Noch nie hat Wes Anderson so unverhohlen einer Amour fou gefrönt wie in „The French Dispatch”. Bereits auf der Highschool war der in Texas geborene spätere Kult-Regisseur dem US-Magazin The New Yorker mit Haut und Haar verfallen, das ihn nun zu dem vielleicht bezauberndsten Oeuvre seiner Karriere inspirierte.
Skurril, überbordend, anarchisch und von bizarrer Schönheit, eine melancholische Lektion über die Kunst des Erinnerns und Frankreich als Sehnsuchtsziel amerikanischer Exilanten im 20. Jahrhundert. Hinreißend: Bill Murray in der Rolle des Verlegers, der keine Tränen in seinem Office duldet.
Vorweg: Der Zuschauer wird gnadenlos überfordert, welch ein beglückendes Gefühl dieser Overkill gleichzeitiger Eindrücke. Etwas hilflos vergleichen die Kritiker das hochkarätig besetzte Episoden-Epos mit Wimmelbildern, nur sind wir nicht im Kinderzimmer, sondern bei Wes Anderson, obwohl verspielt ist der genauso, wenn er nach „Alle Vögel fliegen hoch”-Manier seine Darsteller zum Stillleben erstarren lässt. Doch meist ist alles in Bewegung und dieses Mal schraubt der Meister virtuoser Ästhetik das Tempo gelegentlich extrem hoch. Man möchte dann gern den Film kurz anhalten, vielleicht auch ein Stück zurückspulen, beunruhigt, wieder etwas verpasst zu haben dort oben im zweiten Stock oder einfach nur aus Neugier um die Ecke spähen, was sich im Hinterhof verbirgt. Schauplatz ist Ennui-sur-Blasé, eine fiktive französische Stadt mit leicht lädiertem Fünfziger Jahre Charme, die stark an ein Paris erinnert, das es nicht mehr gibt und wahrscheinlich niemals gab, aber nun in Angoulême entstanden ist. Das Drehbuch schrieb Anderson zusammen mit Roman Coppola, Hugo Guinness und Jason Schwartzman.
Ähnlich wie im „Grand Budapest Hotel” (2014) und den „Royal Tenenbaums“ (2001) steht wieder ein Gebäude im Mittelpunkt, das Verlagshaus vom „The French Dispatch”, Beilage der Liberty, Kansas Evening Sun, gegründet von Arthur Horwitzer Jr. (Bill Murray). 50 Jahre leitete der Chefredakteur das Reportage-Magazin, nun ist er während der Arbeit einem, vermutlich Herzinfarkt erlegen. Seine engsten Mitarbeiter versammeln sich, um den Nachruf zu verfassen. Dies wird zugleich auch die letzte Ausgabe der Zeitschrift sein. So erscheinen vier, von den Erinnerungen an Howitzer geprägte Geschichten: Ein Reisebericht des radelnden Reporters aus den verrufensten Winkeln der Stadt; „Das Beton-Meisterwerk”, Essay über einen geistesgestörten kriminellen Maler, seine Gefängniswärterin und Muse, sowie die unvermeidbaren raffgierigen Kunsthändler; „Korrekturen eines Manifests”, Chronik von Liebe und Tod auf den Barrikaden während des Höhepunkts der Studentenrevolte; sowie „Das private Speisezimmer des Polizeichefs”, eine fesselnde Story über Drogen, Kidnapping und gehobene Küche. Die ausgewählten Texte sind zugleich der Stoff für die Filme im Film.
Wes Anderson lebt seit einigen Jahren in Frankreich, und so ist „The French Dispatch” auch eine Liebeserklärung an seine Wahlheimat und gleichzeitig auch eine künstlerische Betrachtung aus der Perspektive des Außenseiters. Eine Meditation über das Leben fern von daheim. „Dieser Film ist zusammengesetzt aus Impressionen über Frankreich,” sagt der in Paris geborene Komponist Alexander Desplat, „Impressionen, die ein bisschen verzerrt sind, weil sie durch Wes’ Hirn gingen. Man könnte also sagten, dass es sich um Frankreich handelt, jedoch ein poetisches Frankreich, mit vielen Details und Verweisen, die oft nicht wahr sind, aber wahr scheinen. Ist das das authentische Frankreich? Nein – aber, irgendwie ist es doch Französisch.” Auf eine skurrile Weise wirkt das Phantastische selbst das Unglaubliche hier glaubhaft, vielleicht weil Anderson es verinnerlicht als seine Form der Wirklichkeit.
Der Regisseur erinnert sich, wie er „vor 20 Jahren zu einer Party in Paris in einem alten Nachtclub namens Castle ging. Ich saß neben einem kleinen und, wie ich dachte, leicht vogelartigen Mann mit einem weißen Bart. Er trug eine blau getönte Sonnenbrille. Er sprach nicht gut Englisch, und ich sprach nicht gut Französisch. Aber es gelang uns dennoch, uns während des Essens auf warmherzige, wenn auch verschwommene Art zu unterhalten. Und dann erschien jemand und flüsterte ihm über die Schulter etwas zu, und er ging hinüber zum Yamaha-Keyboard, schaltete es an und spielte ein Lied. Und beim Refrain explodierte der ganze Nachtclub und sang gemeinsam im Chor mit ihm den Refrain- und ich begriff, dass dieser freundliche vogelartige Mann eine legendäre französische Pop-Ikone war. Das Lied hieß „Aline”, und Christophe starb, nachdem unser Film abgedreht, aber noch nicht herausgebracht worden war. Das Duett zwischen ihm und Jarvis Cocker sollte nicht sein. Mit dem Charakter Tip-Top habe wir ihm eine Hommage erwiesen und auch Jacques Dutronc, Françoise Hardy, Serge Gainsbourg, der ganzen Generation unvergesslicher französischer Starsänger, die Frankreich vor allen anderen Nationen auszeichnen.”
