2019 hat die Hauptstadt Havanna ihren 500-jährigen Geburtstag gefeiert. 1519 gegründet, ist die strategisch gelegene Hafenstadt auch ein halbes Jahrtausend danach noch ein quirliges Zentrum im Nordwesten der Karibikinsel Kuba, prall gefüllt mit urbanem Trubel, buntem Leben und findiger Umtriebigkeit zwischen bröckelnden Häuserfassaden.
Touristengrüppchen ziehen durch die Gassen des historischen Zentrums, während alte, mittelalte und junge Havannianer*innen auf wackligen Holzstühlen vor ihren Häusern und Geschäften sitzen, einen Hund tätscheln und sich zum nachbarlichen Schwatz auf der Straße treffen.
Über der kopfsteingepflasterten Altstadt von „La Habana“ – wie die Hafenstadt auf Kubanisch heißt – schweben Saxophonsolos, die musikalisch-rhythmischen Musiktöne diverser Alte-Herren-Bands und der aufrüttelnd-spritzige Gesang folkloristisch tradierter Lieder klangvoll durch die Luft. Man dreht sich nach rechts und hört Gesangsfetzen von „Guántanamera“ zu sich herüberwehen. Schaut man nach vorn, vernimmt man melancholisch-inbrünstige Melodien wie aus „Hasta siempre“ – zu Deutsch: „Auf ewig!“... Das populäre Abschiedslied hat der kubanische Komponist Carlos Puebla 1965 für den marxistischen Revolutionär und von den Kubanern heißgeliebten „Comandante“ – den Kult-Argentinier Ernesto Che Guevara (1928-1967) – komponiert. Viele Jahrzehnte lang war Kuba im 20. Jahrhundert eine musikalische Weltmacht, und noch heute spielen Musik und Kultur eine entscheidende Rolle für Land und Leute. Die Inbrunst, mit der die Menschen hier singen, tanzen und musizieren, hat etwas Selbstverständliches und zugleich sehr Menschliches.
Bei jeder Gelegenheit mischen sich lautstarke Chorstimmen und das rhythmische Gerassel der Shékere mit der aus der Rumba, dem Mambo, Son, Danzón und Latin-Jazz sowie vielen anderen Tanzstilen nach Ende des 2. Weltkriegs entstandenen Salsa-Musik. Wörtlich übersetzt heißt dieser allerorts praktizierte Tanz übrigens schlicht und ergreifend „Soße“ und bezeichnet eine Verbindung afrokaribischer und europäischer Musik und Tanzstile.
Der Schlüsselbegriff der „Salsa“ – als „Soße“ verstanden – weist symbolisch auf eine einleuchtende Erklärung für das Geheimrezept der kubanischen Kultur hin. Und damit sind nicht nur die „fließenden“ Bewegungen des Paartanzes gemeint. Vielmehr dominiert seit jeher im Inselstaat die transkulturelle Mischung aller möglichen kulturellen und religiösen Einflüsse, diversen Kunststile und Kulturströmungen, ethnischen Ursprünge und ästhetischen Ausdrucksmittel. Hybridität ist hier Trumpf.
Die Kubaner sind das durchmischte Produkt der fünf Jahrhunderte alten Vermengung von Spaniern und Indigenen, Weißen und Schwarzen, Reichen und Armen, Westlern und Ostlern, Amerikanern und Afrikanern, der Karibik und dem Atlantik. Havanna, die kubanische Hauptstadt, in der heute 2,1 Millionen Einwohner leben, ist 1519 von den Spaniern gegründet worden, nachdem Christoph Kolumbus Kuba – als die neben „Hispaniola“ (heute: Haiti und die Dominikanische Republik) größte Insel der Antillen – bereits auf seiner ersten Reise 1492 entdeckt hatte. Er ging nahe der im südöstlichen Teil der Insel gelegenen Stadt Holguín an Land und meinte, es sei das wundervollste Land, das der Mensch je gesehen habe. Freilich dachte er damals irrtümlich, er sei in Asien gelandet, und wähnte sich vor der Küste Chinas oder in Japan. Doch weit gefehlt, wie sein fast gleichaltriger Landsmann Amerigo Vespucci – nach dem die „Neue Welt“ bzw. der von Kolumbus entdeckte neue Kontinent „Amerika“ benannt worden ist – schon damals aufklärte. Nachdem 1519 der spanische Konquistador Diego Velázquez de Cuéllar Havannas großstädtischen Grundstein legte, gilt Kuba im zeitlichen Gleichschritt mit dem lateinamerikanischen Kontinent als überwiegend hispanophon-kolonial geprägt, obwohl Havanna im 18. Jahrhundert auch unter britische Herrschaft fiel.
