Das Hamburg Ballett führt in seinem diesjährigen Spielplan „Das Lied von der Erde“ von John Neumeier mehrmals in der Staatsoper Hamburg auf. 2015 wurde das Werk für das Ballet de l’Opéra de Paris choreographiert und anschließend für Hamburg neu entwickelt.
Zugrunde liegt die 1907 bis 1908 von Gustav Mahler (1860-1911) komponierte gleichnamige „Sinfonie“, die sich jedoch sowohl einer direkten musikalischen Zuordnung als auch Kategorisierung entzieht. Für Mahler war das Werk eines im Übergang. Er wiederum legte für seine Vertonung Nachdichtungen chinesischer Lyrik aus dem 8. Jahrhundert zu Grunde. Somit spannt sich beim „Das Lied von der Erde“ ein zeitlich-kultureller Bogen über mehr als ein Jahrtausend bis ins Heute.
Anders als die meisten bereits veröffentlichten Kritiken über das Stück, die Mahler und Neumeier vollkommen legitim in zu hinterfragender musikalischer und tänzerischer Verbindung sehen und der konkreten Frage nachgehen, inwieweit Neumeier als Reflex auf und mit Mahlers Komposition gearbeitet und interpretiert hat. Wenn zumeist die Choreographie und fehlende Empathie im Zentrum von Kritik stand, so sind die tänzerischen Qualitäten unumstritten. Es hilft hier also nicht, schriftliche Wiederholungen zu produzieren. Für den Autor dieses Textes und nach Aufführungsbesuch von „Das Lied von der Erde“ in der Staatsoper Hamburg stellen sich vollkommen andere Fragen, beispielweise: Wie kann sich wahre künstlerische Verbundenheit mit Vorgängergenerationen definieren? Was bedeutet die Transformation – im Sinne von Übergang – für das Stück, wenn sich Künstler auf einander und auf die Werke berufen? Und wo verwischen sich Grenzen durch transkulturelles Handeln?
John Neumeiers Werk „Das Lied von der Erde“ eignet sich für die Beantwortung auch jener Fragen par excellence und man anerkennt sehr bald ad Infinitum die herausragende Leistung des Ballettchefs, seines Teams und Ensembles: Ändert man nämlich den wie selbstverständlich und vorgefassten zeitlichen Blickwinkel und die damit verbundene Beurteilung, die sich aus einer vermeintlichen kreativen Abfolge ergibt, ändern sich eben auch die Fragen und Antworten. Neumeier interpretiert nicht lediglich Mahlers Musik, er nutzt sie und kreiert einen „Dritten Raum“. Genau dies ist die eigentliche Leistung. Anstatt die Genres von Dichtung (Text) – Musik – Tanz separat auszudifferenzieren und in eine Hierarchie zu setzen, entsteht bei Neumeier eine freiheitliche Verschmelzung und Fortschreibung von Kultur. Die Idee sowie deren Ausführung übersteigt bei weitem das, was wir in der Komposition Mahlers und der Dichtung vorfinden, ohne dass dies natürlich unberührt bliebe. Dieses nun neue Stück überführt uns in eine imaginäre und visuelle Welt. Neumeier schafft somit neues Erleben, neues Sehen und neue Emotionen: eine neue Wahrheit.
Genau darum ist es verständlich, dass der Hamburger Ballettchef sowohl für Choreographie, Bühnenbild, Licht und Kostüme zeichnet. Aber auch aus künstlerischer Sicht macht die umfassende Personenbezogenheit Sinn, um eine Einheit und Handschrift zu schaffen, die zuvor weder in der überarbeiteten chinesischen Dichtung, noch in der Musik Mahlers konkret so angelegt ist. Das Novum in Neumeiers Arbeit liegt in der Fähigkeit der Geschichte eine weitere Schichtung hinzu zu fügen, die wiederum eine eigene, fast schon serielle Folge ergibt. „Das Lied von der Erde“ vom Hamburg Ballett ist deswegen auch alles andere als ein Remake, ein Re-Writing oder Re-Composing, es ist die Fortschreibung von etwas, was vor über eintausend Jahren entstand und anschließend mehrere Filter in verschiedenen Epochen durchlaufen hat, insbesondere die von Übersetzungen in andere Sprachen und in Musik. Nur als Randnotiz erwähnt: Kurioserweise finalisierte sich im Jahr 2004 eine von Daniel Ng und Glen Cortese erarbeitete kantonesische Übersetzung, quasi eine Rückführung oder zumindest Annäherung an den Ausgangstext. Die Weltpremiere der chinesischen “Das Lied von der Erde“-Version fand im August 2004 in Singapur statt.
