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Kate Hamer: Das Mädchen, das rückwärts ging

Trotz ihrer übermäßigen Vorsicht kann Beth das Verschwinden von Carmel nicht verhindern.
Carmel ist acht als sie bei einem Märchenfestival entführt wird: Plötzlicher, dichter Nebel hat sie von ihrer Mutter getrennt. Ein Unbekannter behauptet ihr Großvater zu sein und dass ihre Mutter einen schlimmen Unfall hatte. Carmel geht mit ihm.

altKate Hamer erzählt in ihrem Roman „Das Mädchen, das rückwärts ging“ die Geschichte von dieser Entführung und von den Jahren danach in schnellen Perspektivwechseln zwischen Mutter und Tochter. Das ist ein spannender Kniff: Beide Charaktere erzählen in jeweils eigenem Ton, beide sind sehr vielschichtig. Und der Leser erfährt – vor allem am Anfang – wie unterschiedlich das Erleben der gleichen Situation sein kann.
Beth gerät in einen Strudel aus Panik, Ohnmacht, Verzweiflung, Hoffen und irgendwie am Leben bleiben. Ihr Kind ist weg. Plötzlich weg. Und keine Spur ist zu finden. Es war immer ihre große Angst, ihr einziges Kind zu verlieren. Hat sie es mit dieser Angst heraufbeschworen? Hat sie nicht genug aufgepasst? Sie kreist in Selbstvorwürfen. Immerhin erfährt sie Unterstützung von ihrem Ex-Mann, von Freunden und sogar von ihren Eltern.
Carmel kommt nach Amerika, zu einem fanatischen Wanderprediger, der in ihr eine besondere Gabe sieht, und zu seiner Familie. Er sagt, er sei ihr Großvater. Er erzählt ihr schließlich, dass ihre Mutter gestorben sei, ihr Vater sie nicht wolle. Er hatte schon einmal ein Mädchen wie Carmel. Was mit ihr geschehen ist, bleibt im Dunklen der Phantasie.

Das Lesen dieser Geschichte ist manchmal nur schwer zu ertragen. Da erleichtern die kleinen Portionen der Kapitel das Dranbleiben. Die Erzählstrategie ist es aber nicht allein, die den Leser durch die Geschichte zieht. Es ist vor allem die Geschichte selbst, die so einzigartig ist, dass sie einfach passieren könnte. Das ist das besonders Bedrückende: Es gibt gegen solche Geschehnisse keine Versicherung. Und hier wirkt nichts mit Zwang konstruiert.
Leider bleiben außer Mutter und Tochter die anderen – sicher auch interessanten, sehr spannend angelegten – Charaktere recht flach. Die Motivation des Entführers beispielweise wird zwar deutlich, die Tiefen seines Warum und Weshalb, eine detaillierte Zeichnung seines Charakters bleibt leider aus.
Die Andeutungen, dass Carmel tatsächlich eine heilende Kraft hat, sind dagegen recht eindeutig und bekommen vor allem gegen Ende des Romans immer mehr Präsenz. Hier gerät die Erzählung bisweilen etwas esoterisch. Das muss man mögen – oder es stört ein wenig.
„Das Mädchen, das rückwärts ging“ ist nicht so sehr eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern, wie mancherlei Texte über den Roman suggerieren. Es geht hier vielmehr – glücklicherweise – um sehr besondere Verhältnisse. Der Roman ist vielmehr eine Auseinandersetzung damit, die eigene Identität zu erhalten. Vor allem für die beiden Hauptfiguren.
So hält (sich) Carmel zum Beispiel an ihrem Namen fest, wiederholt ihn für sich und für andere als ein Mantra, das sie in ihrer Persönlichkeit bestehen lässt. Sie sagt ihn sich selbst vor, schreibt ihn an jeden Ort, an den sie kommt – an Wände, in Holz, in Sand.

Diesen Roman mit seiner Geschichte muss man aushalten. Genuss ist vielleicht etwas anderes. Aber er ist bereichernd.

Kate Hamer: Das Mädchen, das rückwärts ging
Verlag: Arche
Broschur: 416 Seiten
ISBN: 978-3-71602724-0.

Leseprobe


Abbildungsnachweis:
Header: Kate Hamer. Foto ©: Mei Williams
Buchumschlag

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