Im dritten Jahrtausend feiert die Stadt nun ihren 500-jährigen Geburtstag – und Vater Staat hat sie herausgeputzt. Seit 1982 gehört der historische Stadtkern zum UNESCO-Weltkulturerbe und wurde systematisch saniert. Für den Jahrhundertgeburtstag wirkt Havannas morbider Altstadt-Charme soweit aufpoliert, dass der städtische Denkmalschutz auf strategisch platzierten Plakaten in der Innenstadt zu Recht mit der Etikette der „Schönen Stadt“ für Havanna – der „Ciudad Bella La Habana“ – wirbt. Insbesondere seit den 1990-er Jahren gewinnt der Tourismus wirtschaftlich an Bedeutung, und die Besucherströme sind ihrerseits vor allem willkommen, um den maroden Staatshaushalt aufzufüllen. Die Touristen kommen gerne – jährlich 4 Millionen, die sich unter die rund 12,5 Millionen Kubaner mischen: Kuba gilt als ein sicheres, kulturell vielfältiges und auf Grund seines tropischen Savannenklimas als fast ganzjährig sonniges Touristenziel, kurz – als eine Perle der Karibik. Und das ist es auch.
In Havanna Stadt gibt es ein Viertel, das den – den Kubanern auf Grund ihrer Einwanderung nach Havanna seit Ende des 19. Jahrhunderts sowie ihrer kommunistischen Ausrichtung seit Castros Revolution nahestehenden – Chinesen vorbehalten ist: Chinatown in Havanna. Auf Kubanisch heißt das historische Viertel „Barrio Chino“. Es gibt aber auch Hinweise, die nach Europa führen, und zwar nicht nur nach Spanien. Im Herzen Havannas finden sich etwa Spuren von Wolfgang Amadeus Mozart insofern wieder, dass die Stadt seit 2009 in Kooperation mit dem Salzburger Mozarteum eine Musikschule im Altstadtkern unterhält, die den Namen des weltberühmten österreichischen Musik- und Opernkomponisten trägt.
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Karibikflair im 500. Jubiläumsjahr 2019 im UNESCO-Weltkulturerbe der Altstadt von Havanna (Video, 0:55)Ist schon die Musik Kubas aus dem Inselstaat und seinem Alltagsleben nicht wegzudenken, so ist das körperliche Können der Kubaner auf dem Gebiet des zeitgenössischen Tanzes nicht nur unmittelbar mitreißend, sondern auf dem internationalen Kreativsektor höchst bekannt und begehrt. Ihr Erfolg gründet auf einer exzellenten Ausbildung – etwa an der Nationalen Ballettschule Havannas, der „Escuela Nacional de Ballet“, deren Absolventen zur Weltklasse gehören. Die legendäre, stets gut besuchte und durch ihre Professionalität überzeugende Show des verstaatlichten Cabarets Tropicana in Havanna zeigt vorrangig junge Mulatt*innen (oder „Mestizen“) auf der Bühne, die den Takt im Blut haben und sich in Rekordzeiten hinter den Kulissen in immer neue Kostümierungen schwingen und unentwegt verwandelt auf die Bühne zurücktanzen. Den bunten Federschmuck tragen aber auch einige wenige weiße Tänzer*innen, obwohl eigentlich die Mehrheit der Kubaner – genau genommen 64,1 Prozent der kubanischen Bevölkerung – weißhäutig ist. Tatsächlich stellen die Mulatt*innen nur 26,6 Prozent der Einwohner dar, wobei die verbleibenden Kubaner Schwarze sind (9,3 Prozent). Doch auf den Brettern der landesweiten Tropicana Shows stehen vor allem die Farbigen im Rampenlicht, um ihre beeindruckenden, rasanten Tanzeinlagen zu präsentieren.
Einige der fulminanten choreographischen Szenen stellen symbolische Begebenheiten auf den ehemaligen Sklavenplantagen als Episoden der Befreiungsgeschichte aus der Kolonialzeit tänzerisch dar. Doch gleich darauf vermischen sich diese Erzählungen wieder mit Revuenummern, klassischen Ballettauftritten, Gesangseinlagen oder atemberaubender Akrobatik. Zum Ausklang der Show, die höchsten Ansprüchen genügt und visuellen Liebreiz versprüht, tanzen Vertreter aller Herren Länder aus dem Publikum mit einigen der professionellen Tänzer*innen gemeinsam auf der Bühne zu moderner Elektromusik. Dabei wird jedes einzelne im Publikum vertretene Land, dessen Stellvertreter*in aus dem Zuschauerraum ein Tänzchen auf dem Podium wagen möchte, während die anderen Gäste allmählich die Freilichtarena verlassen, separat mit dem Mikrophon aufgerufen und per eingeblendeter Nationalfahne auf einem Riesenmonitor begrüßt. Kuba gibt sich weltoffen. Dabei genießen es die Kubanerinnen und Kubaner nicht nur in der Tropicana Aufführung sichtlich, wenn sich die Touristen an ihrer Tanzfreude aktiv beteiligen, sich von ihnen auf die Bühne führen lassen und für ihre Kultur und Geschichte interessieren. Stolz, freundlich und extrem musikalisch genießen und feiern sie die Körperlichkeit als eine spielerisch-universelle Sprache der Verständigung und als menschliches, friedvolles Zeichen der Vitalität und Verbindung zwischen Völkern, Geschlechtern und Kulturen. Leben und leben lassen in Havanna.
