Lene hört man gern zu. Obwohl man doch liest. Und das ist die große Kunst, die Dagmar Seiferts „Friedensnacht“ so lesenswert macht!
Die 16-jährige Lene ist die Erzählerin der Novelle – sie erzählt in reinstem hamburgischen Hochdeutsch wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Sie zitiert Freunde, ihren Bruder und die ungeliebte Stiefmutter. Dabei trifft sie offenbar den Ton sehr genau: Die Charaktere schärfen sich vor allem durch ihre Sprache. Der „plietsche“, klare Johnny Behrens, der Arbeiterjunge, der Dank großer Unterstützung aufs Gymnasium durfte – man meint ihn sofort zu kennen. Auch wenn sie nicht beschrieben sind, der Junge hat Ecken und Kanten. Die Figuren haben Tiefe, die auch hinter einem kurzen Auftritt spürbar ist.
Die Erzählung spielt vor hundert Jahren. Sie beschreibt aus der sehr persönlichen Sicht einer jungen Blankeneser Offizierstochter Ereignisse und Stimmungen um das Weihnachten 1914 – und jenen legendären Heiligabend, bei dem Deutsche und Engländer in Flandern ihre Schützengräben verlassen und gemeinsam Weihnachten gefeiert haben. Dessen Beschreibung durch Lenes Bruder Harro ist der einzige Wehrmutstropfen des Bändchens: Sie ist leider nicht so stark, wie Rest der Erzählung. Hier ist der Ton Harros nicht so klar der Seine, die Bilder haben nicht die Kraft, die man die gut 70 Seiten vorher genossen hat.
An einer früheren Stelle hat Harro sehr klar die unerträgliche Situation des Grabenkrieges und des eisigen schlechten Wetters beschrieben. Aus dieser Situation heraus erzählt der psychisch eigentlich schon zerstörte junge Mann von dem Wunder, das er erlebt hat. Er beschreibt, wie sein eigener Hass sich auflöst und Feinde – für einige Tage – zu Freunden werden. Die Situation ist plastisch beschrieben. Doch fehlen die individuellen Töne der Figur, die besonderen, leichten Formulierungen, die die Novelle sonst prägen.
Lene erzählt aus ihrem Leben: Davon, dass sie selbst den Haushalt führen muss. Von ihrer Freundin, die sich mit einem Briten verlobt hat. Von Johnny Behrens. Von ihrem Stolz auf Vater und Bruder. Von den Schwierigkeiten mit der Stiefmutter, die sich als unverstandene Künstlerin fühlt.
Und die die Familie zu zerbrechen droht, weshalb Lene „sich für das Vaterland opfert“. En passant erzählt sie dabei vom Krieg, von (falschen) Vorstellungen. Das Große mit zu erzählen am kleinen konkreten Ereignis, das auch noch einen ganz anderen Fokus hat – hier zeigt sich, wie gut das gelingen kann.
Dagmar Seifert schafft in dem kleinen Bändchen erstaunliche Verbindungen: Die Erzählung ist leicht und heiter. Zugleich führt sie die Simplizität vor von dem, was man Propaganda nennen kann – und wie leicht man ihr erliegt. So erzählt Lene Johnny: „Wir sind von den Franzosen und von den Russen angegriffen worden, bevor überhaupt der Krieg erklärt war! Sie haben versucht, Cholerabakterien in einen Brunnen zu werfen, irgendwo in Lothringen. Und überall sind Spione.“
Unweigerlich denkt man an heutige Berichte: Wer hat angefangen? Wer ist der Feind? Misstrauen gegen schwarz-weiß dargestellte und plötzliche Ereignisse klingt an.
Zudem gelingt Dagmar Seifert der Balanceakt zwischen Komik und Ernst: Wenn sie mit gebührendem Augenzwinkern von einem eskalierenden patriotischen Abend schreibt – in Lenes Worten „und da gab es vor lauter Patriotismus eine Keilerei. Erst haben sie die Wacht am Rhein gesungen und dann den Geschäftsführer und das Mobiliar zusammengedroschen.“ klingt das noch heiter an. Die Beschreibung des Krieges durch Lenes Bruder Harro greift mit harter Faust in den Magen. So sieht der Leser, was aus naivem, zu belächelndem Chauvinismus erwachsen kann.
„Friedensnacht“ ist eine launige Erzählung, in deren Zwischentönen die Stimmung einer ganze Gesellschaft anklingt.
Dagmar Seifert – Friedensnacht
Gebundene Ausgabe: 96 Seiten
Verlag: Kadera
ISBN 978-3-944459-29-5
Abbildungsnachweis:
Header: Historische Postkarte. S.M.S. Schlachtkreuzer "Derfflinge", Blankenes passierend, um 1914
Buch-Cover
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