Film

Am Vormittag des 21. Februars 1942, einem Samstag, bringt Stefan Zweig drei Typoskripte der „Schachnovelle” zur Post in Petrópolis. Sie sind bestimmt für die deutsche, amerikanische und argentinische Ausgabe. In der Nacht vom 22. auf den 23. Februar nimmt sich der Schriftsteller zusammen mit seiner Frau Lotte das Leben.

 

Jede Adaption dieser Novelle ist ein Wagnis. Regisseur Philipp Stölzl lässt auf der Leinwand Zeit- und Bewusstseinsebenen erst miteinander kollidieren, um dann in visuell surrealen Bildern zu verschmelzen. Die beklemmenden rätselhaften Metaphern zwischen Ohnmacht und verzweifeltem lautlosen Widerstand brennen sich unauslöschlich in unser Gedächtnis ein.

 

Wien, 1938. Die Szenen zu Beginn des Films signalisieren Unbeschwertheit, etwas versnobt charmantes Savoir-vivre. Nichts deutet hin auf jene kafkaeske Reise ins Reich der Toten. Der österreichische Notar Josef Bartok (fantastisch Oliver Masucci, „Enfant Terrible”) liest noch die Zeitung im Bett, raucht seine Carath-Zigaretten zum morgendlichen Kaffee. Und als geistige Nahrung ein paar Seiten Goethe, „ohne würde ich elendig verhungern“ behauptet der Hausherr. Das Dienstmädchen lächelt pflichtschuldig, vielleicht sind ihre Erfahrungen mit Hunger anderer Art. Frau Anna (Birgit Minichmayr, „3 Tage in Quiberon”) steht vor dem Spiegel. „Schwanensee” soll es am Abend geben. Die Eheleute strahlen das lässig kultivierte Selbstbewusstsein der Oberschicht aus, hier dominiert keiner der Partner, oder beide, wenn das möglich ist. Liebevolle Ironie avanciert zu höchster Form harmonischer Übereinstimmung. Im selben Moment aber offenbart sich jene sträfliche Ignoranz der vom Schicksal Verwöhnten gegenüber den politischen Gefahren des Antisemitismus. Der jüdische Notar fühlt sich der Zuneigung der Menschen in seinem Umfeld sicher, dass jenes niedliche Dienstmädchen ihn wahrscheinlich schon länger hasst, kann jemand wie er sich nicht vorstellen. Seine Mandanten wohl eher, die ihr Geld auf ausländischen Nummernkonten in Sicherheit gebracht haben.

 

Bartoks Nonchalance ist die eines reichen eleganten Bonvivants. Am Abend auf dem Weg in die Oper bleibt das luxuriöse Automobil immer wieder stecken inmitten brutal pöbelnder Anhänger der Nationalsozialisten, die für den Anschluss an Deutschland demonstrieren. Während draußen auf den Straßen Barbaren die Macht übernehmen, drehen sich drinnen auf dem Parkett die Paare im Walzertakt, reißen Witze über Goebbels und vertrauen darauf, der Spuk wäre bald vorbei. Das Motto lautete: „Solange Wien tanzt, kann die Welt nicht untergehen.“ Ein Freund aber überzeugt den Notar, der Einmarsch der Nazis sei noch für diese Nacht geplant, zwei Tickets für die Überfahrt von Rotterdam nach New York hat er besorgt, die letzte Gelegenheit zur Flucht. Bartok schickt Anna voraus zum Bahnhof, er selbst fährt noch einmal in seine Kanzlei. Vermutlich wissen die Deutschen, dass er dem österreichischen Adel geholfen hat, deren Vermögen außerhalb des Landes sicher zu deponieren. Doch noch während er die kompromittierenden Unterlagen im Kamin verbrennt, kommt es zur Festnahme. Man schafft ihn ins Nobelhotel Metropol, wo die Gestapo ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat.

