„Mediterranea – Refugees welcome?”. Endstation Sehnsucht
- Geschrieben von Anna Grillet -
„Mediterranea – Refugees welcome?”, ein Film, der einem die Sprache verschlägt. Unsentimental, kraftvoll, trotzig, aufbegehrend. Ästhetisch virtuos.
Der amerikanisch-italienische Regisseur und Autor Jonas Carpignano macht noch einmal die fremdenfeindlichen blutigen Krawalle von Rosarno im Januar 2010 zu seinem Thema. Er schildert nun die Ereignisse, die den gewalttätigen Unruhen vorausgingen.
Ayiva (Koudous Seihon) aus Burkina Faso und sein Freund Abas (Alassane Sy) träumen von Europa. Sie fliehen nicht vor den Schrecken eines Krieges oder Verfolgung. Sie wollen einfach raus aus der Armut. Eine mühselige gefahrenreiche Odyssee beginnt: Von Algerien bis zur libyschen Küste. Wie Schlachtvieh zusammengepfercht auf Lastern. Zu Fuß über felsiges Gebirge und durch die Wüste. Eine bewaffnete Bande überfällt die Flüchtlinge, beraubt sie ihrer kärglichen Habe. Es ist ein Treck der Verzweifelten, abgezockt von skrupellosen Schleppern. Auf dem Mittelmeer kentert das Motorboot. Ayiva und Abas werden in letzter Minute gerettet. Als sie endlich die Kleinstadt Rosarno im Süden Italiens erreichen, müssen die beiden Afrikaner bald schon erkennen, dies ist nicht das Gelobte Land, von dem sie träumten.
Die Feindseligkeit der einheimischen Bevölkerung ist vom ersten Moment an überall spürbar. Ayiva und Abas hausen zusammen mit vielen anderen Migranten in einem behelfsmäßigen Camp unter freiem Himmel. Verschläge notdürftig zusammengezimmert aus Holzlatten, Pappmache und Plastikplanen, ohne fließendes Wasser oder sanitäre Anlagen. Wer innerhalb der nächsten drei Monate einen festen Arbeitsvertrag ergattert, darf in Italien bleiben, aber auch nur dann. Die Orangen auf den Plantagen sind schön und riesig, das Pflücken eine Schinderei. Der Lohn für eine 14-Stunden-Schicht beträgt nie mehr als 25 Euro, davon müssen die Saisonarbeiter noch Schutzgeld an die ‘Ndrangheta zahlen. Die Gegend gilt als Hochburg der mächtigsten Mafia-Organisation Europas. Jonas Carpignano ergreift Partei für seine Protagonisten wie einst Roberto Rossellini (“Rom- Offene Stadt”, 1945) oder Vittorio de Sica (“Fahrraddiebe”, 1948). Der Neorealismus nahm sich der Armen, Unterdrückten und Entrechteten an, demaskierte das Bürgertum. Die Regisseure begannen das Dramatische in dem vermeintlich Nebensächlichen zu entdecken, verbannten die klassischen Leinwandhelden und erhoben das Fragmentarische zum Stil. Die Wahrheit wurde ihr Dogma.
Der Ansatz von „Mediterranea” ist noch radikaler. Manchmal fühlt sich Carpignano zwar als italienischer Regisseur, aber Perspektive und Methode sind eine andere. „Guerilla filmmaking style” nennt er es. Der 31jährige will „keine Ein-Mann-Show” abziehen, sein Schwerpunkt liegt auf der Zusammenarbeit. Er und seine Leute haben ihre eigene Infrastruktur kreiert, bilden so etwas wie eine Familie. Crew und Darsteller, fast alles Laien, sind dieselben wie bei seinem grandiosen Kurzfilm „A Chjàna” (2011), der sowohl in Cannes wie Venedig ausgezeichnet wurde. Der Rhythmus von Kamera und Schnitt spiegeln das Dasein der Flüchtlinge, desorientierend, unstet, verwirrend wie der Mix von Sprachen um sie herum. Die Bilder (Wyatt Garfield, „Beasts of the Southern Wild”) sind hastig, verrissen, beängstigend authentisch, rau und doch letztlich auf unverwechselbare Art bravourös komponiert. Das Meer als auch die Wüste hatten noch eine wilde ungebärdige Würde und grausame Schönheit, diese Kleinstadt ist nur bedrückend, hässlich, klaustrophobisch. Die Kluft zwischen Fiktion und Realität löst sich auf.
