Alain Platel: „Tauberbach“
- Geschrieben von Isabelle Hofmann -
Was heißt normal, was heißt behindert?
In Alain Platels Stück „Tauberbach“ sind wir alle beschädigt – und Teil einer Wahnsinnswelt, die der belgische Choreograph und seine Compagnie „Les ballets C de la B“ als einzige große Müllhalde zeigen. Mit Platels furiosem apokalyptischem Abgesang auf Humanismus und Zivilisation endete am Wochenende auf Kampnagel das Hamburger Theaterfestival.
Ein Meer aus Lumpen. Der ganze Boden ist überhäuft mit Altkleidern, selbst die beiden Lichtbrücken, die sich anfangs langsam in Bewegung setzen, sind voll davon. Dass in dem Textilmüll auch noch menschliche Wesen stecken, fällt erst auf, als sich ein, zwei Körper mit in die Höhe ziehen, wieder abspringen, um wie gefallene Engel mit verrenkten Gliedern selbstverloren durch das Meer zu schwimmen. Ungerührt vom Getümmel um sie herum steht eine Frau, die auf Englisch und Fantasiesprachen vor sich hin brabbelt, in die von der Decke hängenden Mikrofone schreit und immer wieder mit den Stimmen in ihrem Kopf hadert. Gott erklingt als sonorer Bariton aus dem Off, ruft „Fahr zur Hölle“ und „Ich habe Euch geliebt, aber ihr seid unfähig wie Schweine“. Dann ertönt Bach, gesungen von einem Gehörlosen-Chor, roh und verstümmelt, aber nicht abstoßend, sondern anrührend in seiner unartikulierten Kreatürlichkeit. So anrührend und merkwürdig schön, wie die verquält-verstörten Bewegungsmuster der fünf hervorragenden Tänzer, die um diese Frau kreisen. Zu zweit, in Gruppen oder allein, erscheint jeder als Autist, gefangen in seinen Wahnvorstellungen und einem Körper, dessen Kontrolle ihm versagt bleibt. Verkrampft, verrenkt und verrückt brechen sich immer wieder Obsessionen bahn, münden in Aggressivität und Geilheit, archaischen und animalischen Ritualen, aber auch in überraschender Komik.
„Tauberbach“ ist zum einen inspiriert von „Tauber Bach“, dem Projekt des polnischen Künstlers Artur Zmijewski, der Bachs Chorgesang mit Gehörlosen in der Leipziger Thomaskirche einstudierte. Zum anderen von Marcos Prados Dokumentation über eine 63-jährige schizophrene Brasilianerin, die ihr bürgerliches Mittelstandsleben gegen eine Müllhalde bei Rio de Janeiro eintauschte. Weder ihre Kinder noch die Psychiatrie konnten „Estamira“ davon abhalten, immer wieder dorthin zurückzukehren. Elsie de Brauw spielt diese Frau mit Würde, Witz und Wut. Auf ihrer Müllhalde, so schleudert sie der Überflussgesellschaft entgegen, gäbe es alles, Milch, Honig, selbst Spaghetti. Ihre Stärke und Überlegenheit scheint in dem Maße zu wachsen, in dem die fünf Ausgestoßenen ihr zusetzen, sie angreifen, entkleiden, herumschleppen, überfallen.
Provokante Choreographien ist man von Alain Platel gewohnt. Seine Vergangenheit als Psychologe und Heilpädagoge beeinflussten schon frühere Stücke, doch so exzessiv triebgesteuert in ihren schamlosen Paarungsversuchen und Zurschaustellung deformierter Persönlichkeit sah man die Tänzer seiner Compagnie wohl noch nie. Großartig alle fünf, insbesondere Romeu Runa. Sein hocherotisches Solo im bodenlangen Abendkleid (Platels Verbeugung vor Pina Bausch), sowie das ekstatische Liebesspiel mit seiner Partnerin Lisi Estaras wird man nicht so schnell vergessen.
„Ich bin immer überrascht, dass es nicht mehr Wahnsinn gibt auf der Welt“, sagte Alain Platel einmal. „Dass die Menschen nicht noch mehr töten oder einfach verrückt werden“. Dieses Stück ist seine Bestandsaufnahme. Und die ist so gnadenlos hart und hellsichtig, dass es weh tut.
Alain Platel: "Tauberbach"
Von und mit: Bérengère Bodin, Elsie de Brauw, Lisi Estaras, Ross McCormack, Elie Tass, Romeu Runa
Regie: Alain Platel
Bühne: Alain Platel, Les Ballets C de la B
Kostüme: Teresa Vergho
Musikalische Konzeption: Steven Prengels
Sounddesign: Bart Uyttersprot
Dramaturgie: Koen Tachelet, Hildegard de Vuyst
Trailer zu Tauberbach aus den Münchner Kammerspielen
Abbildungsnachweis:
Headerfoto: Szene aus Alain Platel: "Tauberbach". © Julian Röder
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