Dennoch verhehlen die strahlend zur Schau getragene karibische Farbigkeit, Havannas träge Verschlafenheit und der offenkundig bescheidene Lebensstandard der Städter in keiner Gasse des 500 Jahre alten Ortskerns den – vor allem technischen – Rückstand, der das Land lahmlegt und viele Touristen unfreiwillig in den Offline-Modus schaltet. E-Mails, Skype oder WhatsApp: Fehlanzeige oder zumindest Glücksache. Telefonate ins Ausland: Sie müssen über die Vermittlung angefordert und hergestellt werden. Der Gesprächspartner ist, wenn die Verbindung überhaupt zustande kommt, zuweilen nur sehr leise zu hören – oder gar nicht. Oft wird die Leitung während der Unterhaltung plötzlich unterbrochen oder das Telefonsystem ist gerade wieder ganz ausgefallen. Auf Kuba gilt grob gesprochen nur ein Unterschied: der zwischen „kleinen“ und „großen“ Katastrophen. Das Kommunikationsproblem ist ein kleines: Es gibt ja Alternativen: das Hier und Jetzt, Abwarten, Zurufe, Pferde oder Karrenfahrten.
Die Häuser auf dem Inselinneren, vor den Toren Havannas, sind einfach gebaut und ausgestattet, aber die Menschen sind genügsam: Fernsehen haben fast alle und abends schaut man sich gemeinsam oder alleine amerikanische TV-Serien an. Im wahren Leben fallen in den Hotels immer wieder die Buchungs- und Computersysteme, das Wasser im Badezimmer oder die Elektrizität wahlweise im ganzen Land oder in einem Teil der insgesamt 15 kubanischen Provinzen aus. Unter letzteren genießt die Sondergemeinde „Isla de la Juventud“ (dt. wörtlich: „Insel der Jugend“) einen Sonderstatus und ist als größere, relativ dicht bevölkerte und im Golf von Batabanó der Westküste Kubas vorgelagerte Insel keiner Provinz zugeordnet.
Weder Havanna noch der Rest der Republik Kuba kann sich über einen Mangel an Interesse aus dem internationalen Ausland beschweren. Individual- und Gruppentouristen reisen in beständigen Autobusportionen an, und fast jeder Kubaner, mit dem man spricht, würde am liebsten in der Tourismusbranche arbeiten, wegen der Trinkgelder und des leichteren Zugangs zu Fremddevisen. Laut einer rezenten offiziellen Verlautbarung der Regierung sind derzeit etwa 70% der Touristen Deutsche, 20% Kanadier, und die restlichen 10% verteilen sich auf Holländer, Russen, Franzosen, Amerikaner, Spanier, Italiener, Schweizer, einige Japaner und andere Nationalitäten. Im kubanischen Sommer (zur gleichen Jahreszeit wie in Europa, aber sehr viel heißer) sind die Ferienanlagen von den wenigen Kubanern belegt, denen weder die hohen Temperaturen noch – vor allem – die für die Einheimischen hohen Preise in den Ferienanlagen etwas anhaben können.
Rund um die historischen Sehenswürdigkeiten der Stadt wie das Kapitol, die spanische Festung, den Hafen und Alt-Havanna, aber auch in den Gassen und Spelunken, die sich über das UNESCO-Weltkulturerbe der Altstadt verteilen – da, wo die pulsierende Künstlerszene Havannas in den 1930-er und 50-er Jahren die Zeit mit Tanzen, Feiern und Musik verbrachte – herrscht genau die beschwingte Stimmung, die deutsche Cineasten aus der Oscar-nominierten Kino-Dokumentation „Buena Vista Social Club“ (1999) von Wim Wenders kennen. Singen, tanzen und die Zeit verstreichen lassen, gehören nicht nur in der Hauptstadt zum kubanischen Lebensgefühl. Auf dem zentralen Platz, den der Parque Central nahe des soeben eröffneten Kempinski Hotel bildet, nur einen Block entfernt von dem „Capitolio“, das 1929 nach US-amerikanischem Vorbild in Havanna – ironischerweise in Havanna aber einen Meter höher – als dem politischen Zentrum Kubas eröffnet wurde, glänzen blank polierte pink- und pastellfarbenen Straßenkreuzer aus den 1950-er Jahren um die Wette.
