicht über seinen Schatten springen, von fehlendem Pragmatismus der USA. Kann man allerdings von einem Imperialismus, der selbst tief in der Krise steckt, anderes erwarten? Lüders fügt allerdings mutig hinzu: „Vermutlich wird dieser fehlende Pragmatismus am Ende den Niedergang der Weltmacht noch beschleunigen.“

Welche Lösungen bietet der Autor an? Das sei schwierig zu beantworten, meint ehrlich der Autor. Immerhin sei die Religion, der Islam, zum Sammelbecken für die Unzufriedenen geworden. Die Tragik der arabischen Welt liege in ihrer Zerrissenheit, „der Gleichzeitigkeit von Rückständigkeit und Moderne“. Es herrsche Mangel an demokratischen Erfahrungen, es fehle das Verständnis für soziale Fragen. Konfessionalismus und Stammesdenken würden häufig einhergehen mit Intoleranz und Gewaltbereitschaft. In der Regel seien die Mittelschichten zu schwach für Veränderungen. Wer Al-Qaida oder den IS, den fanatischen Wahhabismus erfolgreich bekämpfen will, so Lüders auf Seite 86, der müsse an die Wurzel gehen, an das saudische Regime, aber wer wolle sich schon mit dem weltweit größten Erdölproduzenten anlegen? Auch seien die Menschen im Orient grundsätzlich viel religiöser eingestellt und leben in der arabisch-islamischen Welt, in der feudalstaatliche Elemente dominieren. Säkulare Bewegungen könnten sich erst in einer Industriegesellschaft durchsetzen.

Auf den letzten beiden Seiten seines aufklärerischen und faktenreichen Buchs plädiert Michael Lüders dafür, „die Welt nicht länger in ein „wir“ und „die“ zu unterscheiden. „Die großen Bruchlinien verlaufen nicht zwischen Staaten, Religionen oder Ideologien. Sondern dort, wo es um die Verteilung von Ressourcen geht. Einen ´Kampf der Kulturen´ gibt es nicht. Wohl aber einen Kampf um die Fleischtöpfe.“ Er schreibt von kleinen Schritten zur Veränderung, von Demut und auch davon, die Kriegsakteure, „Verderber und Schreibtischtäter“ - wenn sie vorläufig auch nur aus Kostengründen mit Drohnen drohen - vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu stellen. Wie wär´s auch damit: Stopp aller Waffenlieferungen in diese Region. Und: Die Souveränität aller Staaten achten – entsprechend dem Völkerrecht.

Wollten wir bei der eingangs genannten Märchenstunde bleiben, so müssten wir konstatieren: Sie schießen Eigentore, die angeblich Guten. Sie werden dies aber nicht akzeptieren wollen. Da hilft nur eins: Abpfiff des stets Trümmer hinterlassenden Spiels.

Wünschenswert wäre in einer neuen Auflage dieses Buches ein Anhang mit Begriffserklärungen wie u.a. Wahhabismus, Sunniten, Schiiten, Muslimbrüder, Kalifat, die im Text zwar erwähnt und teilweise erklärt werden, aber ein neuerliches Nachschlagen erschweren. Danke Michael Lüders für diese „aufmüpfige“ Lektüre.

Michael Lüders: „Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet“
Taschenbuch: 175 Seiten, Verlag: C.H.Beck; Auflage: 8 (31. Juli 2015), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3406677495, ISBN-13: 978-3406677496.

Leseprobe
YouTube-Video: Wer den Wind sät… Was westliche Politik im Orient anrichtet; Michael Lüders; SWR Tele-Akademie

Erstveröffentlichung dieser Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung.
Hinweis: Die Inhalte der "Kolumnet" geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.


Abbildungsnachweis: © C.H.Beck
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