Sieben Stunden Theater. Sieben Stunden griechische Tragödie mit mehr als 100 Schauspielern, Sängern und Musikern auf der Bühne.
Einen derartigen Kraftakt hat Hamburg zuletzt beim „Faust“-Marathon erlebt. Karin Beier hat in ihren „Rasenden“ am Deutschen Schauspielhaus alle Register gezogen – von Oper und Drama, über neue Musik und Tanz, bis hin zum Live-Cooking, zur Video-Installation und zum Klamauk. Sie hat ein Feuerwerk an Ideen gezündet, die jedoch – bis auf wenige kostbare Gänsehaut-Momente - so schnell verblassen, wie die Silvesterraketen über der Hamburger Alster. Die Mitwirkenden sind allesamt großartig, die fünf Stücke um den Trojanischen Krieg handwerklich perfekt inszeniert. Nur: Der geniale Wurf, den Hamburg so lange ersehnte, blieb aus. Anstatt sich auf die Wucht der Dramen und die Ausdruckskraft der Darsteller zu konzentrieren, setzt Beier zum Auftakt ihrer Intendanz am Deutschen Schauspielhaus über weite Strecken auf Aktionismus und blutige Show. Wir schauen dem Grauen zu und bleiben unberührt. Leider.
Kurz zur Erinnerung: Ursprung des Trojanischen Krieges, einem der großen frühgeschichtlichen Mythen des antiken Griechenlands, ist der Streit zwischen den Göttinnen Aphrodite, Athene und Hera, wer die schönste von ihnen sei. Paris, Sohn des trojanischen Königs Priamos und seiner Frau Hekabe, soll das Urteil fällen und entscheidet sich für Aphrodite, die ihm Helena, die schönste Frau auf Erden dafür verspricht. Helena ist zwar mit Menelaos, dem König von Sparta, verheiratet, doch das hindert Paris nicht, sie zu rauben und nach Troja zu entführen. Menelaos sinnt auf Vergeltung, sein Bruder Agamemnon führt die Heeresflotte an und muss Tochter Iphigenie opfern, um die Göttin Artemis gnädig zu stimmen und günstige Winde zu schicken. Nach zehnjährigem Kampf und dem Sieg über Troja dank einer List (das berühmte Trojanische Pferd, in dessen Bauch versteckt die Griechen in die Stadt gelangen), kehrt er mit seiner „Beute“, der Seherin Kassandra, nach Mykene zurück und wird dort von seiner Frau Klytaimnestra aus Rache für den Opfertod der geliebten Tochter ermordet. Jahres später rächt Orest, der in der Fremde aufgewachsene Sohn, den Vatermord mit dem Mord an der Mutter und ihres Geliebten.
Teil 1: Iphigenie/Trojanische Krieg/ Troerinnen (Ausschnitt ca. 3.03 min.)
Mit „Iphigenie in Aulis“ nach Euripides beginnt Karin Beier ihren Zyklus. Fast beiläufig treten die Protagonisten vor die hölzerne Wand. Agamemnon (Götz Schubert im Unterhemd) seine Frau Klytaimnestra (Maria Schrader), Tochter Iphigenie (Anne Müller). Eine Durchschnittsfamilie, die erst hinter großen weißen Masken, die für das griechische Schauspiel so typisch war, zum König, zur Königin, zum Opfer erhöht und verfremdet werden. Zu jenen scheinbar willenlosen Schachfiguren der Götter auf dem Olymp, die ihre Befindlichkeiten und Befehle durch das Orakel von Delphi verkünden ließen.
Die neuralgische Verknüpfung von Politik und Religion habe sie an dem Troja-Stoff interessiert, hatte Karin Beier im Vorfeld gesagt. Die Frage, an welchem Punkt das göttlich begründete, uralte Blutrachegesetz, das blindlinks einen Mord nach dem anderen nach sich zieht und als schicksalhafter Familienfluch unausweichlich scheint, abgelöst wird von menschlicher Vernunft und rechtstaatlichem Denken. Die Fragen nach religiöser Verblendung, nach Schuld und subjektiver Verantwortung, die umso brisanter sind, da sie zwischen humanistisch geprägten späteren Christen (Griechen) und Muslimen (Troja liegt in der heutigen Türkei) verhandelt werden. Jeden Tag sehen wir in den Nachrichten, wie viele Menschen wieder von religiösen Fanatikern in die Luft gebombt wurden, wie ganze Ethnien aufgrund ihres Glaubens ausgelöscht werden: Afghanistan, Syrien, Zentralafrika – was Euripides und Aischylos 500 vor Christus beschrieben, ist immer noch brandaktuell.
