Umarmungen wie Angriffe aus dem Hinterhalt, Leidenschaft bis zur Selbstzerstörung: „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ ist die Chronik einer Amour Fou von unglaublicher Intensität und Wucht.
Maria lässt die Tage an sich vorbei gleiten, dann begegnet ihr Henner (Felix Kramer), mehr als doppelt so alt wie sie, sein Gehöft auf der anderen Seite der Bahngleise wirkt vernachlässigt, düster, aber auf Zuchtpferde und Frauen verstehe er sich, sagt man im Dorf. Er gilt er als verschlossener Einzelgänger, wird misstrauisch beäugt. Er trinkt, die Vergangenheit hat ihre Narben hinterlassen, ihn geprägt. Maria ist neugierig, fasziniert von ihm, dem Traumatisierten, will ihre Grenzen austesten. Blicke treffen sich, eine zufällige Berührung genügt als Auslöser für diese heimliche Amour Fou, deren unromantische Intensität an Gewalt grenzt. Die beiden versuchen sich zu wehren gegen das alles überwältigende animalische Begehren, flüchten voreinander. Vergeblich. Henner hatte Maria gewarnt, doch sie fürchtet nicht seine dunklen Seiten, aus purer archaischer Begierde entwickelt sich Liebe, trifft die Akteure unvorbereitet. Der Schmerz, die Verlorenheit verbindet das ungleiche Paar, sie sind Außenseiter, entdecken in dem anderen eine neue Welt, Literatur ist unentbehrlicher Bestandteil ihres Daseins, erlaubt ihnen sich zu öffnen, die eigenen Gefühle zu dechiffrieren.
Das Drehbuch schrieb die Regisseurin zusammen mit Daniela Krien, der Autorin des Romans. Zur Literatur haben beide wie ihre Protagonisten eine existenzielle Beziehung. Emily Atef mit iranisch-französischen Wurzeln, aufgewachsen in Westberlin, den USA und Frankreich, begann erst spät mit Freude zu lesen: „Vielleicht lag es daran, dass ich mit meiner Familie so oft in verschiedenen Ländern mit verschiedenen Sprachen gelebt habe. Wir waren eher Reisende als Lesende, obwohl Kunst und vor allem Musik bei uns eine große Rolle spielte. Wirklich entdeckt habe ich die Welt der Bücher erst als junge Erwachsene. Heute ist die Literatur für mich ein Ausweg aus meiner eigenen Welt.“ Daniela Krien ging es genau umgekehrt: „Bücher waren vom ersten Moment an, da ich lesen konnte, so wichtig wie essen und schlafen. Lesen ist bis heute existenziell wichtig für mich. Das mag auch damit zusammenhängen, dass es in dem sächsischen Dorf, wo ich aufgewachsen bin, kein Kino gab.“ Film war Flucht aus dem Alltag, „eintauchen in Traum- und Bilderwelten, die mit den meinen überhaupt nichts zu tun hatten. Erst im Studium habe ich einen tieferen Zugang zum Film gefunden.“
Begehren zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung nahe der deutsch-deutschen Grenze, diese Monate entwickeln sich zu einem Ausnahmezustand der totalen Freiheit für Maria, alle um sie herum sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um darauf zu achten, was mit ihr geschieht. Es werden keine sexuellen Tabus gebrochen, es ist, als hätten die für unsere Protagonisten nie existiert, was davor lag, ist, seit sie einander kennen, annulliert. Maria begehrt, fordert mit der gleichen stolzen, rücksichtslosen Selbstverständlichkeit wie Henner. Dessen Mutter hatte einst versucht, sich mit Literatur und Alkohol zu betäuben, um so den Erinnerungen an die Kriegsgreuel zu entkommen. Vergeblich. Nun kämpft ihr Sohn mit den Dämonen der Vergangenheit in den gleichen düsteren Räumen. „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ entwickelt sich zur Chronik des Scheiterns und des Überlebens. „Wir sind die Wanderer ohne Ziele, die Wolken, die der Wind verweht". Mit den Gedichtzeilen von Georg Trakls (1887-1914) „Gesang zur Nacht“ offenbart Henner am Küchentisch zwischen den Umarmungen sein Innerstes. „Schließ mit deinen kühlen, guten Händen alle Wunden zu. Dass nach innen sie verbluten“.
Emily Atef setzt das Präzise, Minimalistisch-Karge der Romanvorlage in betörende Bilder mit starkem Gelbfilter um (Kamera: Armin Dierolf). Eine Landschaft, in der man sich zu verlieren glaubt. Die Unendlichkeit des Himmels ist tröstlich, jetzt wo alles droht zusammenzubrechen, Entlassungen, Enttäuschungen, die Hälfte von Marias Lehrern ist schon in Richtung Westen verschwunden. Maria will bleiben. Bei Henner. Fantastisch, wie Atef die Gesten und Blicke choreographiert, jene rauen Umarmungen, die Unterwerfung und Auflehnung signalisieren. Das Schweigen, die Stille zwischen den Worten sind die eindrucksvollsten Momente in dieser zum Scheitern verurteilten Beziehung überdimensionaler Gefühle. Felix Kramer über die Wortlosigkeit: „Natürlich kannst du mit Worten viel besser lügen. Worte sind wie Söldner, die Wahrhaftigkeit aber stellt sich ohne Worte ein. ...Henners Essenz liegt für mich in seiner unendlichen Einsamkeit. Er ist einer der einsamsten Charaktere, die ich je gespielt habe. Es ist Einsamkeit in der tiefsten Form. Hinzu kommt seine Angst vor Verbindlichkeit, die Flucht in die Tierwelt, hin zu den Pferden. Henner ist dunkel, fast wie ein dunkler Reiter aus dem Märchen, aber eben auch ganz zart. Er besitzt eine Zartheit, die langsam wächst. Am Anfang ist es der reine Hunger, die pure Sucht, einfach nur Kraft. Erst die Zartheit lässt eine zweckfreie Beziehung zu Maria zu, aus der schließlich die Liebe erwächst. Echte Liebe als das eine wirklich große Ding".
Gelegentlich quälte Maria ihr Gewissen, jene zu hintergehen, die ihr trauen, ihr ein Zuhause gegeben haben, sie wie eine Tochter behandeln. Mit einer Ausnahme ahnt keiner von ihren heimlichen Besuchen bei Henner, die Mutter im anderen Dorf muss als ständige Ausrede herhalten, Johannes spürt die Ablehnung, das Desinteresse an ihm und seinen Plänen. Es gibt für Maria kein Zurück mehr und doch auch keine Zukunft, jene voller Verzweiflung artikulierte Ablehnung von Henner vernichtet sie fast, plötzlich sehnte sie bürgerliche Verbindlichkeit herbei, verkriecht sich bei der Mutter. Die immer Freudlose hatte ihr Enttäuschungen prophezeit, nun kann sich die Tochter hier unbeobachtet ausweinen, der Verlust bringt sie fast um, aber sie sammelt neue Kräfte, kehrt zurück. Die Abmachungen zwischen den beiden Protagonisten waren auf Augenhöhe getroffen, nie mangelte es an Respekt, von Glück war nie die Rede. Obwohl in so unterschiedlichen Zeiten aufgewachsen, empfinden sie ähnlichen Schmerz. Es geht nur darum, wer ihn aushalten kann oder aufgibt.
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