Zur Zukunftsfähigkeit von Streichquartetten
- Geschrieben von Thomas Janssen -
Purismus: Das ist auch das Stichwort, das den Geist eines Wettbewerbsfestivals im italienischen Reggio Emilia alle drei Jahre auf den Punkt bringt: des „Concurso Paolo Borciani“, benannt nach dem 1985 gestorbenen Primarius des „Quartetto Italiano“. Heime Müller hat den „Premio Borciani“ mit dem Artemis Quartett 1997 gewonnen, der Professor der Musikhochschule Lübeck gehört in diesem Jahr zur Jury. Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass „Borcianis Quartetto“ weltberühmt war. Geblieben ist der Purismus. Das heißt in Reggio Emilia zwischen dem 25. Mai und 1. Juni zehn Streichquartette aus Europa und Asien, sieben Tage Musik, jeden Tag fünf, sechs Stunden. Zum zehnten Mal seit 1987. Einfach Musik, einfach Musikkunst. Anders als anderswo bedarf es anderer Dinge beim „Concurso Borciani“ nicht.
In den drei Runden des Wettbewerbs mit erst zehn, dann sechs, dann drei Ensembles sind die rund hundert Publikumsplätze im städtischen „Teatro Valli“ jeden Tag komplett oder fast komplett besetzt, das Schlusskonzert lockt Hunderte an. Die mittelgroße Stadt ist damit etwas Besonderes in Italien, wo Kammermusik einen schweren Stand habe, sagt Lorenzo Fasolo, künstlerischer Leiter des „Premio Borciani“. In Reggio „sind die Menschen informiert“, verstünden Kammermusik – eher selten in Italien – das Fasolo „das Land des Melodramas“ nennt. „Vielleicht weil Paolo Borciani in der Stadt geboren ist?“ Ja, meint auch Eleonora Matsuno, Primaria des italienischen „Quartetto Indaco“, „das macht viel aus, die Liebe zu der Geschichte im Hintergrund.“ Was die Violinistin von den seltenen öffentlichen Auftritten ihres Quartetts – „wir spielen viel öfter Hauskonzerte“ – berichtet, belegt den schweren Stand der Kammermusik in Italien. Kann sich daran etwas ändern? Hoffnung, meint die Musikerin, mache ihr, zu erleben, „wie stark Menschen auf Kammermusik reagieren, wenn sie ihr unmittelbar begegnen, in Situationen, für die die „Kammermusik gemacht ist“.
Solches Vertrauen in die Musik ist nicht mehr selbstverständlich. Zwei Beispiele: Die „styriarte“ im österreichischen Graz etwa, ein arriviertes Festival mit Schwerpunkt ‚Alte Musik’, will in der Reihe SOAP seit drei Jahren mit „bunten Abenden aus Musik und Texten“ in „Großaufnahme an Komponisten und Interpreten“ (Eigenwerbung) heranführen. Großaufnahme ist wörtlich zu verstehen: man bietet, ungesendet, Kameras, Moderation, Celebrity-TV und Talk-Show-Feeling. 2014 kommt in Graz weiteres aus dem Kessel Buntes dazu, „ein kleines Konzert zur Mittagszeit. Und danach gibt es gemeinsam Lunch mit dem Publikum“. Lunchkonzerte wird’s geheißen, dass Nachwuchs auftreten darf, gibt höhere Weihen. Auch hoch im Norden Deutschlands bricht sich Hang zum Drumherum Bahn: Die „Sommerlichen Musiktage Hitzacker“, elbaufwärts von Hamburg, das älteste deutsche Kammermusikfestival, bieten Publikumschor und Hörer-Akademie, Profis, die Laien unterrichten und Ausflüge ins Grüne, eine „Late Night Lounge“ mit Jazz oder Club-Klänge einer Berliner DJane. Seit dem Vorjahr kommt Überbau dazu: Das Festival hat das Thema Nachhaltigkeit entdeckt. In diesem Sommer geht es um die „Zukunftsfähigkeit der Kammermusik“.
Ob TV-Adaption oder Diskussionsforum: Der Trend geht zum Nebenprogramm. Auch wenn es darin auch Interessantes zu entdecken geben mag – zu fragen bliebe, ob nicht gerade solche als Vertiefung und/oder Aktualisierung der Musikkunst ausgegebenen „Eventisierung“ die Zukunftsfähigkeit von Kammermusik unterminiert. Der ganz der Erlebnisgesellschaft verpflichtete Aktionismus füllt noch den letzten Raum der Muße, des Nachdenkens und Nachhörens. Atemlos vom Lunch in die Lounge, vom Chortreff in die „Lecture“ unterwegs, Zwischenhalt Konzert. So werden die Deutungsräume geschlossen, die Kammermusik, wie jede Kunst, öffnen kann. Wofür sonst wäre sie da?