In ihrer „Iphigenie“ schält Beier die Verknüpfung von Politik und Religion gleich zu Beginn heraus. Anne Müller, mehr burschikoses Gör denn antikes Königskind, steigert sich virtuos von einem kläglich dünn um sein Leben bettelndes Opfer zur verblendeten Selbstmordattentäterin. „Ich vernichte Troja mit meinem Blut“ schreit sie ihrer entsetzten Mutter entgegen. So ticken religiöse Fanatiker, daran hat sich seit 2500 Jahren nicht das Geringste geändert.
Die Schlacht selbst wird dann akustisch geschlagen. Unter der musikalischen Leitung von Jörg Gollasch und dessen assoziationsreicher Komposition „Eine große Stadt versank in gelbem Rauch“ schaffen die Sängerinnen dreier Chöre sowie die Mitglieder des ‚Ensemble Resonanz’ einen Soundtrack, der alle Phasen des Krieges vor dem inneren Auge entstehen lässt. Die Musiker kämpfen förmlich mit ihren Instrumenten, schaben, knatschen, hauen, flüstern, zischen, keuchen – angetrieben von einem Rhythmus, dem man sich nicht entziehen kann und der unweigerlich in der Katastrophe enden muss. Zum Schluss liegen sie alle am Boden, niedergemetzelt, samt ihrer Instrumente und überdeckt vom Ascheregen der vernichteten Stadt. Überhaupt sind die Musiker an diesem Abend ständig präsent, sitzen schon am Anfang seitlich auf der Bühne, schaffen mit kongenialen musikalischen Interventionen Herzklopfen und einen Thrill, der mitunter an Tatort-Krimis erinnert.
Durch die Asche von Troja schleppen sich kurze Zeit später die unglücklichen Überlebenden, die Frauen, angeführt von ihrer Königin, Hekuba. Sie warten auf ihre Verschiffung in die Sklaverei. Ihre Häuser sind niedergebrannt, ihre Männer, Gatten und Söhne sind tot. Sie selbst sind geschändet, vergewaltigt, gedemütigt, „Die Troerinnen“ sind ein einziges Fanal gegen den Krieg. Kaum eine andere Tragödie führt die Sinnlosigkeit des gegenseitigen Abschlachtens, die Trauer und Verzweiflung der gefangenen Frauen, mit solcher Wucht vor Augen wie dieses Schauspiel von Euripides, das Sartre später bearbeitete. Merkwürdigerweise vertändelt Karin Beier diese Wucht. Als wolle sie das unendliche Leid bis zur Lächerlichkeit herunterspielen, lässt sie die Säcke schleppenden Frauen (die Befehle dazu kommen aus dem Lautsprecher, KZ-Lager-Assoziationen drängen sich auf) untereinander so flapsig um die Schuldfrage und die Zuordnung zu ihren neuen Besitzern zanken, dass etliche Sequenzen zur Farce mutieren. Julia Wieninger ist sicherlich eine tolle Schauspielerin, doch sie ist keine große Tragödin. Ihre Hekuba frisst zwar ihre Rache und Trauer im Wortsinn in sich hinein, doch Verzweiflung sieht anders aus. Auch das martialische Chorgeschrei und der Veitstanz der barbusigen Troerinnen, allen voran Kassandra (Rosalba Torres Guerrero) lassen kein Mitleid aufkommen. Einzig Lina Beckmann als Hekubas Schwiegertochter Andromache gelingen bewegende Momente. Markerschütternd die Anklage der jungen Mutter, der man den neugeborenen Sohn aus den Armen reißt, um ihn zu töten, dass die ach so „humanistischen Europäer“, im Grunde viel barbarischer sind, als die von ihnen als Barbaren bezeichneten Asiaten.
Mit dem Auftritt Helenas (Angelika Richter) schwenken Beiers „Troerinnen“ endgültig in die Parodie. Selbstbewusst pampig erklärt die schönste Frau der Antike sich selbst als Opfer (womit sie nicht Unrecht hat) und singt daraufhin in Marilyn-Monroe-Pose „Happy Birthday, Mister President“, um ihren gehörnten Gatten Menelaos zu bezirzen.
