Mit dem Titel ihres Gerichtsdramas „Anatomie eines Falls“ spielt die französische Regisseurin Justine Triet auf Otto Premingers US-Klassiker „Anatomie eines Mordes“ von 1959 an und setzt so bewusst das Kinopublikum auf die erste von vielen falschen Fährten.
Der packende, seltsam verstörende Thriller über eine zerrüttete Paarbeziehung erhielt in Cannes die Goldene Palme. Überragend Sandra Hüller in der Rolle der Angeklagten: Kühl, überlegen, distanziert, völlig undurchschaubar. Als „Monster“ hatte sie der Ehemann zu Lebzeiten bezeichnet, und doch, wir, in der Rolle Geschworenen, ergreifen für sie Partei.
Die erfolgreiche deutsche Schriftstellerin Sandra Voyter (Sandra Hüller) lebt mit ihrem französischen Ehemann Samuel (Samuel Theis) und dem 11-jährigen Sohn Daniel zurückgezogen in den Bergen bei Grenoble. Eine trügerische Idylle. Seit der Junge durch einen Unfall fast fast erblindete, quälen Samuel nicht nur Schuldgefühle sondern auch Eifersucht und Neid auf die Karriere auf seine Frau. An diesem Tag besucht eine Studentin die Autorin, will sich für ihre Doktorarbeit über Sandras Arbeitsweise informieren. Während die beiden entspannt bei einem Glas Wein über Wahrheit und Fiktion diskutieren, setzt aus dem oberen Stockwerk donnernd die Instrumentalversion des Rap-Titels P.I.M.P ein, schallt in ohrenbetäubender Endlosschleife durch die Räume des ablegenden Chalets in den schneebedeckten Alpen. Jedes Gespräch wird unmöglich, die Studentin verabschiedet sich. All jene- im Moment scheinbar unwichtigen Details- werden später, wenn es zum Prozess kommt, eine entscheidende Rolle spielen.
Sohn Daniel (Milo Machado Graner) macht sich mit Border Collie Snoop auf zu einem Spaziergang im Schnee. Bei der Rückkehr findet er seinen Vater mit blutender Kopfwunde vor dem Chalet. Eine herbeigerufene Ambulanz kann nur noch den Tod bestätigen. Die Polizei ermittelt: Wie und warum kam es zu dem Sturz aus dem dritten Stock? War es ein Unfall, Suizid oder ein Gewaltverbrechen? Trotz mangelnder Beweise gerät Sandra unter Verdacht, ihren Mann umgebracht zu haben. Mit ihrem Anwalt, dem einst wohl sehr engen und heute guten Freund Vincent Renzi (Swann Arlaud) bereitet sie sich auf eine mögliche Anklage vor, erzählt ihm ihre Version vom Tag des Geschehens. Samuel sei kurz in ihr Schlafzimmer gekommen und nach ein paar Worten gegangen, sie erledigt eine Übersetzung, steckt sich Stöpsel ins Ohr, um schlafen zu können. Eine Stunde später hörte sie Daniel schreien. Vincent Renzi will alles möglichst genau wissen, auch woher ihre blauen Flecken am Arm stammen. Die Erklärung, sie stoße sich ständig am Küchentisch, klingt wenig überzeugend. Sandra spürt die Skepsis. Mit einem „Stopp, ich habe ihn nicht getötet," wehrt sie weitere Fragen ab. Einen Selbstmord kann sie sich nicht vorstellen, aber genau darauf basiert die Verteidigungsstrategie ihres Anwalts.
Der Staatsanwalt macht kein Hehl aus seiner Voreingenommen, genießt die eigene Eloquenz, seine Wortgefechte. Verführerisch, geradezu gerissen in seiner Argumentation, versucht er die schwer durchschaubare Angeklagte zu provozieren. Einem stockt der Atem. Die Angeklagte muss in Französisch, einer Sprache, die ihr auch nach Jahren noch immer fremd ist, Rede und Antwort stehen. Manchmal fehlen ihr die Worte, stockt oder zögert sie. Daheim hatte das Ehepaar Englisch gesprochen, ein Kompromiss, der Versuch keinen zu benachteiligen. Während der Verhandlung zeigt sich immer offensichtlicher, dass diese beiden nie wirklich eine gemeinsame Sprache fanden. Erschreckend wie der Prozess sich entwickelt zu einer Art Weiterführung der ehelichen Auseinandersetzungen. Mit intellektueller Süffisanz und Selbstverständlichkeit spielt sich der Staatsanwalt zum Beschützer des Toten auf, setzt die kühle und kontrollierte Sandra zunehmend unter Druck, spekuliert darauf, dass sie sich zu sexistische Bemerkungen hinreißen zu lässt, endlich die Beherrschung verliert. Samuels ehemaliger Arzt beschuldigt sie, ihrem Mann Schuldgefühle vermittelt zu haben, materielle Probleme auf ihn abgewälzt zu haben. Klingt wenig überzeugend.
Auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin ist der 11jährige Daniel unter den Zuschauern während des Prozesses. Das Gericht hat ihm eine Betreuerin zur Seite gestellt. Irgendwann weiß auch er nicht mehr, was er glauben soll. Und auch wir wissen nicht, was wir aus seinen widersprüchlichen Aussagen folgern sollen. Je mehr wir erfahrend, desto weniger wissen wir. Die Wahrheit verschwindet im Nebel der Fakten. Daniel, ein Kind, das innerhalb weniger Wochen gezwungen ist, erwachsen zu werden. Grandios wie nuanciert Milo Machado Graner den intelligenten musikalischen Jungen mit der Sehbehinderung verkörpert. Das Chalet, seine Kindheit, muss einem Minenfeld geähnelt haben, aber er will die Zusammenhänge verstehen, wissen, was sich wirklich an jenem Nachmittag ereignet hat. Dem Gericht wird ein USB-Stick präsentiert mit der von Samuel heimlich aufgenommenen Audio-Aufnahme eines hasserfüllten Streits am Vorabend des Todestages.