Doch angesichts der Trias aus Lounge, Lecture und Lunch hat jene Musikerfahrung immer weniger Chancen, die der Komponist Clemens Nachtmann als ein „Überfallen- und Überwältigt-Werden des Subjekts“ beschreibt, in dem dessen „konstitutive Illusion, es verfüge über die Welt und seine Erfahrung wie über einen Besitz, im Nu zerbricht“. Auch der Purismus des „Concurso Borciani“ hat zur Folge, dass „authentische Erfahrung […] das erfahrende Subjekt im Griff (hat).
Eine Antwort auf die sinn-, aber nicht zwecklose Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Kammermusik gibt der „Concurso Borciani“ dennoch – nebenbei und auf einer ganz unmittelbaren Ebene: Bei keinem der teilnehmenden Quartette darf die Summe des Alters seiner Mitglieder größer als 120 sein. Und bei jedem der Auftritte der 40 Musikerinnen und Musiker ist das präsent, was Eleonora Matsuno „eine Leidenschaft, die aufzugeben unmöglich ist“ nennt.
Leidenschaft – das ist eine der Qualitäten der Musik von Bela Bártok. Der ist Gewinner der Wettbewerbs: Jedenfalls haben die beteiligten Streichquartette seine Kompositionen am häufigsten für ihre Programme ausgewählt. Passend auch, dass das ungarische „Kelemen Quartett“, dem die Jury um Kikuei Ikeda, der Primarius des „Tokyo Quartets“, den ersten Preis verlieh, seinen Erfolg auch seiner fulminanten Version des fünften Quartetts Bartóks verdankte. Ein faszinierendes Stück, Ligetis beiden Meisterwerken des Genres nahe, die viele Ansätze Bartóks fortgeführt haben. Barnabas Kelemen und Gabor Homoky (Violine), Katalin Kokas (Bratsche) und Dóra Kokas (Violincello) spielen das Fünfte noch in Experimentalklangpassagen voll, voll Verstörungen auch; quasi kantabil, wie sie die vertrackte Rhythmik des Werks leichthändig in poetischen Fluss bringen. Schon zuvor hatte die Reihe von Interpretationen der Bartók-Quartette (des dritten durch das englisch-tschechisch-spanische „Jubilee Quartet“, des vierten durch das französisch-israelische „Quatuor Noga“ und des fünften durch das japanisch-israelische „Berlin Tokyo Quartett“) das Universum der Quartettmusik durchmessen. Interpretationen, deren Palette von subtil bis vehement, von klangschön bis rau, von rasant bis federnd reicht. Was entscheidet über das Gelingen? Vielleicht der jeweils erreichte Grad an Verinnerlichung. Und an Souveränität.
„Wenn du selbst spielst, willst du experimentieren“, sagt Eleonora Matsuna, Quartettspiel „bietet so eine große Freiheit der Wahl, des Ansatzes.“ Das „Quartetto Indaco“ der Mailänderin brilliert selbst nicht mit Bartók, sondern mit den subtil zum Blühen gebrachten Webern-Miniaturen der Fünf Stücke (op. 5) und der Sechs Bagatellen (op. 9), und einem feinsinnig-luftigen a-Moll-Quartett (op. 51/2) von Brahms – Vorgänger Weberns wie Bartóks, was das Mailänder Quartett mit leisem Ton nachzeichnete. Viel Potenzial, es gab den Sonderpreis, ein Stipendium für den Internationalen Kammermusikkurs der „Jeunesse Musicales Deutschland" in Weikersheim.
Warum der Bartók-Akzent im Programm? „Er hat soviel zusammengebracht“, antwortet Heime Müller, hat „eine starke Sprache entwickelt, die sehr anspruchsvoll ist, schwer zu spielen und wirkungsvoll“. Bartóks Musik könne in 50 Jahren vielleicht eine Rolle einnehmen wie heute die Beethovens: Ein Punkt, in dem sich viele Quartette treffen. Zukunftsfähige Kammermusik?
Wenn, dann musikalischer Momente wegen. Dass Bartóks Musik Teil jener Moderne ist, die in der Verschmelzung von als national definierter Musik und supranational gewordener europäischer Musikkunst entstand, zeugt von der Universalität der Letzteren. Das ist ein Teil ihrer Stärke. Ein mögliches Problem: Sie kann multikulturell als Aussage zur globalisierten Gegenwart gelesen werden. Dann aber würden einmal mehr „Reflexionskategorien bloß äußerlich gesetzt, abgespult und angewandt“ und so „die Frage nach der Welthaltigkeit des Kunstwerkes zur kategorialen Verdolmetschung des Alltagsverstandes“, wie Clemens Nachtmann die Zurichtung von Kunst für den Betrieb beschreibt.