Die Taxi-Oldtimer dienen vor allem für sonderbezahlte touristische Sightseeing-Fahrten durch die Stadt: Im offenen Cabrio hellt sich bei der lauen Luft jede Besucherstimmung schlagartig auf. Die Motoren, oft chinesischer Herkunft, werden – da sich unter den Motorhauben noch keine elektronischen Programmierungen verstecken – dank weiterhin erhältlicher Ersatzteile mechanisch in Schwung gehalten und seit Jahrzehnten regelmäßig repariert, was in Hinterhof-Garagen eifrige Männer betreiben. Hier wird geschraubt, geölt und geduldig um ein passendes Ersatzteil gefeilscht. Die Autos sind der ganze Stolz ihrer Fahrer, die mit den Urlaubergruppen – aufgeteilt in Dreier- oder Vierer-Gruppen – in Chrysler-Karawanen auf Vergnügungsfahrt durch die Straßen rollen. Lautes Hupen und eine ausgelassene Stimmung sorgen dabei für eine Erfahrung wie in der Zeitmaschine. Das sinnliche Gefühl zu erleben, wie man vor etwa sechzig Jahren durch die breit und großzügig angelegten Städte der USA chauffiert worden sein muss oder selber kutschierte, katapultiert jeden Ausländer von jetzt auf gleich in die Vergangenheit. Zwar zählen wir in der Jetztzeit das dritte Jahrtausend, aber der Vintage-Schlitten in Havanna „rollt und rollt...“.
Die meisten Kubaner aber behelfen sich in diesem Land, in dem Pferdestärken noch buchstäblich viel gelten, anders. Wer hinter sein Pferd einen Wagen spannen kann, fährt nicht nur Touristen per Kutsche durch die Altstädte, sondern auch das Heu auf einen Karren geladen über die „Autobahnen“ Kubas in die Scheune. Auf diesen unbeleuchteten und TÜV-resistenten Hauptverkehrsadern des Landes, die voller Schlaglöcher sind und – oftmals einspurig – eher Landstraßen ähneln, sieht man sogar noch nachts einsame Reiter auf ihrem Pferd, ob mit oder ohne Sattel, nach Hause reiten. Eine 1837 zuerst in Havanna angelegte Bahnlinie führt heute durch das Land: Obwohl hier Mensch und Tier insgesamt lässig und entspannt miteinander umgehen, verursachen die auf ganz Kuba vollkommen frei herumlaufenden Haustiere – ob Rinder, Hunde, Pferde, Hühner oder Katzen – auf den Zuggleisen leider immer wieder (auch schwere) Unfälle.
Ansonsten bleiben den Kubanern als Transportmittel alte Ladas, die man hier und da sieht, insbesondere aber alle möglichen, phantasievoll zusammengeschraubten und den persönlichen Bedürfnissen angepassten Bastelgefährte und -autos, Handkarren, Pferdekutschen oder Fahrrad-Vehikel. Für preiswerte oder längere Fahrten gibt es staatliche Buslinien, preiswerte Sammel-Taxis, als Busse umfunktionierte LKWs und eine inländische staatliche Fluglinie, die keine Minute vergessen lässt, dass dieses Land nicht nur technologisch in den Fünfzigerjahren stehengeblieben ist. Service und Komfort: absolute Fehlanzeige. So wie der Servicegedanke dem Kubaner ohnehin prinzipiell fremd ist: Da alle auf Kuba berufstätigen Menschen – vom Frisör, über die Tropicana-Tänzer*innen bis hin zum Bauern, Hotelier oder Fremdenführer vor Ort – bis auf wenige Ausnahmen, die privates Unternehmertum fördern, grundsätzlich im Dienst des Staates arbeiten, ist der Kunde ein Niemand beziehungsweise unbekanntes Wesen. An jeder Rezeption steht er geduldig Schlange, während dazwischenkommende Telefonate oder ein Plausch unter Kollegen vor den Augen der Wartenden aus Prinzip Vorrang haben. Aber: was soll’s.
