„Beau is Afraid“, das mit Spannung erwartete Opus Magnum des US-amerikanischen Regisseurs Ari Aster, erreichte in den vergangenen Wochen nie die Top-Positionen der Arthaus-Charts und entwickelt sich an den europäischen Kinokassen zum Flop.
Zu Unrecht. Erleben wir doch an der Seite des tragisch kläglichen Helden, grandios verkörpert von Joaquin Phoenix, eine unvergleichliche bildgewaltige ödipale Odyssee durch seelische Untiefen als Spurensuche gesellschaftlicher Machtstrukturen. Beaus Dasein, in jedem Moment von Versagensängsten und Panikattacken geprägt, schnürt uns die Kehle zu, so unerbittlich konzentriert sich die visionäre Horror-Komödie auf ihre opulente Ausweglosigkeit.
Mit seiner blutigen mysteriösen Familien-Saga „Hereditary – Das Vermächtnis“ stieg der heute 36jährige Ari Aster 2018 zum Kult-Regisseur auf, das ambitionierte Gesamtkunstwerk galt bald schon als Synonym für psychologischen Horror. Für das Spielfilmdebüt nahm Aster den ästhetischen Freiraum des Genres als Herausforderung an, verzichtete weitgehend auf das übliche Repertoire an Tricks wie Jump-Scares und Gruseleffekte. Der Zuschauer glaubte irgendwo im Dunkel die geisterähnliche Präsenz von Roman Polanski („Rosemary’s Baby”,1968), Ingmar Bergman („Cries und Whispers“, 1972) und Nicolas Roeg („Don’t look now”,1973) zu spüren, der Autorenfilmer imitiert nie, es sind nur sanfte Anspielungen, eine respektvolle Verbeugung gegenüber jenen, die ihn auf der Leinwand ihre Geheimnisse des Metiers lehrten. Er selbst ist nach eigenen Worten seit dem vierten Lebensjahr vom Genre besessen und eröffnet nun dem Horror neue visuelle Dimensionen. „Hereditary“ (dt.: vererbbar) erzählt von der Künstlerin Annie Graham (Toni Colette), die eigentlich nie Kinder haben wollte, vielleicht ahnte sie welch tückisches Erbgut ihr Blut vergiftet, da gab es den depressiven Vater, der sich zu Tode hungerte und den schizophrene älteren Bruder, der sich erhängte. Doch sie bemüht sich um den Anschein von Normalität, eine heile Familie. Nur wenn sie über ihre Mutter Eileen spricht, mischt sich in jedes der Worte Bitterkeit.
Annie kreiert Modellbauten, die dem eigenen Heim bis ins letzte grauenvolle Detail gleichen, da steht eine fünfundsechzigjährige Eileen im Nachthemd neben dem Bett ihrer Tochter, entblößt die Brust, weil sie die Enkelin stillen will. Abscheu und Entsetzen sind oft unerträglich. Wenigstens diese Miniatur-Welt glaubt die Protagonistin kontrollieren zu können, ein Trugschluss, auf ihr lasten die Erinnerungen der Vergangenheit. Ari Aster hat eigene Familientraumata in seinem Drehbuch verarbeitet. Die Kamera (überragend Pawel Pogorzelski) gleitet durch die Kopie des im Wald gelegenen Hauses, hinein in das Zimmer des schlafenden Sohnes. Als sich die gegenüberliegende Tür öffnet, und Steven, der Vater (Gabriel Byrne) hereinkommt, um zu ihn zu wecken, ist die Grenze zwischen Realität und Abbildung, Kunst und Okkultem aufgelöst. Von nun an weiß der Zuschauer nie mehr, wo er sich befindet, in einem Puppenhaus oder der Wirklichkeit. Bei der Beerdigung genügte ein Schwenk nach unten, um den Dämonen ihren Weg in die Gegenwart zu ebnen. Das Anwesen der Grahams scheint von außen eine elegant moderne architektonische Schöpfung aus Stahl und Holz, aber innen ähnelt es in seiner düsteren Bedrohlichkeit den verwinkelten geheimnisvollen viktorianischen Horror-Villen, wird in den folgenden zwei Stunden Spiegel und Spielplatz der verirrten Seelen.
