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Michael Cunningham

Die Schneekönigin“ ist das wohl komplexeste und ausgefeiltste Märchen von Hans Christian Andersen. Es erzählt von Kay und Gerda, den Nachbarskindern, den Gefährten – bis Kay ein Eissplitter, ein Stück des vom Teufel geschaffenen Spiegels, bis mitten ins Herz trifft. Die Schneekönigin kann gelesen werden als Kunstmärchen, als Biedermeiermärchen, als Ablösungs- und Pubertätsgeschichte.

Der US-amerikanische Autor Michael Cunnigham bezieht seinen neuen Roman auf eben dieses Märchen: Er übernimmt den Titel. Er stellt dem Roman als Zitat die Beschreibung der Säle der Schneekönigin voran. Einer der Protagonisten weht zu Beginn der Erzählung eine Schneeflocke oder ein Eissplitter ins Auge – und bleibt dort bis zum Ende des Romans.

altCunningham erzählt von den Brüdern Tyler und Barrett, die in einer WG wohnen – lange Zeit zusammen mit Beth, Tylers Gefährtin, seiner Verlobten, seiner Frau. In drei Episoden erzählt Cunningham, zu drei markierten Zeiten: Im November 2004, Silvester 2005 und im November 2008.

Die Ausgangskonstellation ist, dass Tyler versucht das Hochzeitslied zu schreiben für seine sterbende Geliebte Beth. Es soll das Lied sein, das all seine Liebe, all die Trauer, alle Wunder, allen Schmerz, alle Magie in sich trägt. Es soll ein Lied sein wie von Orpheus, es soll so gut sein, dass es vielleicht sogar Beth zurück ins Leben führen kann. Helfen dabei soll ihm – Kokain. Zur gleichen Zeit wurde Barrett wieder einmal unvermittelt von einem Liebhaber verlassen, sieht „ein himmlisches Licht“ und versucht das Zeichen zu deuten. Diese Konstellation verschiebt sich, wird jedes Mal zu einer recht unerwarteten neuen.

Wie weit nun reicht die Adaption der Schneekönigin? Tyler bekommt den Splitter ins Auge – ist er eine Entsprechung zu Kay? Irgendwie schon. Irgendwie flieht er seinem Leben, durch Kokain, durch Heroin. Und meint damit der Kunst nahe zu kommen. Wer oder was ist die Schneekönigin?

Das Kokain? Oh, doch nicht so platt! Liz, eine Freundin der Familie? Oder Beth? Oder der Krebs?
Ist Beth vielleicht doch auch eine Entsprechung zu Kay? Beth, die immer weiter gezogen wird in ein Reich der Leblosigkeit? Man kann das so interpretieren. Man kann New York, in dem der Roman spielt, interpretieren als die Säle der Schneekönigin; als der Ort, an dem „die Nordlichter flammten“.

Kay wird gerettet durch die Liebe, durch die Beharrlichkeit von Gerda, durch ihre heißen Tränen schmilzt das Eis in seinem Herzen. Um Tyler weint niemand, um ihn kämpft niemand mit dieser Beharrlichkeit. In seinem Auge bleibt das Eis. Um Beth kämpfen Tyler und Barrett für einige Zeit sehr beharrlich...

Nun, der große Titel lässt den Leser den Roman vielleicht drehen wie ein Kaleidoskop, immer neue Konstellationen der Lesart entdecken. Doch sie alle erscheinen doch immer recht konstruiert. Es ist darum kaum ein lustvolles Drehen und immer neu Entdecken. Die gewollte Verknüpfung zum Andersschen Märchen stört hier eher. Das feine Verweben klassischer Figuren und Geschichten wie in "Die Stunden" gelingt Cunningham bei der "Schneekönigin" nicht.

Trotzdem bleibt es ein kunstvoller Roman. Es lohnt jedoch, ihn zu lesen, denn er erzählt viel vom Hoffen, vom Scheitern, vom Streben im Leben. Nicht hoch aufgehängt, sondern ganz nah gearbeitet. Cunningham entwickelt vielschichtige Charaktere, zeigt beeindruckend ihre Facetten und deren oszillieren. Als Leser leb man für eine Zeit mit ihnen.

Michael Cunningham: Die Schneekönigin
Luchterhand Literaturverlag
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
ISBN: 978-3-630-87458-6 | E-Book ISBN: 978-3-641-15277-2


Abbildungsnachweis:
Header: Michael Cunningham. Foto: David Shankbone. Quelle: Wikipedia
Buchumschlag, Luchterhand Literaturverlag.

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