Ab Mitternacht streunen wilde Hundehorden durch Havannas verlassene Straßen, die einen späten Heimkehrer schon einmal auf seinem nächtlichen Nachhauseweg im kargen Straßenlaternenlicht rund um das „Kapitol“ des Regierungssitzes vor sich her scheuchen können. Sie sind auf der Suche nach Tagesabfällen und Resten aus den Restaurantküchen. Allzu allergisch auf Dreck, schlechte Gerüche und Schmutz ist man hier besser nicht: Die altbewährten Gegenmaßnahmen heißen Rum, Tabak und laute Tanzmusik. Prostitution ist offiziell zwar verboten, aber ebenso allgegenwärtig wie Korruption und Schattenwirtschaft: Die italo-amerikanische Mafia hat auf Kuba in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihr Unwesen getrieben – als in den 1930-er Jahren dem im kriminellen Milieu New Yorks aufgewachsenen Meyer Lansky das Hotel „Habana Riviera“ gehörte und in den 1950-er Jahren die Einnahmen der Stadt Havanna die von Las Vegas übertrafen – und leider auch in der Mentalität des einen oder anderen Kubaners ihre Spuren hinterlassen.
Vor der hellgrünen, pastellfarben renovierten Fassade „Casa de Africa“ in der „Calle de la Obra Pia“, ein staatliches Museum, das den afrikanischen Wurzeln der kubanischen Kultur gewidmet ist, muss man nicht nur stehenbleiben, sondern unbedingt auch hineingehen. Es hält sich dank Staatshilfe und privater Spenden, darunter sämtliche Instrumente, die der kubanische Soziologe, Schriftsteller und in Havanna geborene Diplomat Fernando Ortiz (1881-1969) gesammelt und dem „Afrikahaus“ hinterlassen hat. Das Zentrum dokumentiert nicht nur die Musik- und Migrationsgeschichte der kubanischen Kultur, sondern weist auch auf die afrikanischen Wurzeln ihrer Erfolgsgeschichte hin. Tanz, Musik und Revolution: Diese Formel genügt, um die Faszination Cubas zusammenfassend auf einen Nenner zu bringen. Denn dieses Museum zeugt gerade hier, am offiziellen Regierungssitz vor Ort, davon, woher der Groove und musikalische Drive der Kubaner eigentlich kommen – nämlich aus Afrika, mitgebracht von den zwangsweise auf den amerikanischen Kontinent verschleppten Sklaven, die schließlich in der Hafenstadt Havanna landeten, von wo aus deren Tanz- und Musiktradition auf ganz Kuba mit der spanischen und einheimischen verschmolz.
Die „Casa de Africa“ ist aber auch Schauplatz der weltweiten „Brüder und Schwester“ im Geiste Kubas: Es zeigt etliche bei offiziellen Staatsbesuchen überreichte Gastgeschenke anderer Länder an Kubas Führungsriege – über Jahrzehnte von Kubas Revolutionär, Politiker und in Havanna verstorbenen Diktator Fidel Castro (1926/27-2019) geprägt – und fächert somit Kubas kulturelle Verbindungslinien und politisches Netzwerk seit der Nachkriegszeit an Hand exemplarischer Gegenstände vor den Augen des Betrachters auf.
Andererseits – und das macht das Museum erst wirklich zu einem Haus – eben einer „Casa“ – im kulturellen Sinn, illustrieren die Exponate hier auch die Geschichte des eigenen Landes. Von der Sklaverei angefangen über aktuelle Wanderausstellungen und Lehrveranstaltungen für Schulklassen im Erdgeschoss zeigt die „Casa de Africa“, welche kunsthandwerklichen Techniken – wie die Holzmasken und -schnitzereien – und kulturellen Auswirkungen vor Ort – etwa anhand der Ausstellung historischer Verpackungen von Tabakwaren oder dekorierter Etiketten und bunter Zigarrenbanderolen aus dem 19. Jahrhundert – die Ankunft der afrikanischen Sklaven auf kubanischem Boden bis hin in die Kapillaren der kubanischen Industrie und Handwerksgeschichte hatten.
Auch in der „Casa de Africa“ rangieren neben Einrichtungsgegenständen und dem Mobiliar aus Kolonialzeiten sowie dem Leben der afrikanischen Leibeigenen, die ab dem 17. und 18. Jahrhundert seitens der spanischen Pflanzer – vorwiegend aus Westafrika stammend – auf den Zuckerrohr- und Tabakplantagen zu Zehntausenden eingesetzt wurden, vor allem Kultgegenstände aus dem religiösen, stammesrituellen und musikalischen Bereich ganz oben. Belgische „Grüße“ vom Kongo hängen heute in den Ausstellungsräumen der „Casa de Africa“ und zeigen kongolesische Stammestänzer oder materialisieren sich in einem wie von Geisterhand gespielten, massiven Holzxylophon.