 

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Die Figur des Erzählers haben Regisseur Philipp Stölzl und Drehbuchautor Eldar Grigorian gestrichen, wir sind ganz auf den Protagonisten konzentriert, er bestimmt die Perspektive, die Visionen und auch unser Denken, unsere Gefühle und Reaktionen. Jegliche literarische Distanz scheint so verschwunden. Gestapo Chef Franz-Josef Böhm (Albrecht Schuch, „Berlin Alexanderplatz“) präsentiert sich beharrlich als Vertreter von Kultur und exquisitem Geschmack. Auch schon in Gerd Oswalds Verfilmung der „Schachnovelle“ aus dem Jahr 1961 mit Curd Jürgens und Mario Adorf war Hansjörg Felmy eine ungewöhnliche Wahl für diese Rolle. Böhm verspricht Freiheit gegen den Zugang zu den Nummernkonten der Mandanten, er weiß, die sind abgespeichert im Gedächtnis seines Gegenübers. Bartok weigert sich. Auch die angebotene Schachpartie schlägt er aus, das sei nur etwas für „preußische Generäle“. Der Gestapo Mann dagegen vertritt die Überzeugung, im Schach ginge es darum, das Ego des Gegners kleinzukriegen. Eine offene Drohung und mit beängstigender Beharrlichkeit macht der Deutsche sich an diese Aufgabe. In das Hotelzimmer gesperrt, ohne jede Ablenkung, versucht Bartok standhaft zu bleiben. Die tägliche dünne Suppe wird von einem Uniformierten serviert, der kein Wort mit ihm spricht. Der Blick aus dem Fenster geht hinaus auf die gegenüberliegende triste Hauswand.

 

Manchmal hört man Schreie Gefolterter. Einem gelingt der Sprung in die Tiefe. Die Fenster werden zugemauert. Ungewissheit, Erniedrigung, auch wir verlieren jegliches Zeitgefühl, sind Wochen vergangen, Monate, vielleicht Jahre? Das quälende Martyrium der Entwurzelung. Die Einsamkeit der Exilanten. Die Korridore des Hotels sind eng, das Licht gespenstisch wie das Dunkel. Die Verhöre kosten Bartoks ganze Kraft, die Isolation zermürbt ihn. Er verfällt physisch wie psychisch. Auf dem Weg zu einer der Vernehmungen, die immer mit derselben Frage enden, schnappt sich der einstige Bonvivant ein dünnes Bändchen, man ist grade dabei die Bücher verpönter Schriftsteller auszusortieren. Es geht um Schach, im ersten Moment enttäuscht, taucht Stefan Zweigs Alter Ego dann aber voll ein in diese neue Welt. Der Kachelboden im Bad wird sein Schachbrett, gut versteckt die aus Brot geformten Figuren. Schach fordert ihn intellektuell, gibt ihm jene minimale unverzichtbare Freiheit wieder, ohne die das Leben nur schmerzvolles Vegetieren ist. Die Hoffnung, unser Geist wäre unbesiegbar, erwacht für einen Moment wieder. In jeder Phase bleibt der Film ein sinnlich intensives Erlebnis, ästhetisch suggestiv verstörend. Bartok ist besessen vom Schach, doch irgendwann wird auch der ihm genommen. Körperliche Folter soll ihn brechen. Was bleibt ihm da noch an Erinnerung? Irgendwann überdecken die Schachpartien die Vergangenheit, tilgen selbst die Nummern der Geheimkonten aus seinem Gedächtnis.

 

