Film

Ali Abbasi inszeniert den suggestiven magisch düsteren Neo-Noir „Holy Spider“ als Spiegel patriarchalischer Strukturen im Iran. Der Film basiert auf einem wahren Kriminalfall zu Beginn der 2000er Jahre, damals lebte der heute in Dänemark ansässige Regisseur noch in Teheran. 

 

Verbrechen zelebriert Abbasi nicht in der Tradition von US-Thrillern, sondern zeigt Gewalt als das, was sie ist, brutal, banal, kläglich, abstoßend, grotesk nicht ohne tragische Komik, Produkt extremer Frauenfeindlichkeit.

 

Eine Serie grausamer Morde an Prostituierten erschüttert Mashhad, das spirituelle Zentrum des Irans. Die Journalistin Arezzoo Rahimi (fantastisch Zar Amir Ebrahimi) wird von ihrer Teheraner Zeitung beauftragt, vor Ort den Fall zu recherchieren. Schon vom ersten Moment an stößt sie in der konservativen Drei-Millionen-Stadt überall auf den erbitterten Widerstand von Männern, ob an der Hotelrezeption oder im Kriminalkommissariat. Niemand scheint wirklich an der Ergreifung des Täters interessiert, deckt ihn der Klerus oder steckt eine Gang dahinter?

 

„Mörderspinne“ nennen die Medien den Serienkiller, der Zuschauer kennt ihn längst. Bauarbeiter Saeed Azimi (Mehdi Bajestani) gilt als sanftmütiger Ehemann und Vater, doch in ihm brodelt es, der Kriegsveteran fühlt sich unterschätzt, glaubt die Arbeit Gottes zu verrichten, wenn er die Straßen, wie er sagt, vom „Schmutz" befreit. Jede Etappe seiner blutigen Mission berichtet er sofort vom Münzfernsprecher aus einem Reporter seines Vertrauen. Von oben erinnern nachts die Lichter der heiligen Stadt an ein Spinnennetz. Rahimi beobachtet die verzweifelten grell geschminkten Frauen, wie sie von ihren Freiern gedemütigt werden, schlüpft in die Rolle des Lockvogels, um den Mörder zu überführen. 

 

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Mashhad zieht Jahr für Jahr 20 Millionen Pilger und Touristen an, eine der heiligsten Stätten schiitischer Moslems befindet sich dort, der Iman-Reza-Schrein, der auch die größte Moschee der Welt ist. Eine reiche Stadt mit vielen dunklen Seiten, sie liegt auf der Drogenroute nach Afghanistan. Prostitution ist dort nicht beschränkt auf ein Viertel. „Frauen bieten sich auf offener Straße an, selbst in der Nähe der Moschee", erklärt Abbasi. „Mein Eindruck ist, dass Prostitution toleriert wird, weil es ein Wirtschaftsfaktor ist, Teil der Touristenindustrie von Mashhad. Das Gesetz schaut weg." -Eine ärmliche Wohnung, eine junge Frau beim Anlegen des Tschador, auf ihrer Schulter Narben und blaue Flecke, klare Anzeichen von wiederholtem Missbrauch. Liebevoll verabschiedet sie ich von ihrer schlafenden Tochter. Gespenstisch im Dunkel die schwarz verhüllten Gestalten mit den grell geschminkten roten Lippen umgeben von industrieller Beton-Tristesse, ein Terrain verlorener Seelen. Der erste Freier nimmt die junge Mutter mit sich nach Hause, brutaler Sex folgt, im Fernsehen die Nachrichtenbilder von den zerstören Twin Towers am 11. September 2001. Zurück auf der Straße besorgt sich die Frau Opium, einziger Moment der Entspannung, der nächste Freier beharrt auf Oralverkehr in seinem Auto, bezahlt nur einen Bruchteil des Preises. Der nächste Mann nimmt sie auf seinem Motorrad mit. Er ist ihr Mörder. Bei sich in der Wohnung, wo er noch vor wenigen Stunden mit der kleinen Tochter gespielt hat, erwürgt er die Frau mit deren eigenen Hijab. Anschließend drapiert er den Schal um die Leiche und deponiert sie am Wegesrand außerhalb der Stadt. Danach fährt er zurück nach Mashhad, verschwindet in dem Spinnennetz der Straßen.

 