Im obersten Stockwerk entfaltet sich dann die moderne Afrikanische Kunst, mit vorwiegend skulpturalen Werken, Installationen und der „Casa de Africa“ zur Verfügung gestellten oder geschenkten zeitgenössischen Objekten.
Bei dem Blick aus dem Fenster des im Kolonialstil errichteten Museumbaus - wie er auf ganz Kuba vorherrscht und alle bedeutenden Monumente beziehungsweise Häuser der ehemaligen Großgrundbesitzer auszeichnet – kann dem Besucher unter den von oben betrachteten Fußgängern auch Ungewöhnliches auffallen. Dazu zählen zum einen die ganz in Weiß – oft auch einen weißen Regenschirm sowie diverse symbolische Perlenketten tragenden – Männer und Frauen, die ihr Initiationsjahr für die Aufnahme in die „Santería“ absolvieren. Dabei handelt es sich um eine synkretistische, verschiedene Gottheiten anbetende und ursprünglich afrikanischen Traditionen entstammende Glaubensrichtung auf Kuba, in der sowohl afroamerikanische Götter als auch christlich-katholische Heilige verehrt werden. Zum anderen können aber jederzeit auch andere karnevalesk maskierte Menschen auftauchen. Da schwebt möglicherweise eine hochgewachsene grün kostümierte Frau mit einem vollgeschminkten Gesicht auf der Straße vor der „Casa de Africa“ wie ein Alien an einem vorbei: In Havanna keine Seltenheit. Auf den europäischen Besucher wirken solche Erscheinungen wie eine Begegnung der dritten Art. Später steht die Frau einsam, still und ungerührt wie eine Statue geradeaus schauend an einer Straßenecke, als könne sie nichts erschüttern, umgeben vom geschäftlichen Trubel der Stadtbewohner und Touristen.
Bis vor Fidel Castros kommunistischer Revolution 1959 waren nicht nur die aus Afrika in die Karibik verkauften Sklaven und deren Nachkommen, sondern ganz Kuba kolonial fremdbestimmt. Neben den Spaniern und den Briten nahmen auch die USA starken kulturellen Einfluss auf das nur rund 150 Kilometer südlich von Florida liegende Havanna. Nach dem Untergang des für die Wahrung der US-amerikanischen Interessen in den Gewässern Kubas – damals wieder spanische Kolonie – eingesetzten Linienschiffs „USS Maine“ im Jahr 1898 im Hafen von Havanna, besetzten die USA die Stadt. Als 1902 der erste Präsident der Republik Kuba, Tomás Estrada Palma sein Amt antrat, erlebte auch Havanna bis 1959 einen infrastrukturellen Innovationsschub und eine kulturelle Blüte, die insbesondere durch den Bau zahlreicher Luxushotels, Nachtklubs, Vergnügungsstätten und Kasinos in den 1930-er Jahren gefördert wurde. Hunderttausende von US-amerikanischen Touristen strömten damals nach Havanna, unter ihnen auch der Schriftsteller und Nobelpreisträger (1954) Ernest Hemingway (1899-1961). Zur Hochzeit der Künstler- und Kulturszene Havannas zog er 1939 mit seiner dritten Frau, der Journalistin Martha Gellhorn, in eine Villa ein, die bis heute den Namen „Finca La Vigía“ trägt und sich im heutigen, südöstlich gelegenen Ortsteil Havannas, San Francisco de Paula, befindet. Als er 1961 durch Suizid verstarb, schenkte seine vierte Frau, Mary Welsh, das Haus dem kubanischen Staat. Seitdem sind die Villa und der das Gebäude umgebende Park für Besucher öffentlich zugänglich und stellen einen Tourismusmagnet für Kulturreisende dar.
Hemingway mietete mit seiner dritten Frau die Finca im Mai 1939 nach einem Segeltörn von Key West nach Havanna erstmals an, und kaufte sie im Dezember des darauffolgenden Jahres. Nachdem er sich 1945 von Gellhorn hatte scheiden lassen, zog seine vierte Frau, Mary Welsh hier ein. Zusammen empfingen sie in der „Finca Vigía“ im Laufe der Jahre etliche US-Schauspielgrößen – wie Ava Gardner, Katherine Hepburn oder Spencer Tracy – und Intellektuellenfreunde wie Jean-Paul Sartre, wie heute noch im Haus ausgestellte Fotografien bezeugen.
Der Freund der Fischer und Fidel Castros blieb bis 1960 – ein Jahr vor seinem Selbstmord – in seiner Wahlheimat Kuba, von der er sich zu seinem Kurzroman „Der alte Mann und das Meer“ (1952) inspirieren ließ und wo er ihn 1951 auch schrieb. Die auf Kuba angesiedelte Novelle wurde 1953 mit dem Pulitzer Preis für Belletristik ausgezeichnet und ebnete ihm den Weg zum Literaturnobelpreis im darauffolgenden Jahr.