Ein weiteres Merkmal der Aufführung zeigt sich in der Aneinanderreihung fragmentarischer Einzelmotive und -sequenzen die sich nicht aus einem vorgegebenen narrativen Strang speisen. John Neumeier begeht nicht den Fehler wie bei einer Gebrauchsanweisung eine unumstößliche Vorgabe von Dichtung und Musik weiterzureichen, sondern er lässt uns Publikum emotionale, geistige und interpretatorische Freiräume. Er stärkt damit unsere Verantwortlichkeit an dem Stück, durch unsere Kommunikationsbereitschaft. Wir graben zwar in uns und unserer Gefühlswelt, jedoch durch die tänzerische Ästhetik wird uns permanent Hoffnung vermittelt, die die menschlichen Abgründe relativieren können. Der Abschied ist schließlich nicht das kalte Grab und der Kummer, vielmehr besteht das Moment der Erlösung – ohne, dass dies religiös zu sehen wäre.
Bei Neumeiers „Das Lied von der Erde“ bleiben die Fragmente nicht solitär stehen, es gibt neben der Architektur des Tanzes und kleinen wiederkehrenden Gesten auch konstante Verortungen im Bühnenraum. So zeigt die leicht schräg stehende spiegelnde Fläche über einem Teil des Bühnenraums als Firmament die Wiederholung dessen, was sich auf der Erde ereignet. So ist die bewegliche Scheibe eines Gestirns, mittig-rechts in der goldenen Rückwand, sich verändernder Kosmos, mal Sonne, mal Planet, mal Mond, mal abnehmend, mal zunehmend. Das Motiv der Zeit und der Vergänglichkeit in der Reduktion einer überaus schlichten Form – hier ist Neumeier ganz asiatisch. Und schließt letztlich den Kreis zur fernöstlichen Lyrik, denn ein Teil der Kostüme, die Idee der konzentrierten Reduktion auf das Wesentliche und das „Lob des Schattens“ (Junichiro Tanizaki) in der Lichtführung. Die Schatten spielen überhaupt in der Lichtführung eine sehr eigene Rolle, sie sind permanente unübersehbare Begleiter im Reigen der Jahreszeiten, der Natur, des Lebens, der Liebe – des Tanzes. Das Licht hingegen ist Bild-gebend.
Auch die transkulturelle Leistung dieses Stücks darf nicht unerwähnt bleiben. Die gesamte Inszenierung lebt evident von Kulturzitaten. Diese sind gleichermaßen, in Text, Musik und Tanz zu finden. Diese Zitate sind zeitlich und inhaltlich miteinander konnotiert. Wenn Neumeiers Kostüme beispielsweise fernöstlich anmuten, so sind sie im selben Moment auch von der europäischen Renaissance geprägt. Die Bilder der Bühne und die Parallelbilder, die bei uns im Kopf entstehen sind mit Bildern verknüpft, die wir bereits aus der Renaissancemalerei, aus der chinesischen und japanischen Landschafts- und Portraitmalerei kennen. Die Vorstellung von Natur auf einem kleinen, keilförmig ansteigenden Rasenstück ist zwar eine Abstraktion, spielt aber gleichzeitig mit der gestalterischen Kraft von englischen Landschaftsbildern des 17. und 18. Jahrhunderts. Diese Durchdringung und Mischung von Kulturen lassen neue soziale Räume – auch von psychosozialer, Identitäts-definitorischer und globaler/lokaler Bedeutung für uns Publikum erkennen. Wir können zwar ein Stück weit in jene vorher erwähnten und bereits bekannten Räume und Bilder folgen, erschließen aber – und das ist einzigartig – jene, die uns nur über die Ballettbearbeitung und durch Neumeiers schöpferische Auffassung vermittelt werden, neu.
Das Lied von der Erde – Ballett von John Neumeier
Nach der Musik von Gustav MahlerHamburg Ballett
1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
Weitere Aufführung: Samstag 30.06.2018, 19.30 Uhr
Staatsoper Hamburg, Großes Haus, Dammtorstraße 28, 20354 Hamburg
Weitere Informationen
YouTube-Video
Das Lied von der Erde - Ballett von John Neumeier
Lesen Sie den KulturPort.De-Beitrag von Hans-Juergen Fink zu „Das Lied von der Erde“ (2016)
Abbildungsnachweis:
Header und Galerie: Szenen aus „Das Lied von der Erde“. Fotos: © Kiran West
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