Bartók war ein Zentrum des „Concurso Borciani“. Musik von Brahms, Britten, Haydn, Janácek, Mozart, Schostakowitsch, Schubert, Schumann, Ravel, Webern haben die zehn Quartette außerdem für die ersten beiden Runden aus der von Lorenzo Fasolo vorgegebenen Palette ausgesucht – Schönberg, Berg, Debussy, Zemlinsky oder Lutoslawski bleiben in Reggio Emilia ungespielt. Die Konzentration des Repertoires sei schwer zu erklären, überlegt Fasolo, vielleicht „hat das damit zu tun, dass es erleichtert, einen Ensembleklang aufzubauen.“ Viel Zeitgenössisches biete zu wenig Möglichkeit, ein Quartett zu beurteilen.
Das Streichquartett, verdeutlicht Lorenzo Fasolo später Überlegungen zum Repertoire, sei immer eine problematische Gattung für einen Komponisten. „Die Balance, die Qualität, der Klang: alles fordert. Das ist die große Schwierigkeit dieser Musik und die große Qualität: Sie ist eine Miniatur.“ Und ein weiterer Aspekt: „Vier Instrumente, vier Menschen, das heißt immer Empfindungen, Begegnungen.“ Das Streichquartett stelle zugleich Mensch und Musik in den Fokus.
An diesem Punkt kommen die sechs Quartette, die es in die dritte, die entscheidende, Runde geschafft haben, mit Werken von Mozart und Haydn an. Vor allem aber mit dem Pflichtstück, dem ersten von Beethovens Rasumowsky-Quartetten (op 59/1; F-Dur), einer Art Fluchtpunkt des Wettbewerbs. Was vorher war, wird deutlich, war Vorahnung, ob die lyrische Leichtigkeit von Brittens zweitem Quartett "(„Piatti Quartet“, Großbritannien), ob der Farbenrausch Ravels, („Cavalieri Quartet“, Großbritannien), ob die poetischen Zerrissenheit des a-Moll-Quartetts Schumanns (op. 41/1) („Quatuor Varèse“, Frankreich) oder Janaceks „Intime Briefe“ („Jana Quartett“, Japan und China). Am wenigsten wohl beim vom zweitplatzierten und mit dem Publikumspreis bedachten slowakischen „Mucha-Quartett“, dessen vehemente Interpretation des vehementen neunten Schostakowitsch-Quartetts vor Energie birst.
Der Bartók des „Kelemen Quartetts“ dagegen ist ohne die unprätentiöse Frische, mit der das Ensemble das Menuett von Haydns B-Dur-Quartetts (op. 76/4) genauso wenig denkbar wie ohne dessen elegisches Adagio und die leichthändige Eleganz, mit der das Ensemble der strukturellen Vielfalt des durchgearbeiteten Allegro-Kopfsatzes des ersten der Beethoven’schen Rasumowsky-Quartette nachgeht.
Die Extrovertiertheit des Spiel des drittplatzierten „Quatuor Varèse“ im Allegro – vivace assai von Mozarts G-Dur-Quartett (KV 387) scheint im Allegro von Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ auf, mit dem die vier Franzosen zur Schlussrunde antreten. Gegen Bartók und Schostakowitsch: mutig. Das Schubert-Werk ist eines derer in seinem Oeuvre, in dem die Nähe von Quartett und Lied deutlich wird. Im zweiten Satz übernimmt die Variation ganz direkt die zentrale Rolle des Textes, findet für jede Affektnuance einen Tonfall. Introspektion, Affekt und Dezenz zu verbinden gelingt dem „Quatuor Varèse“ bestens. Der luzide, so raffinierte wie schlichte Klang trägt dem Ensemble auch den Sonderpreis für die beste Interpretation zeitgenössischer Musik ein, gespielt wird Thomas Adés „Arcadiana“. Ausgereift ist dieser Ton eine Runde zuvor im alchymischen Labor des Adagio molto e mesto von Beethovens op. 59/1, konzentriert und aufs feinste ausnuanciert. Schuberts Lyrismus weist auf Beethoven zurück, dessen Klarheit auf Schubert voraus, beide auf das Humane. Gute Kammermusik.
Weitere Informationen zum Wettbewerb „Premio Paolo Borciani“
Konzerte des "Serata Finale" und Bekanntgabe der Gewinner.
Teilnehmende Quartette
Abbildungsnachweis:
Header: Nächtliche Außenansicht des Teatro Valli in Reggio Emilia/Italien. Foto: Superstudio
Galerie:
01. Das Gewinner Quartett: "Premio Paolo Borciani" Kelemen Quartett (Foto: Kelemen Quartett / Tamas Dobos)
02. Bühne des Teatro Valli "Camera Acistica".
03. Blick von der Bühne in den Zuschauerraum des Teatro Valli
04. Die Musiker haben viel Spaß bei der Eröffnungveranstaltung am 25. Mai 2014. Foto: A. Anceschi
05. Mitglieder der Jury (v.r.n.l. Heime Müller (DE), Kikuei Ikeda (JP), Martha Argerich (AR). Foto: A. Anceschi
06. Mucha Quartett, Tschechien während des Wettbewerbs. 2. Platz.
07. Festliche Räume. Das Atrium des Teatro Valli.
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