Wenn er arbeitete, so heißt es, stand er in seiner Bibliothek barfuß vor seiner „Royal“-Schreibmaschine – im Turmzimmer, wo er sich gerne auf einem Liegestuhl aus Rohr ausruhte und einen besonders weiten Blick über die Landschaft genoss, stand und steht noch seine „Corona“. So blickte er beim Schreiben in das tropische Grün seines Gartens oder von seiner Anhöhe aus auf die entfernte Stadtsilhouette von Havannas Innenstadt.
Bereits 1934 hatte sich Hemingway ein zwölf Meter langes Fischerboot gekauft, das er „Pilar“ taufte. Oft segelte er mit der „Pilar“ durch die Karibik, ging fischen und fuhr die Küsten Kubas ab. 1935 besuchte er mit der Yacht erstmal die Bimini-Inselgruppe, die zu den Bahamas gehört und wo er viel Zeit verbrachte. Heute ist das Original der „Pilar“ überdacht im Garten seiner Villa – hinter dem Swimmingpool, in dem er im Sommer gern schwamm – ausgestellt, neben einem imposanten Bambuswäldchen und zwischen hoch aufragenden Baumwipfeln, unter denen die Gräber seiner Hunde liegen.
Hemingway wird noch heute nicht nur auf seinem Refugium der „Finca Vigía“, sondern in ganz Kuba verehrt: Es gibt Museen, Literaturfestivals, Münzen und Briefmarken sowie nach ihm benannte Bars, die den Nobelpreisträger ehren. Zu seinen Lieblingsstammkneipen in Havanna zählt die Bar „El Floridita“, in der neben dem Tresen gleich am Eingang links eine Bronzestatue von ihm aufgestellt worden ist. Hier genoss der weltberühmte, von Depressionen geplagte und für seinen notorisch übermäßigen Alkoholkonsum berüchtigte Autor den – für ihn stadtbesten und als „Hemingway Daiquiri“ fortan in die Stadtgeschichte eingegangen – Daiquiri. Der klassische Shortdrink wird auf der Basis von weißem Rum gemixt – neben Tabak und Zucker eines der bekanntesten Luxusgüterexporte des kommunistischen Staats (was freilich nicht einer gewissen Ironie entbehrt).
Hemingways zweite Stammkneipe in Havanna war die Bar „La bodeguita del medio“, schon damals nahe der barocken Kathedrale San Cristóbal gelegen, in der die Gebeine von Christoph Kolumbus von 1796 bis 1898 aufbewahrt worden sind, bevor sie in die Kathedrale von Sevilla nach Spanien überführt worden sind. Die „Bodeguita“ ist berühmt für ihren Mojito – ein ursprünglich aus Kuba kommender und aus Rum, Limette, Rohrzucker, Minze und Sodawasser gemixter Alkoholcocktail. Wie die „Floridita“ nahe des Parque Central kann sich auch die kleine Bar „Bodeguita del Medio“ kaum vor dem täglichen Ansturm durstiger Touristen retten.
In einem Land wie Kuba, das weltberühmte kubanische Musikstile hervorgebracht beziehungsweise durch transkulturelle Amalgamation zu einer Einheit verbunden und weltweit andere Tendenzen damit insbesondere seit dem 19. Jahrhundert beeinflusst hat – indem Elemente vom Cha-Cha-Cha, Son, Songo oder Mambo, der Rumba oder Conga, des Changuí, Guaguancó oder Bolero bis hin zum Jazz, Hip-Hop und Rock ineinanderflossen – gilt die Musik als Mutter aller kubanischen Künste. So entstand durch die aktive An- und Aufnahme sowie Durchmischung des Son mit verschiedenen Stilrichtungen der Karibik und Lateinamerikas die Musik der Salsa, die die Kubaner als geborene Tänzer mühelos in ein völkerübergreifendes Ausdrucksmittel nonverbaler Körpersprache übersetzt haben, dessen Beliebtheit auch außerhalb Kubas bis heute anhält.
