Saftige, pralle, herzerquickend starke Schauspielkunst. Mit der fulminanten Bühnenfassung von Daniel Kehlmanns Bestseller „Tyll“ meldet sich das Ernst Deutsch Theater nach fünfmonatiger Corona-Zwangspause zurück.
Auf dem Friedrich-Schütter-Platz fast ein Gedränge wie eh und je. Das Premierenpublikum, diese verschworene Gemeinschaft aus Promis und Pressekollegen, erkennt sich auch hinter der Maske.
Freudiges Hallo nach allen Seiten, nur mit etwas mehr Abstand als gewohnt.
Die Gäste sind erstaunlich diszipliniert. Im Gänsemarsch geht es an der Hand-Desinfektionsstation vorbei in den halbleeren Saal. Jede zweite Reihe ist entfernt, jeder dritte Sitz bleibt leer. Nach einer komplett lahmgelegten Saison lässt es sich Intendantin Isabella Vèrtes-Schütter nicht nehmen, das Publikum zum Neuanfang persönlich zu begrüßen. Sie lässt auch keinen Zweifel daran, wie emotional diese Premiere in Zeiten von Corona für sie und das ganze Haus ist. Sichtlich bewegt dankt sie der Kulturbehörde für die immense Unterstützung, dankt allen, die geholfen haben, diese Zeit durchzustehen und die neue Spielzeit zu eröffnen. Diesem Dank kann man sich nur anschließen.
Fünf Jahre hat Daniel Kehlmann an „Tyll“ gearbeitet und 2017 ein gewaltiges Werk vorgelegt. Einen echten Wälzer von 473 Seiten, der ein breites Panorama des Dreißigjährigen Krieges aufreißt, die verzwickten politischen und religiösen Wirren um die Herrschaft im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation in Zeiten von Pest und Inquisition. Und das alles aufgehängt an Till Eulenspiegel, bei Kehlmann Tyll Ulenspiegel, den der Autor aus dem Mittelalter in das frühe 17. Jahrhundert versetzt. Wer sich fragt, wie man ein derartig schweres, auch langatmiges Werk auf zweieinviertel unterhaltsame Stunden eindampfen kann, der sollte sich „Tyll“ im Ernst Deutsch Theater anschauen.
Regisseur Erik Schäffler, er zeichnet auch für die Bühnenfassung verantwortlich, schafft mit seinem unerhört spielfreudigen achtköpfigen Ensemble, was der sprachmächtige Autor mitunter schmerzhaft vermissen lässt: Handfeste Körperlichkeit und – den furchtbaren Umständen zum Trotz echte Lebenslust. Während Kehlmanns Roman von apokalyptischer Dunkelheit erfüllt ist, in der jeder und alles schattenhaft zu versinken drohen, strotzen die Schauspieler in ihren derben Kostümen von Sylvia Wanke nur so von überbordender Kraft und Volkstümlichkeit. Eine Kraft, die den Zuschauer auch über die heraus genommenen Reihen unmittelbar hineinzieht in diese finstere Epoche, die Bühnenbilder Timo von Kriegstein als Trümmerlandschaft angelegt hat.
Ein atmosphärisch dichtes, sinnfälliges Bild für die deutschen Landen um 1640. Nach Jahren der Verwüstung durch marodierende Landsknechte ist nicht mehr viel übriggeblieben von den Dörfern. Rechts, ein halb zerbrochenes Holzgerüst, das mal ein Wehrturm gewesen sein mag. Links ein Podest, ebenso wandlungsfähig wie Mignon Remé, Ines Nieri, Frank Jordan, Maximilian von Mühlen, Oliver Hermann und Axel Pätz, die in fliegendem Wechsel in 33 Rollen schlüpfen.
Leben kommt in die Menge, als die Gaukler im Dorf auftauchen, mittenmang Tyll, der König aller fahrenden Gesellen, der in der grausigen ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wie auch in Corona-Zeiten als Metapher stehen mag: Als ein Sinnbild der Kunst, der geistigen Nahrung, nach der die Menschen ebenso hungern und dursten, wie nach Essen und Trinken. Der Spaßmacher und Possenreißer passt in kein System. Er ist unangepasst, unbeugsam, unsozial. Ein Anarchist. Er bringt Volk und Herrschenden Unterhaltung, aber auch zur Verzweiflung mit seinem Spott und den üblen Streichen. Kunst ist halt nicht nur nett. Kunst kann auch wehtun.
Bei Schäffler gibt es gleich zwei Tylls. Einen jungen (Rune Jürgensen) und einen alten (Sven Walser). Beide ganz großartig und unerhört präsent, der eine als hochfahrender Luftikus, der andere als weiser Zyniker mit Narrenkappe. Schäffler lässt sich viel Zeit, die Geschichte des jungen Tyll zu erzählen, der mitansehen muss, wie sich sein Vater, der wissbegierige Müller Claus (Frank Jordan), vor dem Inquisitor und katholischen Universalgelehrten Athanasius Kirchner (hervorragend Oliver Hermann) um Kopf und Kragen redet. Wie die Mutter den Vater verrät und der gute Mann unter der Folter gesteht, ein Hexer zu sein. Tyll flieht, er will nach England und zwar mit Nele, der süßen Bäckerstochter, der Ines Nieri freches Selbstbewusstsein mitgibt.
Die Zeit auf der Flucht, unter der Knute des bösartigen Pirmin, wäre ohne die musikalischen Einlagen des amüsanten Bänkelsängers (Axel Pätz, überzeugt auch als sprechender Esel) sicher zu langatmig. Andererseits baucht man diese Ausführlichkeit, um zu verstehen, wie und warum der Müllersohn zu dem verschlagenen, undurchsichtigen Freigeist heranreifte, den die Literatur überlieferte. In Kehlmanns Roman schafft es Tyll sogar an den Hof des ins Exil verbannten protestantischen Kurfürsten und kurzzeitigen Königs von Böhmen, Friedrich V. (Maximilian von Mühlen) und seiner englischen Gemahlin Elisabeth Stuart (eine Paraderolle für die brillante Mingnon Remé). Friedrich ist übrigens die zweite Figur des Abends, die gedoppelt erscheint und zwar als Puppe. Besser kann man die Hilflosigkeit und Tragik des glücklosen „Winterkönigs“ gar nicht zum Ausdruck bringen, dessen Krönung zum Böhmischen König einer der Auslöser des Dreißigjährigen Krieges war.
Fazit: In Kehlmanns Roman wird viel gestorben. Auf der Bühne des EDT aber tobt das Leben. Endlich wieder Theater!
„Tyll“ (Daniel Kehlmann)
Bühnenfassung, Regie: Erik Schäffler
Bühne: Timo von Kriegstein
Kostüme, Masken: Sylvia Wanke
Video: Sylvia Wanke, Manuel Schulte
Musik, Sounds: Markus Voigt
Ensemble: Oliver Hermann, Frank Jordan, Rune Jürgensen, Ines Nieri, Axel Pätz, Mignon Remé, Maximilian von Mühlen, Sven Walser
Zu sehen bis 26. September 2020
Im Ernst Deutsch Theater, Hauptbühne; Friedrich-Schütter-Platz 1, Hamburg
Weitere Informationen und Karten unter www.ernst-deutsch-theater.de
Fotonachweis: © Oliver Fantitsch
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