Anderson ist ein Meister des Erinnerns, der Kunst, die Vergangenheit neu zu kreieren. Seine Mutter war Archäologin, als er acht Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden, die drei Brüder lebten von nun an bei der Mutter. In den Schulferien nahmen sie die Jungen mit zu ihren Ausgrabungen. Der 52jährige Amerikaner ist einer, der unaufhörlich forscht, sucht, recherchiert, etwas ausgräbt. Aus seinen Inspirationen macht er kein Geheimnis, im Gegenteil. Bei der Pressevorführung gab es für jeden von uns als Presseheft eine liebevoll gestaltete Miniatur Ausgabe des French Dispatch, versehen unter anderem mit einer Liste von mehr als 30 Filmempfehlungen, De Sica, Clouzot, Renoir, Polanski, Wilder, Godard, Hitchcock, Tati. Gleichmaßen nützlich die Französisch-Lektion mit den Slogans der Studentenrevolte vom Mai 68: „La barricade ferme la rue mai ouvre la voie” („Die Barrikade blockiert die Straße aber öffnet den Weg”). Noch einmal dürfen wir nun daheim in Ruhe den Plan des verwirrenden U-Bahn-Netzes von Ennui-sur-Blasé bewundern, solche Details sind in ihrer absurden Akribie bezaubernd. Jene Pinnwand im Redaktionsgebäude mit „Issues in Progress”, also den Themen, die auf Fertigstellung und einen Platz im Heft hoffen, könnte auch Wes Anderson gehören.
Die Figur des Chefredakteurs Arthur Horwitzer Jr., ist Harold Ross, dem Gründer des New Yorker nachempfunden. „No Crying” verkündet ein Schild in seinem Büro, wichtigster Ratschlag an die Mitarbeiter: „Lassen sie es so wirken, als hätten sie es bewusst so geschrieben. Er stellte aus den besten Exiljournalisten ein Team zusammen: Dazu gehört Herbsaint Saezerac, Autor und cycliste-flâneur, gespielt von Owen Wilson, der berichtet von den dunklen Seiten der Stadt, Taschendieben, Prostitution, dem allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang und dem Wohlergehen der Ratten. Sein Part ist inspiriert von Joseph Mitchell, Luc Sante und dem Straßen-Fotographen Bill Cunningham. Weniger amüsant Tilda Swinton als J.K.L. Berensen, Schriftstellerin und Dozentin, Vorbild Rosamund Bernier, Redakteurin und berühmt als art talker.
Umwerfend dagegen, das Objekt ihres Vortrags, Benico del Toro in der Rolle des Moses Rosenthaler, Doppelmörder und verheißungsvoller Künstler. Wundervoll das unbewegliche Gesicht von Léa Seydoux, Gefängniswärterin und Nacktmodell des Psychopathen. Für ihre ungewöhnlichen Posen heuerte Anderson einen Choreographen an. Jeffrey Wright in der Rolle des Restaurantkritikers mit einem typographischen Gedächtnis, Vorbilder A.J. Liebling, James Baldwin und Tennessee Williams. Grandios Frances McDormand als Lucinda Krementz, engagierte amerikanische Essayistin, sie ähnelt teilweise Mavis Gallant, Autorin zahlreicher Kurzgeschichten und der „Paris Notebooks” im Mai 68. Eine Einzelgängerin, die ihre journalistische Integrität genauso beharrlich schützt wie ihre privaten Leidenschaften. Unter einem schlechten Stern steht die Beziehung der revolutionären Studentenführerin Juilette (Lyna Khoudri) und dem glücklosen Revoluzzer Zeffirelli (Timothée Chalamet), er kämpft für den freien Zugang der weiblichen Schlafräume mit mehr Überzeugung als gegen den Imperialismus. Die Liste der Stars lässt sich beliebig fortsetzen: Adrien Brody, Matthieu Amalric, Stephan Park, William Dafoe, Edward Norton, Christoph Waltz und Angelica Huston als Erzählerin.
Der Film quillt über an Twists, unvorgesehen Ereignissen, Referenzen, Insider Jokes, Anspielungen auf die Kulturszene der Fünfziger, Sechziger Jahre in New York und Paris. Die Vertreter der Lost Generation wie Ernest Hemingway hatten sich in Frankreich niedergelassen, machten ihre wöchentliche Aufwartung bei Gertrude Stein. Die Welt schrumpft wie so oft bei Anderson zum Puppenhaus, gibt den Blick frei, für das, was anderen verborgen bleibt. Die Bildformate wechseln ständig, Farbe mit Schwarzweiß und Cartoons. Slapstick trifft auf Melancholie und rätselhaft codierte Ernsthaftigkeit. Robert Yeoman (Fotographie) und Adam Stockhausens (Production Design) verbinden Farce und Fantasie zur Illusion Paris. Unvergleichlich der Ideenreichtum, jede Einstellung ein Kunstwerk für sich.
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Regie: Wes Anderson
Drehbuch: Wes Anderson, Roman Coppola, Hugo Guinness, Jason Schwartzman
Produktionsland: USA, 2021
Länge: 103 Minuten
Darsteller: Bill Murray, Frances McDormand, Timothée Chalamet, Owen Wilson
Kinostart: 21. Oktober 2021
Verleih: Walt Disney Studios Motion Pictures Germany
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Walt Disney Studios Motion Pictures Germany
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