Mit ähnlich ästhetischer Akribie inszenierte Aster seinen Film „Midsommar” (2019) als makabres heidnisches Bacchanal mitten im digitalen Zeitalter. Der anspruchsvolle blutige Horrortrip ist eine Meditation über Macht und Dominanz, das Rollenspiel der Geschlechter, gibt der Darstellung von Leiden eine neue schmerzhafte Dimension und entwickelt sich zur triumphalen Oper des okkulten Grauens. Spätestens von da an hätten wir auf die visionäre Radikalität von „Beau ist afraid“ gefasst sein müssen: Der Protagonist wagt schon bei seiner Geburt nicht, die Stimme zu erheben und den erlösenden lebensbejahenden Schrei auszustoßen. Von diesem Augenblick an ist Beau in den Augen seiner jüdischen Mutter, Mona Wassermann (Patti LuPone), als Versager abgestempelt und jeder klägliche Versuch, ihre Anerkennung zu erringen, aussichtslos. Wir erleben die Welt aus seiner subjektiven Perspektive, und grade deshalb lohnt es sich, den kräfteverzehrenden Horrortrip ein zweites Mal zu durchzuziehen. Beau, ein grauhaariger mutloser Mittvierziger mit hängenden Schultern und unüberwindbaren Ängsten muss jeder Tag wie eine kaum enden wollende Kette von Unglücksfällen und Verschwörungen gegen ihn ganz persönlich erscheinen. Aber, und das sei vorweggeschickt, vieles ist in Wirklichkeit skrupellos kalkulierte Intrige von Seiten der Mutter. Ein Beispiel sei verraten (Spoiler-Alarm!), der stark beleibte Psychiater (Stephen Henderson) des Protagonisten, dem wir bereits in den ersten Szenen begegnen, entpuppt sich am Ende des Horrorepos als Spion in den Diensten von Mona. Intimste Geheimnisse des Sohnes wurden so über Jahrzehnte hinweg schnell und fachgerecht übermittelt, keine Distanz kann die Allmacht dieser Frau brechen. Beau ahnt nichts davon, seine Antworten auf die insistierenden Fragen des immer grinsenden Psychiaters kommen stockend, für den geplanten Flug zum Geburtstag der Mutter erhält er ein neues angstlösenden Medikament verordnet, wichtig, man muss es immer mit viel Wasser einnehmen, andernfalls treten katastrophale Folgen auf.
Geborgenheit oder wohligen Schlaf findet unser tragischer Held nirgendwo. Der Samenerguss, der ihn erzeugte, tötete den Vater. Ihm droht, behauptet die Mutter, bei der ersten Ejakulation dasselbe Schicksal und so quält sich der Sohn mit entzündeten geschwollenen Hoden angstvoll durch die Tage seiner freud- und sexlosen Existenz. Eine perfekte mentale Kastration. Die Mär von der Erbkrankheit überschattet sein Leben, Todesfurcht lauert ständig überall. Hoden als Symbol von Manneskraft und schöpferischer Potenz tauchen im Film versteckt und offen in jeder Größenordnung auf, lassen Beau nie aus den Klauen seiner Panikattacken, wie sollte der Junge da je eine Persönlichkeit entwickeln. Von früh auf an ist er das geborene Opfer, jemand, den alle übervorteilen, attackieren, quälen, ideale Beute für jede Form des Machthungers und Sadismus. Ari Aster ist ein Meister im Kreieren abstruser Situationen, da hämmert es nachts an der Wohnungstür in dem ärmlichen Apartmentblock, wo der Protagonist sein tristes paranoides Dasein fristet, jemand verlangt wutentbrannt, er solle die Musik leiser stellen, aber es ist mucksmäuschenstill in seinen vier Wänden, Zettel mit drohendem Inhalt werden unter der Tür hindurch geschoben. Was tun, das Geschrei wird immer lauter und brutaler. Eine schon fast typische Situation, von klein auf an, zu Unrecht beschuldigt von der Mutter. Wann immer er sich verteidigt, bezichtigt sie ihn der Lüge, wächst ihr Zorn. Mag er sich früher als trotziger Junge gewehrt haben mit kleinen psychologischen Schachzügen, schwer vorstellbar, aber Mona behauptet es.