Das Drehbuch schrieb Regisseurin Justine Triet („Sybil - Therapie zwecklos“, 2019) zusammen mit ihrem Partner, dem Autorenfilmer und Schauspieler Arthur Harari („Onoda – 10 000 Nächte im Dschungel“, 2021). Triet versucht der Realität so nah wie möglich zu kommen, verzichtet dabei (mit einer Ausnahme) auf Rückblenden, entscheidet sich vielmehr für einen fast dokumentarischen Stil. Ihr Ziel: größtmögliche Sachlichkeit. Die Situation ist ohnehin bis zum Äußersten emotional aufgeladen, das akribische Sezieren der Ehe ein verstörend intimer Vorgang. Sandra schreibt Romane, die inspiriert von selbst Erlebtem sind. War die heimliche Audio-Aufnahme des Ehemanns der Versuch ihre literarische Strategie zu übernehmen oder nur die Falle eines rachsüchtigen Partners, frustriert, vom Leben enttäuscht, gedemütigt, der seiner Frau sogar im Bett ihre Dominanz vorwirft. Sie dagegen ist der moralisierenden Tiraden überdrüssig, den permanenten Schuldzuweisungen. Bebilderte Rückblenden lassen einen schon lange schwelenden Konflikt ahnen. Die Tonbandaufnahme endet ohne Szenenbilder in einem undefinierbaren Lärm aus splitterndem Glas, Poltern, Geräusche körperliche Gewalt. Er: „Du bist brutal!“- Sie: „Ja, ich bin brutal“. Was geschah an jenem Abend?
„Anatomie eines Falls“ ist genau das Gegenteil der üblichen Gerichtsdramen, es konfrontiert uns mit der Fehlbarkeit der eigenen Wahrnehmung. Die erste Einstellung des Films Ein Ball fällt die Treppe herunter. Justine Triet: „Das Fallen im Film ist eine Art Obsession, zunächst auf eine sehr physische, konkrete Weise. Wie fühlt es sich an, wenn etwas fällt? Die Idee des „Körpergewichts“, das Gewicht eines fallenden Körpers, habe ich schon lange im Kopf, vor allem seit dem Vorspann von „Mad Men“, diesem Mann, der immer wieder fällt…
In meinem Film geht man nur Treppen rauf und runter, schaut von unten nach oben, von oben auf den Boden, um den Sturz zu rekonstruieren und zu verstehen. Also mussten wir mit einem Kniff in den Film einsteigen: Ein Ball fällt, wird vom Hund aufgefangen, der Sandra, unsere Figur ansieht und uns sagt: Sie ist es, die wir versuchen zu verstehen, sie ist es, die wir zweieinhalb Stunden beobachten."
Der Streit eines Paares, der Eltern eines Kindes stehen im Mittelpunkt des Films. „Es ist ein Film über das Paar und über die Aufteilung der Zeit. Das Kind steht im Mittelpunkt dieser Ein- und Aufteilung. Was schuldet man sich als Paar? Was gibt man einander? Ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen möglich? Das sind Fragen, die mich beschäftigen und deren Behandlung im Kino oft fehlt. Hier ist Sandra Voyter, eine anerkannte Schriftstellerin, ihr Mann ist Professor und unterrichtet ihren Sohn zu Hause, während er selbst versucht einen Roman zu schreiben. Das archetypische Schema eines Paares existiert hier nicht, die Rollen sind vertauscht. Ich zeige eine Frau, die ein Ungleichgewicht schafft, indem sie sich ihre Freiheit nimmt und nach ihren Wünschen lebt. Gleichberechtigung in der Partnerschaft ist eine wunderbare Utopie, aber sehr schwer zu erreichen, und Sandra beschließt, zu nehmen, ohne zu fragen, wohl wissend, dass sie sonst leer ausgeht. Diese Haltung verleiht eine Form von Macht und ist auch zu hinterfragen. Und der Film tut nichts anderes als das: Er hinterfragt.
Bei Paaren geht es um Versuche der Demokratie, die immer wieder von diktatorischen Impulsen unterbrochen werden. Und hier eskaliert die Situation fast zu einem Krieg, geprägt von einer starken Rivalität. Sandra und Samuel haben sich gegenseitig in die Falle gelockt, und etwas zwischen ihnen ist verloren gegangen, weil niemand zurückstecken will. Aber sie sind große Idealisten, ich mag diese Menschen, weil sie nicht resignieren. Selbst in der Streitszene, die eigentlich eine Verhandlung ist, hauen sie sich weiterhin die Wahrheit um die Ohren. Für mich ist da noch etwas von der einstigen Liebe zu spüren.
Im Grunde ist das Gericht der Ort, an dem unsere Geschichte nicht mehr uns gehört, sondern der Beurteilung anderer obliegt, die sie aus verstreuten, vieldeutigen Elementen zusammensetzen müssen. Da wird die Wahrheit zwangsläufig zur Fiktion, und genau das ist es, was mich interessiert."
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Originaltitel: Anatomie d’une chute
Regie: Justine Triet
Drehbuch: Justine Triet, Arthur Harari
Darsteller: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Samuel Theis, Milo Machado Graner, Antoine Reinartz
Produktionsland: Frankreich, 2023
Länge: 151 Min.
Kinostart: 2. November 2023
Verleih: Plaion Pictures
Fotos, Pressematerial & Trailer: Plaion Pictures © LesFilmsPelleas/LesFilmsDePierre
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