Am 7. Januar 2010 schossen Jugendliche in Rosarno auf afrikanische Immigranten und verletzten zwei schwer. Die Situation eskalierte, zahlreiche Afrikaner gingen aus Protest auf die Straße, steckten Autos in Brand und schlugen Schaufenster ein. Die italienischen Einwohner und Mitglieder der ‘Ndrangheta rächten sich, gingen bewaffnet auf die Migranten los, fuhren sie mit Autos und Traktoren an. Als die Unruhen ausbrachen, reiste Carpignano nach Kalabrien, er wollte mehr über die Hintergründe erfahren. Entscheidend wurde die Begegnung mit Koudous Seihon. In ihm fand er nicht nur einen seiner engsten Freunde, sondern auch den Einstiegspunkt in die Welt, die er beschreiben wollte und vor allem den Protagonisten des Films. Der Regisseur richtete in Gioia Tauro, einer Kleinstadt nahe Rosarno sein Produktionsbüro ein und lebte dort die nächsten fünf Jahre in engem Kontakt zu der Community der Immigranten. Der Vater von Jonas Carpignano ist Italiener, die Mutter Afroamerikanerin. Seine Kindheit verbrachte er in New York und Rom. Er hat nach eigenen Worten nie unter solchen Diskriminierungen leiden müssen wie Ayiva und Abas, aber er war sich schon als Junge bewusst, was es heißt eine schwarze Mom zu haben.
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Die fatale Wirkung der modernen Technologie zeigt sich bei Ayiva und Abas als Ursprung aller falschen Hoffnungen: große Häuser, rasante Autos, attraktive Frauen. Die Realität ist eine andere als die enthusiastischen Nachrichten ihres Landsmannes Mades (Adam Gregne), sie haben glauben lassen. Abas war fasziniert von den Fotos der jungen Mädchen, die sein Freund bei ‚Facebook’ postete. Ayiva dagegen wollte hier Geld verdienen, eine sichere Existenz für sich und die Familie aufbauen. Er hat die siebenjährige Tochter bei seiner Schwester gelassen. Ihm fehlt der Mut, den beiden via Skype zu gestehen, dass sein Leben in Italien nur ein Albtraum ist und jener Wohlstand zwar existiert, aber für schwarze Immigranten wie ihn kaum eine Chance besteht, auch nur einen simplen Job zu finden. Die kleine Tochter drängelt, sie will nachkommen in das Land, wo es so wundervolle Puppen gibt.
Carpignano schildert die Situation aus zwei verschiedenen Perspektiven. Ayiva ist der Pragmatische, Clevere. Wenn es sein muss, klaut er auch den Koffer eines Reisenden, er und sein Freund brauchen schließlich warme Sachen, geschickt vertickt er einen MP3-Player. Ayiva arbeitet hart, der Plantagenbesitzer weiß seinen Fleiß zu schätzen, vertraut ihm zusätzliche Aufträge an. Abas dagegen will nicht der Sklave für diese Leute sein, er trinkt lieber mit seinen Kumpeln, artikuliert laut Unmut und Zorn. Derweil werden die verführerischen Versprechen in den Songs von Rihanna und Taylor Swift zum fast makabren Soundtrack des Films. Eine der Migrantinnen sagt irgendwann: „...Rihanna is my sister”. Und tatsächlich ist die Sängerin überall im Film präsent, ob als Klingelton, auf dem Bildschirm oder mit ihren Hits. Carpignano erklärt: „Rihanno ist ein Symbol der globalen Popkultur und, ehrlich gesagt, sie ist auch mein Lieblingsstar. Wie die Familie meiner Mutter stammt sie aus Barbados, jedoch ist es fast unmöglich, ihr eine eindeutige nationale Identität zu zuschreiben- sie bedient so viele kulturelle Kategorien.” Mit 191 Millionen verkauften Tonträgern verkörpert Rihanna die Illusion der internationalen Akzeptanz einer Farbigen. Die afrikanischen Migrantinnen haben noch schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt als die Männer, ihnen bleibt oft nur die Prostitution.