In diesen Tagen warnt die Hausverwaltung per Anschlag vor einer Spinnenplage, zudem wird das Wasser abgestellt und als Beau sein neues Medikament einnehmen will, findet er keinen Tropfen Wasser in der Wohnung. Wieder eine Verkettung unglückseliger Umstände, die Gegner lauern überall, der Wohnungsschlüssel steckt draußen, kurz lässt Beau ihn aus den Augen, schon ist er verschwunden, genau wie sein Koffer, wie soll er den Flieger pünktlich erreichen, er kann doch nicht die Wohnungstür offenlassen. Weder Handwerker noch Hausmeister sind aufzutreiben. Was also tun? Die Mutter am Telefon gibt sich zutiefst verletzt, vermutet wieder einmal böse Absichten, lässt genau wie in seiner Kindheit weder Entschuldigungen noch Erklärungen gelten, sperrt die Scheckkarte, Allzweckwaffe wohlhabender Eltern. Doch damit beginnen erst die Sanktionen.
Aster ist ein genialer Erzähler, auch wenn in „Hereditary" die wechselvolle Komposition von Realität und Fiktion, Grauen und Schönheit eine suggestivere Kraft besaß als die Albträume des verzweifelten Beau, im Kino aber waren wir noch nie dem Wahnsinn und der Hilflosigkeit so nah. Beau steckt uns mit seiner Paranoia an, die Empathie des Zuschauers hält sich in Grenzen, unsere Identifikation mit ihm ist unfreiwillig. Und doch ist es grade in Zeiten von #MeToo eine abenteuerliche Erfahrung, diesem angsterfüllten Schwächling zu begegnen als Anti-Typ zum toxischen weißen Mann. Er ist wahrlich kein Einzelexemplar, sie hausen überall in den Metropolen, bewohnen kleine versiffte Appartements, arbeitslos, vergessenes Prekariat, verlorene Seelen. Mütter entscheiden früh über die Art der Beziehungsstrukturen und den Schneid ihrer Söhne, doch es braucht keine männerhassenden hypererfolgreichen weiblichen Singles, die sich schon von Berufs wegen aufs Manipulieren verstehen. Der Erfolgsdruck, das Gen Mona Wassermann verselbstständigt sich zunehmend.
Noch nicht einmal zum Scheitern brauchen wir heute noch einen Partner, wir zerbrechen an uns selbst. Aber Beau und seine monströse Mutter sind Old School. Er stürzt aus dem Haus, will gegenüber eine Flasche Wasser erstehen, doch die Scheckkarte ist gesperrt, das Bargeld will nicht reichen, der Verkäufer verlangt gehässig immer mehr Münzen. Der Wahnsinn, oder ist es die brutale Realität kennt keine Gerechtigkeit. Die Szenerie auf der Straße erinnert an „Mad Max“. Vorstufe einer anarchischem Apokalypse, ein nackter Serienkiller treibt sein Unwesen, Obdachlose besetzen Beaus Wohnung, voller Verzweiflung hockt er die Nacht über auf dem Baugerüst vor seinen Fenster und beobachtet das ekelerregendes Treiben in seinen vier Wänden. Übrig bleibt ein Mann der hoch oben an der Decke über der Badewanne hängt. Der Albtraum ist perfekt, als ein schießwütigere Polizist auf unseren Helden zielt und ihn ein Wagen anfährt. Schwer verletzt wacht er in einem rosaroten Jungmädchen-Zimmer mit K-Pop-Postern und Einhörnern auf. Der Unfallfahrer Chirurg Roger (Nathan Lane) und seine Ehefrau Grace (Amy Ryan) haben ihn vorübergehend adoptiert, der eigene Sohn ist im Krieg gefallen, nun sammeln die beiden schwer Traumatisierte um die Lücke in ihrem Leben zu füllen. Es ist erst der Beginn der Odyssee.