Nach der Pause dann der Parforceritt durch die „Orestie“, Karin Beier hat die Trilogie („Agamemnon“ nach Aischylos, „Elektra“ nach Hugo von Hofmannsthal, „Eumeniden“ nach Aischylos) nach gut dünken zusammengeschnitten und einmal mehr ihr Händchen für das Regietheater unter Beweis stellt. Insbesondere im zweiten Teil, in dessen Zentrum das packende Video-Kammerspiel zwischen Mutter Klytaimnestra und ihrer vor Hass und Trauer erstarrten Tochter Elektra – grandios Gaststar Birgit Minichmayer – steht, sowie der diabolische Dialog zwischen Elektra und ihrer jüngeren Schwester Chrysothemis – nicht weniger brillant Lina Beckmann. Es ist sicherlich kein Zufall, dass ausgerechnet eine Filmsequenz zum dramatischen Höhepunkt des Abends gerät. Hier, in der Nahaufnahme, konzentriert sich alles auf die Ausnahmeschauspielerinnen und ihre umwerfende Ausdruckskraft.
Doch als Orest (Carlo Ljubek) auftaucht, wirft Beier ihre brachiale Bühnenmaschinerie wieder an und setzt den barocken Blutrausch fort, den sie in „Agamemnon“, dem ersten Stück der „Orestie“ so opulent wie unterkühlt in Szene setzt: Nach zehn Jahren ist der siegeiche König endlich nach Mykene zurückgekehrt und findet in seinem Palast verwahrloste Sitten und lähmende Langeweile vor. Bühnenbildner Thomas Dreißigacker hat Agamemnons Palast als Mix aus Bordell, Nobel-Lounge und Luxusrestaurant mit offener Küche in Szene gesetzt. Rote Klamotten, rote Vorhänge, der Boden übersäht mit roten Äpfeln, im Hintergrund ein Kühlraum, in der eine riesige Schweinehälfte hängt. Jedes Detail macht die obszönen Auswüchse einer von Überfluss und Langeweile geprägten Gesellschaft überdeutlich. In diesem Endzeit-Ambiente erschlägt Klytaimnestra, die sich längst Ägisth (Markus John) als Liebhaber ins Bett geholt hat, erst Agamemnon und dann Kassandra mit dem Beil. Kommentiert und beobachtet wird der Wahnsinn völlig gleichgültig von dem hinreißenden Trio Joachim Meyerhoff, Michael Wittenborn und Gustav Peter Wöhler. Als „Chor der Bürger“ lassen sie die Tragödie immer wieder in die Komödie kippen. Im antiken Griechenland war ihre Funktion die Vermittlung und Wertung der dramatischen Handlung gegenüber dem Publikum. Hier jedoch bilden sie den persiflierenden Kontrapunkt zu einem alptraumhaften Schlachtfest und laufen später als „Die Wohlmeinenden“ im dritten Teil der Orestie zu kabarettistischer Hochform auf. Wie man im Glossar des katalogdicken Programmheftes nachlesen kann, waren die „Eumeniden“ (übersetzt „die Wohlmeinenden“) einst Erinnyen („Die Rasenden“): Rachegöttinnen, die das Ur-Gesetz der Blutrache einforderten und Orest nach dem Muttermord in den Wahnsinn trieben. Nachdem Pallas Athene in einem Gerichtsverfahren Orest freigesprochen hat, verwandelt sie die Erinnyen in Eumeniden, in die wohlmeinenden Schutzgöttinnen Athens.
Das alles ist im Deutschen Schauspielhaus nicht zu sehen. Kein Rechtsstaat am Ende, keine neue Zivilisation mit Ordnung und Gesetz, wie Aischylos sie jubelnd beschwor. Stattdessen fallen die Wohlmeinenden albernd aus der Zeit, philosophieren an einer Tafel pseudointellektuell über Quantenphysik und Schwarze Löcher, Schuld oder Nichtschuld, bis nicht nur die Tafel, sondern auch die Köpfe der Zuschauer rotieren.
Bei Aischylos steht am Schluss die Erkenntnis, dass der Mensch nicht blind die Befehle der Götter befolgen darf, sondern als eigenverantwortliches Individuum handeln muss. Bei Karin Beier steht am Ende Geblödel. Ein Zeichen von Hilflosigkeit. Aber vielleicht auch das Einzige, was dem Wahnsinn auf dieser Welt entgegenzusetzen ist.
"Die Rasenden" ist im Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Kirchenallee 39, 20099 Hamburg zu sehen:
am 9.2. / 5.3. (Teil I) und 6.3. (Teil II) sowie 22.3. und 30.3.
Tickelts unter: www.schauspielhaus.de
Abbildungsnachweis Header-Foto (Schrader, Minichmayr). Copyright: Klaus Lefebvre
Audiomitschnitt aus Teil 1: Iphigenie/Trojanische Krieg/ Troerinnen. Copyright: Deutsches Schauspielhaus Hamburg
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