Zwangsräumung, Brandsätze, Gewalt ist immer präsent. Der Regisseur erzeugt eine eigenwillige intensive Spannung, verweigert sich im zweiten Teil des Films jeder Art dramatischer Höhepunkte. „Mediterranea” spekuliert nicht auf Mitleid oder Betroffenheit. Carpignano macht die Ausweglosigkeit zu seinem Stil, wechselt zwischen Unruhe und Erstarrung, unterbricht die Handlungsabläufe, holt Nebenfiguren in den Vordergrund. Einer davon ist Pio (Pio Amato) ein italienischer Junge, vielleicht zehn Jahre alt, der mit allem dealt, was geklaut ist und womit sich Profit rausschlagen lässt. Seine Macho-Gesten und Sprüche würden zu einem 25jährigen passen, er macht auf cool, abgebrüht. Pio tauchte schon in Carpignanos Kurzfilm „A Ciambra” (2014) auf, schnorrte Zigaretten und zockte schamlos seine Kunden ab. Die Szenen mit ihm sind grotesk amüsant und zeigen doch das tragische Ausmaß einer kaputten Gesellschaft. Was bedeutet hier eigentlich der Begriff Integration? Kriminell werden oder Prostituierte? Die kleine freche Tochter (Vincenzina Siciliano) des Plantagenbesitzers nähert sich Ayiva mit unverhohlener Neugier, etwas kokett, vorlaut und nicht ohne Boshaftigkeit. Während sie zu einem Popsong tanzt, wünscht sich der Afrikaner solch unbeschwertes Leben für seine eigene Tochter.
Innenansichten einer Gesellschaft: Fast so unerträglich wie die Brutalität der Jungfaschisten ist die herablassende Barmherzigkeit jener älteren Frau, die sich selbstgefällig „Mama Afrika” von den Schwarzen nennen lässt. Als schaurige Beilage zur offerierten Mahlzeit gibt sie noch eine Probe ihrer Sangeskunst zum Besten. Dankbarkeit und Verdruss mischt sich bei den Migranten. Ihnen wird Demut abverlangt, wo sie lieber Stolz und Ablehnung demonstrieren würden. Flüchtling sein heißt Selbstverleugnung. Auch die Gastfreundschaft des Plantagenbesitzers entpuppt sich als leere Geste, einen Vertrag gibt er Carpignano nicht, das bedeutet Abschiebung oder Illegalität. Jede dieser scheinbar beiläufigen Szenen ist für sich eine meisterhafte Miniatur. Es geht immer wieder um Treue, sich selbst gegenüber, der Heimat, den Freunden, um Verlust durch Assimilierung. Koudous Seihon hat eine unglaubliche Leinwandpräsenz. Vieles von dem, was er in „Mediterranea” spielt, hat er selbst erlebt. Er ist ein engagierter Aktivist im Kampf um Immigrantenrechte. Mit der Geschichte von den beiden Freunden aus Burkina Faso wollte Carpignano eine Verbindung herstellen zum frühen 20. Jahrhundert, als Scharen von Italienern Sizilien und Kalabrien verließen und in die USA auswanderten.
Amerika versprach eine gesicherte wirtschaftliche Existenz, einen moderneren Way of Life. „Natürlich gibt es da gewaltige Unterschiede zu den Immigranten, die heute nach Italien kommen,” erklärt der Regisseur, „nicht zuletzt, weil erstere Art der Zuwanderung weitaus geregelter und kontrollierter ablief. ...Süditalien war damals ein verarmter Bauernstaat und New York und Chicago bereits Weltstädte. Aber es gab auch subjektive Faktoren: euphorische Briefe, die von Immigranten nach Hause geschickt wurden, Artikel, die in Zeitungen erschienen, und die den Traum von einem besseren Leben zelebrierten. Die Medienlandschaft ist heute eine andere, und trotzdem passiert in sozialen Netzwerken, insbesondere über Facebook, etwas sehr Ähnliches.” Kurz nach den blutigen Auseinandersetzungen evakuierten die italienischen Behörden mit Bussen unter lautem Applaus der Bevölkerung die Einwanderer aus der Region. Die hier geschilderte Armut ist kein Extremfall. In Italien gehörten solche Camps schon lange vor 2010 zur Normalität, manche liegen in den Außenbezirken der Städte, andere versteckt in den Wäldern. Auch wer einen normalen Lohn bezieht, findet nur schwer eine Wohnung, der Immobilienmarkt wurde wie in den USA in astronomische Höhen gepusht.
Originaltitel: Mediterranea
Regie / Drehbuch: Jonas Carpignano
Darsteller: Koudous Seihon, Alassane Sy, Pio Amato
Produktionsländer: Italien, Frankreich, USA, Deutschland, Katar, 2015
Länge: 110 Minuten
Verleih: DCM Distribution
Kinostart: 15. Oktober 2015
Fotos & Trailer: Copyright DCM Distribution
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