„Wissen Sie eigentlich, wo sie hier sind?“ fragt ein Kriminalkommissar mit süffisanter Stimme Rahimi. Sie stammt ursprünglich aus Mashhad, war froh, diesem streng von Männern regierten Biotop den Rücken gedreht zu haben. Auch für uns ist dieses unheilvolle Labyrinth der Gegensätze verwirrend wie beängstigend, entspricht so gar nicht den Vorstellungen eines erzkonservativen sittenstrengen Landes. Rahmini hasst die Bigotterie, sie kann nicht glauben, dass die Polizei nach zehn Opfern noch immer ohne Spur ist, vermutet, dass man die Taten des Serienkillers insgeheim gutheißt. Einen Vorwurf, den sie einem hochrangigen Kleriker macht, den sie zusammen mit ihrem Kollegen Sharifi (Arash Ashtiani) aufsucht. Der verwehrt sich dagegen: Alles Leben sei in den Augen des Islam gleich viel wert. Prostitution sieht er als soziales Problem und als Versagen der Politik: Nur wer arm und verzweifelt ist, der bietet seinen Körper an. Gleichzeitig kritisiert er die Journalistin, ihre Aufgabe sei zu informieren, sie solle den Menschen keine Angst machen und die Stimmung nicht unnötig anheizen. „Ich kann ihnen nur raten vorsichtig zu sein“. Rahimi ignoriert jegliche Drohungen, eine Femme Fatale, die verführt, um zu entlarven. Das Netz wird dem Spinnenmörder zur Falle, ein hochriskantes Spiel. 

 

Nach der Festnahme des Täters feierte ein Teil der Öffentlichkeit und die konservativen Medien ihn als Helden. Sie unterstützen die Idee, dass er einfach nur seine religiöse Pflicht erfüllte, als er die Straßen „säuberte“. Genau an diesem Punkt erwachte damals das Interesse des Regisseurs an dem Fall: „Meine Absicht war es nicht, einen Serienmörder-Film zu drehen. Ich wollte vielmehr einen Film über eine Serienmörder-Gesellschaft machen", schreibt Ali Abbasi in seinem Director's Statement. "Es geht um einen in der iranischen Gesellschaft tief verwurzelten Hass auf Frauen, der nicht unbedingt religiös oder politisch motiviert ist, sondern einen kulturellen Ursprung hat. Überall auf der Welt entsteht Misogynie aus der Gewohnheit. Im Iran gibt es eine Tradition des Hasses auf Frauen, und er nimmt überaus hässliche Formen an. In der Geschichte von Saeed Hanaei offenbart er sich ungefiltert, in seiner reinsten Form. Das macht es notwendig, verschiedene Perspektiven zu zeigen, die eine Bandbreite von Meinungen in der iranischen Gesellschaft demonstrieren, die auf der Seite des Mörders und die, die ihn ablehnen.

 

Saeed Hanaei ist gleichzeitig Opfer und Täter. Als Soldat an der Front des iranisch-irakischen Krieges, hat er seinem Land seine Jugend gegeben, um es besser zu machen und seinem eigenen Leben eine Bedeutung zu geben. Er muss feststellen, dass es der Gesellschaft egal ist, dass seine Opfer während des Krieges nichts geändert haben. Er existiert in einem existenziellen Vakuum trotz seines Glaubens an Gott. Saeed besucht die Moschee und weint im Haus Gottes. Er findet eine neue Mission, eine Mission für Allah. „Holy Spider“ will kein politisches Statement gegen die iranische Regierung abgeben. Der Film ist nicht gedacht als Kritik an den korrupten Gesellschaften im Nahen Osten. Die Dehumanisierung ganzer Gruppen von Menschen, ganz besonders Frauen findet nicht nur in Iran statt, sondern findet sich in unterschiedlicher Ausprägung in allen Ecken der Welt.

 

Ich sehe den Film als besondere Geschichte über besondere Figuren. Es ist kein Themenfilm über soziale Missstände. Wir wollen nicht, dass Saeeds Geschichte und seine Persönlichkeit den Film überlagern. Die Rolle der Journalistin Rahimi ist für unseren Film ebenso wichtig wie die von Saeed. Ich will ihr nahekommen und verstehen, wie sie selbst, aber auch ihre Familie zu diesen Konflikten steht und wie sie sich in ihrer Gesellschaft sieht, während sie den Fall recherchiert… Auf die eine oder andere Weise hat Abbasi an dem Stoff fast 15 Jahre gearbeitet. Frühe Fassungen hielten sich eng an die wahren Ereignisse, doch dann verschob sich die Thematik. „Zar Amir Ebrahimi war von Anfang an meine Mitstreiterin, meine Vertraute, meine Weggefährtin. Wenn es eine andere Person neben den Produzenten und mir gibt, die für diesen Film Autorenschaft reklamieren darf, dann ist es sie. Sie war ein riesiger Fernsehstar in Iran in den frühen 2000er-Jahren, aber dann wurde ein expliztes Privatvideo von ihr in die Öffentlichkeit gespielt, was damals etwas völlig Neues war in diesem sehr konservativen Land. Die Menschen begannen, das Video auf den Straßen zu verkaufen, was das Ende ihrer künstlerischen Karriere bedeutete. Sie fand keine Arbeit mehr, wurde verurteilt und floh aus dem Land. Anfangs half sie mir bei der Besetzung von „Holy Spider“, aber dann mussten wir auf den letzten Drücker die Hauptrolle umbesetzen und eine neue Rahimi finden. Ich konnte mir keine Bessere für den Part vorstellen als Zar. Mit ihr an Bord veränderte sich die Figur total. Zar ließ viele ihrer privaten und öffentlichen Enttäuschungen und Frustrationen in ihre Darstellung einfließen, all die Dinge, die ihr widerfahren waren, als das Video an die Öffentlichkeit kam.“ Für ihre Leistung in „Holy Spider" Cannes bei den Filmfestspielen wurde sie 2022 als ‚Beste Darstellerin‘ ausgezeichnet.

