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Daniil Granin: „Mein Leutnant“

Zeit zu leben.
„...es gibt manchmal Momente im Leben, da man nur das Gute sieht. Und muss man sich dann zurückhalten?“


Das schrieb einer meiner Lieblingsschriftsteller in seinem Buch „Garten der Steine“, erschienen im Verlag Volk und Welt 1973 auf Seite 134. Daniil Granin. Ich las u.a. von ihm „Das Gemälde“. Und soeben sein neuestes: „Mein Leutnant“. Zum wiederholten Male ist man überrascht von seiner inneren Wahrhaftigkeit, seiner Liebe zum Leben, von seinem Bekenntnis zur Größe der menschlichen Seele, von seiner berechtigten Kritik an gesellschaftlichen Missständen in der Sowjetunion, an Dummheit und Missachtung des einzelnen Menschen, an der einseitigen Überhöhung einer Idee und der Unterdrückung des Privaten.

altIm Juli 1941 trat er – ebenso wie Tausende und aber Tausende Sowjetbürger - aus dem Kreis eines „normalen Lebens“ in den Teufelskreis der Menschen-Vernichtung durch faschistische deutsche Bestien. Als Jugendlicher, der noch nicht einmal die Liebe richtig kennengelernt hatte. Als Freiwilliger in der Volkswehr, nicht aus Ruhmsucht, Patriotismus, Abenteuerlust, er wollte nur den Faschisten eine Lektion erteilen. (S. 28) Was ihm und den Tausenden im Blockadering um Leningrad Kämpfenden widerfuhr, war eine erbarmungslose und bittere Offenbarung: Du musst töten, sonst bist du selber dran. Du musst hassen. Du musst ans Vaterland glauben. Du musst dich damit abfinden, dass es ein Glück wäre, bei einem feindlichen Schuss sofort tot zu sein. Du hast mit deinem Leib Leningrad zu verteidigen, mit einer Gasmaske und einem Molotow-Cocktail „gegen Maschinenpistolen und Panzer?“ (S. 23) Das Leben wurde brutal verkürzt, darauf war man gefasst.

Als 20-jähriger lernt er gezwungenermaßen den Hunger kennen, Verletzungen, den Tod der Kameraden, Erfrierungen, ausgebrannte Häuser, tote Wälder, Leid und Elend. Und doch schimmern durch die 329-seitige Lektüre – neben den zahlreichen Episoden der blutigen Kämpfe um Leningrad – auch wunderbare Naturbeschreibungen, die im harten Kontrast zum erbitterten und todbringenden Geschehen stehen. So lesen wir auf den Seiten 88/89 folgende Zeilen des Schriftstellers Granin: „In der Luft lag das Gezwitscher von Kugeln und Granaten, inmitten des Geruchs nach Gräsern und warmer Erde flog der Tod umher. (…) Sobald der Beschuss aufhörte, kehrte die Schönheit des warmen Septembertages zurück.“ Ebensolche offenen Augen hat der Autor gegenüber seinen Mitkämpfern an der Front, die er sehr warmherzig charakterisiert und so seine tiefe Menschlichkeit selbst in schlimmsten Situationen bewahrt.

Im Namen der Liebe zum Menschen sind auch die scharfen Attacken des heute 96-jährigen Autors gegen die Legende zu erklären, vom bevorstehenden Überfall nichts geahnt zu haben, gegen grobschlächtige Lügen „im Namen der Sache“ über anfängliche angebliche Fronterfolge der Roten Armee, gegen falsche Einschätzungen der Lage und hochgejubeltem Ruhm durch Politiker und Zeitungen. Vor allem gegen die ungenügende Ausrüstung der Kämpfenden mit Waffen und Material. Auf Seite 186 führt Granin Erkenntnisse von Historikern an, die belegen, „dass die Rote Armee zu Beginn des Krieges dreimal mehr Panzer und zweieinhalb mehr Flugzeuge hatte als die Deutschen. Die Rote Armee bestand aus 180 Divisionen. Damit hätte man den Deutschen eins auf die Fresse geben und sie bis nach Berlin zurückjagen können, ohne auf die zweite Front zu warten“.

Granin nimmt kein Blatt vor den Mund, um auch sich ins kritische Licht zu stellen. Wenn er zum Beispiel ganz offen gesteht, mitunter ein Weiberheld, Säufer und unzuverlässiger Mann und Vater gewesen zu sein.

Herzbewegend die Liebe des Autors zu seiner Frau Rimma, die er unmittelbar vor dem Überfall der Faschisten geheiratet hatte. Sie ist es, die ihm, der während des Krieges stilistisch sozusagen in eine zweite Haut geschlüpft war, in seinen „Leutnant“, der an den Erfolg glauben musste und das eigentliche Leben Zug um Zug abgestreift hatte, sie ist es, die ihn versucht, auf den Boden der Wirklichkeit zurückzuholen. Sie sagt ihm, sie beide hätten nach dem Krieg noch nicht wirklich angefangen zu leben. Das wirkliche Leben müsse man verschieben. Aber es lässt „sich nicht verschieben“. Alles gehe erst morgen in Erfüllung. „Nur Geduld, Geduld...“