Auch nach der Abschaffung der Sklaverei 1886, tradierten die farbigen Sklaven aus Afrika ihre ursprünglichen Kulturtraditionen, Genres und Religionen und verbreiteten sie überall auf der Insel, während sie gleichzeitig auch neue Formen der Performanz und Wiedergabe von außen aufnahmen. Dadurch wirkte sich etwa der religiöse Einsatz von Schlaginstrumenten in der Santería-Religion auch auf die kubanische Musik aus, wird doch jeder der Santería-Götter (sogenannte Orishas) mit spezifischen Farben, Gefühlen, christlichen Heiligen und Rhythmen assoziiert. Schließlich fand die Santería-Musik auch Eingang in die Pop- und Folkmusik des 20. Jahrhunderts. Diese Entwicklung wiederum war nicht nur durch die Entscheidung Fidel Castros 1992 begünstigt, den Massentourismus zuzulassen, um die sogenannte „Sonderperiode“, die sich auf Kuba nach 1989 durch den ideologischen Zusammenbruch des russischen Kommunismus ergeben hatte und in der eine totale Verarmung der Bevölkerung drohte, zu beenden. Vielmehr distanzierte sich Fidel Castro damals auch offiziell vom Atheismus und empfing 1998 den offiziellen Besuch von Papst Johannes Paul II., und später in privaten Treffen nach seiner Verabschiedung aus dem Amt des Präsidenten 2008 auch noch mit Papst Benedikt XVI. (2012) und Papst Franziskus (2015), mit dem er im legendären Adidas-Trainingsanzug auf Kuba persönlich spricht. Insofern bekamen seit dem Mauerfall auch neue kulturelle Vermischungen auf Kuba eine Chance, die selbst religiöse Einflüsse nicht von vorneherein ausschließen mussten und einer Erneuerung der kubanischen Musik Vorschub leisteten.
Für Castro galt zwar bis zum Schluss die Revolutionsparole „Hasta la victoria siempre!“ (dt.: „Immer bis zum Sieg!“), aber die Kubaner werden doch immer Kubaner bleiben: musikalische Maniacs, mit dem Herzen auf dem richtigen Fleck und extrem widerstandsfähig. Poetischer drückt es ein Straßengraffiti an einer Hauswand von Havanna aus, auf dem über leuchtend blauer Schrift und einer bunten Figurendarstellung im Stil der Street Art zum 5. Jahrhundertgeburtstag der kubanischen Hauptstadt 2019 in kleinen, aber sauberen Lettern zu lesen ist: „Sean realistas, pidan lo imposible“ – auf Deutsch.: „Seien Sie Realist: Verlangen Sie das Unmögliche“!
500 Jahre Havanna
Staatliche und offizielle Programmseite (span.) zu den FeierlichkeitenKubanischer Blick auf die eigenen Feierlichkeiten: La Habana a sus 500: Con las grandes obras, y también con las pequeñas y cotidianas (span. | Quelle: Cubadebate. Contra el Terrorismo Mediático)
oder Link: https://www.cubadebate.cu/opinion/2019/11/16/la-habana-a-sus-500-con-las-grandes-obras-y-tambien-con-las-pequenas-y-cotidianas/#.Xg4iQetCdTY
YouTube-Video:
- La Habana celebra sus 500 años. Seite der Agencia Cubana de Noticias
- Trailer zur Oscar-nominierten Kino-Doku „Buena Vista Scoial Club“ (1999) von Wim Wenders
Abbildungsnachweis: Alle Fotos Dagmar Reichardt
Header: Straßenmusiker in Havannas Altstadt
Galerie:
01. und 02. Altstadtszenen in Havanna.
03. Ein städtisches Plakat zum 500. Stadtjubiläum.
04. Seit 2009 gibt es eine Mozart gewidmete Musikschule in Havannas Altstadt: das „Lyceum Mozartiano de La Habana“.
05. Möbel-Schnelltransport in Havannas Altstadt: Erfindungsgeist und Manpower.
06. Oldtimer: US-amerikanische Straßenkreuzer der 1950 und 60er Jahre vor dem Hotel Central, Havanna.
07. Das Museum „Casa de Africa“: ethnologische Musik-, Kunst- und Kulturobjekte aus Afrika.
08. Eingangshalle der „Casa de Africa“, Erdgeschoss.
09. Havanna: „Casa de Africa“, moderne afrikanische Skulptur, 2. Stockwerk.
10. Karnevalesk verkleidete Figur mitten im Altstadtrubel: in Havanna keine Seltenheit.
11. Tourismusmagnet für Kulturreisende: Hemingways „Finca La Vigía“ am südöstlichen Stadtrand von Havanna.
12. Hemingways Arbeitszimmer im Turm seiner Villa „Finca La Vigía“.
13. Hemingways 1934 gekauftes Boot „Pilar“.
14. Hemingways Stammkneipe für einen Daiquiri: „La Floridita“ nahe des Parque Central.
15. Havanna: Graffiti: „Sean realistas, pidan lo imposible“ (dt.: „Seien Sie Realist: Verlangen Sie das Unmögliche!“).
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