Ein Lächeln scheint in dieser Welt, die aus den Fugen geraten ist, nur noch als heimtückische Waffe der Manipulation denkbar, schwarzer Humor macht für uns das Unerträgliche erträglicher, das gilt nicht für den Protagonisten, er ist dem Horror schutzlos ausgeliefert, zieht vermeintliche Retter magisch an. Genial kafkaeske Momente, wenn nicht mehr die Mutter sich am Telefon meldet, sondern ein Fremder, der verkündet Mona Wassermann wäre von einem Kristalllüster erschlagen worden. Doch das ist noch lange nicht das Ende ihrer Schreckensherrschaft, im Gegenteil. Selbst in der riesigen Arena beim Jüngsten Gericht tritt sie wieder als Chefanklägerin an, der Tod ist für Beau keine Erlösung. Vor Kinostart empfahl der Regisseur seinen Fans dringend, nicht den Versuch zu machen, den Film einordnen zu wollen, eine „albtraumhafte Komödie“, mehr gab er anfangs nicht preis, empfahl, sich einfach treiben zu lassen. Auch das kostet ein Maximum an Kraft und Konzentration, „Beau is afraid“ fühlt sich an wie ein mentaler Survival Trip, Franz Kafka, Sigmund Freund und Hieronymus Bosch haben dabei unübersehbar ihre Spuren hinterlassen. Doch ein Opfer taugt weniger zum Protagonisten, so überzeugend Joaquin Phoenix ist in der Rolle des glücklosen Beau. Fast sehnt man sich in die nihilistischen Abgründe von Todd Phillips „Joker“ zurück, jene Fallstudie eines verstörten Außenseiters, grandios gespielt von Joaquin Phoenix, entwickelt sich zur atemberaubenden Pantomime der Verzweiflung, ein schillerndes mörderisches Neo-Noir-Ballett zwischen Anpassung und Anarchie, Anmut und Lächerlichkeit. Kaum ein Film hat Kritiker so polarisiert wie diese Hommage an Martin Scorseses „Taxi Driver” (1976). Lobeshymnen kontra ostentative Abscheu. Dem düsteren visuell virtuosen Epos der Rebellion wird Gewaltverherrlichung vorgeworfen, wo es in Wirklichkeit nur die Mechanismen und Ursachen demütigender Ausgrenzung seziert. Wann immer der Stress für Arthur zu heftig wird, packt ihn ein unkontrollierbares, scheinbar nie enden wollendes, lautes schepperndes Lachen, sein ausgemergelter Körper bebt. Dieses hysterische Lachen ist verzweifelter als jede Art von Tränen oder Schmerzensschreie, es steht für Einsamkeit, Ohnmacht, Missbrauch, Demütigungen, Armut. Und doch steckt in dem Joker die geballte Kraft der Rebellion, und genau das fehlt einem Beau, der Lebenswille. Vielleicht schrecken viele unbewusst vor seiner Hilflosigkeit zurück, meiden deshalb das Kino.
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Regie: Ari Aster
Drehbuch: Ari Aster
Darsteller: Joaquin Phoenix, Stephen McKinley Henderson, Patti LuPone, Amy Ryan, Nathan Lane,
Produktionsland: Kanada, USA, 2023
Länge: 179 Minuten
Verleih: Leonine Studios
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Leonine Studios
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