Theater - Tanz
1980 – Ein Stück von Pina Bausch Foto Oliver Look

Vier Stunden und keine Minute zu lang. Auf Kampnagel begeisterte das Tanztheater Wuppertal mit seinem Gastspiel „1980 – Ein Stück von Pina Bausch“ – einem wahrhaft magischen Abend, dem es 39 Jahre nach seiner Uraufführung immer noch gelingt, Sehgewohnheiten zu torpedieren.

Man kann sich lebhaft vorstellen, welchen Schock dieses Stück im Entstehungsjahr 1980 ausgelöst haben muss. Keine elegischen Tänzerinnen und Tänzer in transparenten Trikots, die in sublimer Technik hochathletisch über die Bühne springen. Vielmehr ein schriller Haufen elegant gekleideter Damen und Herren mittleren Alters, die eine seltsamen Polonaise quer durch die Zuschauerreihen vollführen, Kinderlieder singen und Kinderspiele, wie „Der Plumsack geht um“ und „Fischer, wie tief ist das Wasser?“ spielen. Oder hysterisch kreischend umherhüpfen, am Daumen lutschen, die Hosen runterlassen, den nackten Po präsentieren, Zungenbrecher herunter haspeln, ihre Beine, Narben und Ängste zum Besten geben oder nackt auf dem Schafsfell mit Rassel klappern. Es gibt jede Menge absurder Szenen an diesem Abend. Tausend Sachen, die erwachsene Menschen einfach nicht machen und die aus ihrer grotesken Lächerlichkeit ihre abgründige Komik schöpfen. Lauter Dinge passieren gleichzeitig, sodass man gar nicht alles erfassen kann, sondern nur Ausschnitte aus dieser der Traumlogik folgenden Simultan-Choreographie.

www.kampnagel.deSelbst heute, knapp 40 Jahre später, scheint dieses Stück für einige Zuschauer zu starker Tobak zu sein, ein paar verließen schnellen Schrittes den Saal. Für alle anderen gilt: Selten so gelacht! „1980“ ist einfach irre komisch! Dabei ist diese Choreographie, die zu den wichtigsten von Pina Pausch (1940-2009) zählt, eine erklärte „Trauer-Arbeit“. Fünf Monate vor der Uraufführung im Mai 1980 starb ihr Lebensgefährte, der Bühnenbilder Rolf Borzik, mit nur 35 Jahren. „Ich wusste, dass ich meiner Trauer, meinem Respekt eine Form geben konnte, indem ich ein neues Stück machte“, erinnerte sich die legendäre Tanztheater-Pionierin später einmal.
Peter Pabst, der Pina Bausch die folgenden Jahrzehnte als Bühnenbildner zur Seite stand, schuf für „1980“ eine raumgreifende Spielwiese aus Rollrasen, auf der ein kleines Reh die ganze Zeit im Hintergrund steht. Es ist unschwer als Geistwesen auszumachen, als Sinnbild für Einsamkeit und Verlust, dem in diesem Stück nachgespürt wird. Erinnerung ist das Leitthema dieser Choreographie. Erinnerung an geliebte Menschen ebenso, wie an die Kindheit, die keineswegs immer nur glücklich erscheint. Es ist rührend, wenn Blanca Noguerol Ramirez „Happy Birthday to me“ singt, weil sonst niemand da ist. Am berührendsten aber ist eine andere Schlüsselszene: Das gesamte Ensemble steht vor der Tänzerin Nayoung Kim, einer nach dem anderen verabschiedet sie mit ein paar Worten. „Tschüss, mach’s gut“. „Passen Sie gut auf sich auf“. „Grüßen Sie Ihre Mutter von mir“. Es sind liebevolle und höfliche Worte. Manchmal auch ungelenk barsch, doch letztendlich hilflos. Alles Floskeln, die den Schmerz kaschieren.

Es gibt viele poetische, melancholische Momente an diesem hinreißenden Abend, zu dem die Musik (u.a. von John Dowland, Johannes Brahms, Claude Debussy, Benny Goodman und den Comedian Harmonists) meist von knisternden alten Schellackplatten erklingt. Es gibt jedoch genauso viele witzige, groteske und zauberhafte Momente (auch dank Zauberkünstler Rainer Roth). Wie man dieses Stück letztlich empfindet, ob lustig oder schwermütig, liegt wohl an der jeweiligen Verfassung des Zuschauers.

Ganz und gar unabhängig von den eigenen Befindlichkeiten ist indes die Qualität des Ensembles: Die 18 Tänzerinnen und Tänzer der Neueinstudierung sind allesamt zum Niederknien gut. Allen voran die australische Tänzerin Julie Shanahan, deren Kabinettstückchen als überkandidelte Diva oder vorlautes Casting-Girl Lachtränen in die Augen treiben. Shanahan ist mittlerweile Mitte 50 und scheint immer besser zu werden. Auch die Schauspielerin Sija Bächli besticht als Komödiantin, wie überhaupt alle Tänzer erstaunliches Talent in Sachen Komik besitzen. Beispielhaft sei hier nur Eddie Martinez erwähnt, der zu Anfang im schwarzen Anzug und Suppenschüssel unterm Arm, brav seinen Brei löffelt: „Einen für Mama, einen für Papa…..“. Oder Michael Strecker, der in stoischer Gelassenheit als nackter König über die Bühne stolziert. Nicht zu vergessen natürlich Scott Jennings, der sich zunehmend zum autoritären Spielmacher mausert. Jennings führt die Tänzer wie bei einer Casting-Show vor, lässt sie um die schönsten Beine buhlen (heute sind wir an bizarre TV-Shows wie „Germany’s next Topmodel“ gewöhnt, 1980 war das visionär!), herrscht sie an, ihre Heimat zu beschreiben und sich zwei Sätze zum „Dinosaurier“ einfallen zu lassen, um dann, in einer Art Schlussmonolog, einem Stuhl eine Liebeserklärung zu machen.

Fazit: Hingehen und ansehen. Diesen Meilenstein in der Geschichte des Tanztheaters darf man einfach nicht verpassen.

„1980 – Ein Stück von Pina Bausch“

noch Samstag (26.1.) und Sonntag (27.1.), 20 Uhr,
Kampnagel, K6, jeweils 20 Uhr, Jarrestraße 20.
Karten und Infos unter www.kampnagel.de


Abbildungsnachweis:
Header: Ensemble Pina Bausch. Foto: Oliver Look
im Text: 1980 Pina Bausch. Foto: Jochen Viehoff

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