„Mein Leutnant“ ist kein Kriegsroman im herkömmlichen Sinne, er schmückt sich nicht mit dramatisch errungenen Erfolgen. Im Gegenteil: Er spricht eine unverblümte Sprache, direkt und knallhart. Er stellt heraus, dass der ungerechte Krieg der Faschisten den Großen Vaterländischen Krieg herausgefordert hat. Ab Seite 316 berichtet der Autor von einer Begegnung mit Gustav, die nach Kriegsende stattfand. Der Wehrmachtsoffizier stand dem Rotarmisten an der Front um Leningrad gegenüber. Auf die Frage des Deutschen, warum es gelungen war, Europa zu erobern, Russland aber nicht, antwortete Granin zurückhaltend: „Wahrscheinlich, weil wir einen gerechten Krieg geführt haben.“ Gustav stimmte dem höflich zu, darüber hatte er nie nachgedacht. (S. 320) Granin nimmt es hin. Hass hegt er keinen mehr. Nicht ohne Grund hat er auch Abschied von seinem Leutnant genommen, von seinem zweiten Ich, von dessen Träumen und Vorwürfen.

Unausgesprochen bleibt die Frage in der Schwebe: Heute stehen härtere globale Auseinandersetzungen ins Haus, die die gesamte Menschheit gefährden könnten. Und die Herausforderung: Der Frieden darf nicht einem „Wunder“ überlassen werden! Die Verantwortung für den Erhalt des Planeten und des Menschengeschlechts hat einen neuen riesigen Radius erhalten. Wer dabei nur an Wunder glaubt, gerät in den Strudel von Unwägbarkeiten, von unkontrollierten imperialen Ansprüchen und Machenschaften. Im Vorwort schreibt Helmut Schmidt, der ebenfalls an der Leningrader Front auf Seiten der Faschisten gekämpft hatte, es sei ein Geschenk, sich heute als Freunde zu treffen.

Der lebenserfahrene 96-jährige Daniil Granin wird wohl innerlich seinen Zweifel haben, dass der Sieg der Sowjetunion und der Antihitlerkoalition über den Faschismus nur ein Geschenk gewesen sein soll. Er, der große Humanist und Verehrer des Schönen und des Guten, wird eher diesem Gedanken zustimmen: Die Zeit zu einem richtigen friedvollen Leben für alle Erdenbewohner ist längst überfällig. In einem Fernseh-Interview sagte Daniil Granin: „Die Lehrstunden, die uns Geschichte gibt, werden nicht so gut aufgenommen. Die lehrt uns eigentlich gar nichts. Alles wiederholt sich. Wir sehen es heute wieder - diese Schießereien, wieder sterben Menschen, wieder Soldaten, wieder dieser Schmutz des Krieges, denn der Krieg ist immer schmutzig.“ (…) Der Mensch bestehe nicht daraus, „was er macht, diese Wagen und Kanonen, er besteht aus höheren Werten. Wir sind wohl die Fortsetzung des Menschen, der in seiner Höhle Wände mit Tieren bemalt hat. Warum hat er das gemacht? Das kann niemand beantworten. Das sind diese Bedürfnisse nach Glück, um das Wunder des Lebens zu verstehen.“ (1)

Zustimmen würde Granin wohl auch Fidel Castro, der einst sagte: „Ich muss Marx also Recht geben, wenn er schreibt, dass die Menschheit ihre prähistorische Phase erst verlassen haben wird, wenn ein wirklich gerechtes soziales Regime etabliert werden konnte.“ (siehe „junge welt“ vom 5./6./7. Januar 2004)

Das Wunderbare am Menschengeschlecht stets gesehen, das Gute und die Hoffnung niemals aus den Augen verloren zu haben, dafür gerade zu stehen, das macht die Größe dieses Menschen und Schriftstellers Daniil Granin aus. Herzlichen Dank für Ihr außergewöhnliches Buch, für Ihre eindeutige Botschaft. (PK)

Der Autor: Daniil Granin, geboren 1919 in Wolyn, studierte Elektrotechnik, arbeitete als Ingenieur, meldete sich 1941 als Kriegsfreiwilliger. Ab 1949 veröffentlichte er zahlreiche Romane. Am 27. Januar 2014 hielt er eine Rede vor dem Deutschen Bundestag zum Gedenken an die Opfer der Leningrader Blockade.

Daniil Granin: „Mein Leutnant“, Vorwort von Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt,
gebundene Ausgabe: 329 Seiten,
Aufbau Verlag; Auflage: 2 (1. April 2015), Sprache: Deutsch,
ISBN-10: 3351035918, ISBN-13: 978-3351035914.
Aus dem Russischen: Jekatherina Lebedewa.


(1) Interview mit Danill Granin im MDR


Abbildungsnachweis:
Header: 1983 im Haus der Sowjetischen Wissenschaft und Kultur in der Friedrichstraße in Berlin. Daniil Granin zu Gast (zweiter von links, sitzend). Besucher stehen Schlange, um ein Autogramm zu ergattern. Im Hintergrund in Uniform der NVA: Oberstleutnant Harry Popow, Mitarbeiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“. Foto: Walter Jeromin.
Buchumschlag

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