 

Maziar Bahrains Dokumentation „And Along Came A Spider“, die 2002 nach Hanaeis Hinrichtung erschien, veränderte die Einstellung des Regisseurs zu seinem Protagonisten. Er stellte fest, dass er auf eine eigenartige Weise mit dem Mörder sympathisierte: „Ich hatte einen Typ erwartet wie Buffalo Bill, den Killer in „Das Schweigen der Lämmer“. Aber Saeed hatte Charisma und kam rüber, als wäre er naiv oder unschuldig. Weil ihn niemand auf seinen Auftritt in den Medien vorbereitet hatte, sagte er Dinge vor laufender Kamera, die nicht in seinem Interesse waren. Aber er schien glücklich, hatte Frieden geschlossen. Er war kein manipulativen Bösewicht, er kam ehrlich rüber, aufrichtig. Ich will damit nicht sagen, dass ich mochte oder in irgendeiner Form guthieß, was er getan hatte. Aber es machte die Geschichte und ihn als Menschen komplizierter, als ich zunächst vermutet hatte… Saeed wird von dem Bühnen- und Filmschauspieler Mehdi Bajestani dargestellt. Er geht ein großes Karriere-Risiko ein. Es war mir wichtig, einen Schauspieler zu besetzen, der zumindest ein bisschen ein ähnliches Leben geführt hat wie der reale Saeed. Mehdi kommt aus der Gegend um Maschhad und kennt den Arbeiterklasse-Akzent, den Saeed gesprochen hatte. (Gedreht wurde in Farsi, Anm. der Redaktion). Außerdem ist er ein toller Schauspieler, der offen war, bei seiner Darstellung Dinge zu tun, die in Iran tabu sind. Das westliche Publikum hat keinen Referenzrahmen, ahnt nicht, wie riskant seine Darstellung ist, aber eine Entsprechung wäre ein Hollywoodstar, der einen Pädophilen spielen muss, den man beim Ausleben seiner sexuellen Fantasien sieht. Mehdi versucht außerdem, eine höchst widerliche Figur menschlich zu spielen. Das ist ein weiteres Risiko.“

 

Die Frauen, die dem Spinnenmörder in die Hände fielen, wurden zu bloßen Zahlen, keiner kümmerte sich um ihr Schicksal und um ihre Familien schon gar nicht. Sie waren keine gesichtslose Prostituierte. „Jede von ihnen hatte eine eigene Persönlichkeit, ein eigenes Leben“, sagt Abbasi: Und wir hoffen, dass es uns gelungen ist, ihnen wenigstens einen Teil und ihrer Menschlichkeit, die ihnen genommen wurde, zurückzugeben. Sie sind keine Heiligen. Sie sind keine unglückseligen Opfer. Sie sind Menschen wie Du und ich.“

 

Ali Abbasi („Border“, 2018) liebt den Film noir als Genre und wollte aus den bekannten Elementen eine Art persischen Noir entstehen lassen: „All die verlorenen Seelen, geplatzten Träume und dunklen Ort, die sich im Nachkriegs-Amerika finden lassen, gehören zum Alltag in den meisten Städten Irans. Ich wollte eine Sprache und Ikonographie finden, die aus dem Ort entsteht, in diesem Fall Mashhad, anstatt wie bei Humphrey Bogart mit „Casablanca“… „Holy Spider“ ist einer von wenigen Filmen, die in Iran spielen (gedreht wurde in Jordanien Anm. d. Red.) und einen gewissen Realismus rüberbringen. Das iranische Kino leidet seit 50 Jahren unter drakonischen Zensurmaßnahmen. Alle Filme, die man sieht, zeigen eine parallele Realität des Landes, wie Filme aus der Sowjet-Ära. Fast alle halten sich an ein bestimmtes geschrieben und ungeschriebene Regelwerk, selbst Filme, die eine kritische Position zur iranischen Regierung beziehen. Die Tabus, die niemals gebrochen werden, sind Nacktheit, Sex, Drogengebrauch und Prostitution. Und doch gehören sie zur Realität der iranischen Gesellschaft. Und sie sind relevant für meine Geschichte, bestimmen die Atmosphäre der Erzählung.“

 

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„Holy Spider“ Originaltitel: عنکبوت مقدس Ankabut-e moqaddas

Regie: Ali Abbasi

Drehbuch: Ali Abbasi und Afshin Kamran Bahrami

Darsteller: Mehdi Bajestani, Zar Amir Ebrahimi, Arash Ashtiani, Forouzan Jamshidnejad

Produktionsländer: Dänemark, Deutschland, Schweden, Frankreich, 2022

Länge: 117 Minuten

Kinostart: 12. Januar 2023

Verleih: Alamode Filmdistribution oHG


Fotos, Pressematerial & Trailer: © Alamode Filmdistribution oHG

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