Als Kontrast zur klaustrophobischen Enge der Haft steht im zweiten Handlungsstrang die Weite des Schiffs, das durch ewigen Nebel über den Atlantik nach Amerika stampft. „Die kafkaeske Tonlage, die Zweig für seine Erzählung gewählt hat, wird zur entscheidenden Inspiration auf dem Weg des Stoffes auf die Leinwand”, schreibt Stölzl in seinem Statement. „Sie sind frei” ruft ein Uniformierter dem entlassenen Häftling nach, als er das Hotel Metropol verlässt. Ein gebrochener Mann, verwirrt, unsicher, ohne Ziel, ohne Heimat. Nun steht Bartok nachts am Hafenkai Anna gegenüber. „Schachnovelle” ähnelt in solchen Momenten einem verführerischen Neo Noir. Dass jene bemüht glückliche Anna, die extra für New York an ihrem spärlichen Englisch gearbeitet hat, die dann aber plötzlich verschwunden ist, nur im Kopf des Protagonisten existiert, begreifen wir nicht sofort. „...die -scheinbare- Schiffsreise nach Amerika und an Bord das Spiel gegen den wortlos enigmatischen Schachweltmeister. Der ständige Nebel gibt der Fahrt etwas Irreales, als wäre der Ozeanriese eine Totenfähre, die Passagiere nur Geister. Dass sich das Ganze als Traum in Bartoks Kopf herausstellt, ist deshalb keine Pointe im eigentlichen Sinn, sondern eher der finale Akkord eines düster-poetischen Gedichts. Und zuletzt der Kampf des Häftlings gegen seinen Wahnsinn in der Isolationszelle, dem er mit seinem „Schach im Kopf” zu entrinnen versucht und gleichzeitig immer weiter hineinrutscht... wir sind ganz nah dran an unserer Hauptfigur und begleiten sie hinab in den Abgrund und die geistige Verwirrung.

 

All diese Erzählebenen sind im Film ineinander montiert und ergeben zugleich einen Sinn. Doch je länger Bartok in der Isolationshaft sitzt und die Bodenhaftung in der Wirklichkeit verliert, je rätselhafter die Dinge auf dem Schiff werden, desto mehr verliert sich auch der Zuschauer in einem Labyrinth, das einem bedrückenden Wachtraum gleichkommt. Insofern wird in diesem Film, so glaube ich, aus Zweigs eher distanzierter Versuchsanordnung ein kathartisches, intensives und emotionales Vexierspiel, dass hoffentlich auch die Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes fesselt und ergreift. Das Ende dieses Films hat Zweig so nicht geschrieben. Aus seinem kargen, trostlosen Novellenende spricht die Angst vor der kommenden Weltherrschaft der Nazis. Wir wissen aber, dass es anders gekommen ist, dass es nach düsterer Nacht wieder hell geworden ist. Und wir wollen, dass die Zuschauer mit dieser sinnstiftenden und Mut machenden Gewissheit aus dem Film gehen. Hinter all dem steht noch die wahre Geschichte, die vom Anschluss Österreichs an Nazideutschland handelt. Diese politische Ebene der „Schachnovelle” macht den Film zeitlos aktuell, denn sie erzählt, wie wahnsinnig schnell eine scheinbar fest verankerte freie Welt umkippen kann in eine Diktatur des Unrechts. Sie erzählt, wie dünn die Hautschicht der Zivilisation ist und wie unmittelbar darunter die Barbarei liegt. Und sie mahnt auf diese Weise zur Wachsamkeit.”

 

In Zweigs Abschiedsbrief hieß es: „Ich grüße alle meine Freunde! Mögen Sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe Ihnen voraus.” „Er war dem Krieg entronnen und wurde trotzdem von ihm heimgesucht,” sagt Regisseurin Maria Schrader über den Protagonisten ihrer Künstlerbiografie „Vor der Morgenröte – Stefan Zweig in Amerika”. „Seine Vorstellungskraft für alles, was zeitgleich am anderen Ende der Welt passierte, konnte er nicht zügeln. Diese Empathie und Sensibilität ist eine riesige menschliche Qualität, die ihm als Schriftsteller zu Ruhm verhalf und im Leben zum Verhängnis wurde.”

 

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Originaltitel: Schachnovelle

Regie: Philipp Stölzl
Drehbuch: Eldar Grigorian, nach der Novelle von Stefan Zweig
Darsteller: Oliver Masucci, Albrecht Schuch, Birgit Minichmayr, Andreas Lust, Rolf Lassgård, Samuel Finzi
Produktionsland: Deutschland, 2020
Länge: 110 Minuten
Verleih: StudioCanal GmbH
Kinostart: 23.9.2021

 

Trailer, Pressematerial & Fotos: © Studiocanal/Walker+Worm Film

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