„Frühling in Paris” ist eine eigenwillige subtile Liebesgeschichte zwischen Realität und Tanz Performance. Überrascht, fast gerührt glaubt der Zuschauer, so etwas Fragiles Bezauberndes unendlich lange nicht auf der Leinwand gesehen zu haben, jene Magie der Leichtigkeit wie einst bei Éric Rohmer oder François Truffaut.
Mit fünfzehn schrieb die Französin Suzanne Lindon das Drehbuch, vier Jahre später inszenierte sie ihr Erstlingswerk und übernahm auch die Hauptrolle. Der Film lief auf den Festspielen in Cannes, San Sebastián und Toronto. Die Kritiker waren hingerissen.
Paris, Montmartre. Suzanne (Suzanne Lindon) ist 16, hat viele Freundinnen, aber unter den Gleichaltrigen fühlt sie sich wie eine Fremde, ob Schule oder Partys, die Eintönigkeit des Alltags langweilt sie, Jungs erst recht. Da entdeckt sie auf dem Heimweg Raphaël (Arnaud Valois), einen attraktiven 35jährigen Theaterschauspieler. Auch er ist gelangweilt vom täglichen Trott der Proben und des Lebens. Heimlich folgt Suzanne dem Unbekannten, spioniert ihm hinterher und ist so gewappnet für ihre erste nicht wirklich zufällige Begegnung. Dies wird keine Verführung im Stil von Nabokovs „Lolita”, sondern spiegelt das flüchtige Glück, den Menschen zu treffen, der einen ohne viel Worte versteht, der fühlt wie man selbst, kurz die absolute Übereinstimmung zweier Außenseiter. Mag der Altersunterschied auch gravierend sein, scheint er doch in diesem Moment unerheblich.
„Frühling in Paris” ist das Gegenstück zu dem Drama „Á Nos Amours” („Auf das, was wir lieben”, 1983) des französischen Regisseurs Maurice Pialat (1925-2003). Geschildert wird dort das Schicksal der 15jährige Suzanne (Sandrine Bonnaire), Sex ist ihre Form der Rebellion gegen ein verkorkstes Elternhaus. Liebe empfindet sie für die ständig wechselnden Partner keine. Und auch wenn jemand wie der junge Luc (Cyr Boitard) ihr echte Zuneigung entgegenbringt, ignoriert sie ihn. Die Situation eskaliert, als die Ehe der Eltern zerbricht, sie muss sich gegen die Übergriffe des gewalttätigen Bruders wehren, die Mutter versinkt im Chaos ihrer Depressionen. Ohne feste Bezugspersonen verliert das Mädchen jeden Halt. Als Suzanne Lindon den Film sah, war sie noch ein Kind. Am stärksten beeindruckte sie die künstlerische Leistung der damals 16jährigen Sandrine Bonnaire, seitdem stand der Entschluss fest, sie wollte Schauspielerin werden. Eigentlich nicht ungewöhnlich als Tochter von Sandrine Kiberlain („Ausgeflogen”, „Sie verehrt ihn”) und Vincent Lindon („Der Wert des Menschen”, „Streik”), aber grade deshalb empfand sie diese ungeheure Ehrfurcht vor dem Beruf, dachte sich, Schauspieler werde man nicht einfach so, es müsse eine ganz besondere Legitimation dafür geben. Und so entstand die Idee zu dem Drehbuch und einer Rolle so persönlich, die nur sie verkörpern könnte. Wohlgemerkt, persönlich heißt nicht, dass die junge Französin Biographisches aus dem eigenen Leben verarbeitet. Persönlich sind die Gedanken, Ideen, die choreographierten tänzerischen Bewegungsabläufe, die unverwechselbare visuelle Sprache, die Perspektive. Ihr großes Vorbild ist Wim Wenders „Paris Texas”, doch sie imitiert nicht. Zusammen mit Kameramann Jérémie Attard kreiert sie ästhetisch betörende Bilder nonverbaler Kommunikation.
Lindon hat für ihre Protagonistin bewusst ein harmonisches familiäres Umfeld geschaffen, wohlhabend, kulturell interessiert, der Ton untereinander entspannt, aber auch nicht zu ostentativ liebevoll. Familie als Rückhalt, so kann sich die Filmemacherin ganz auf das Innenleben ihrer Heldin und die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens konzentrieren, jene kaum zu definierende Einsamkeit, ein verwirrender Schwebezustand der Unsicherheit. Sie wollte ihre Gefühle authentisch, ungeschönt umsetzen, jetzt, nicht erst Jahrzehnte später wie in Luca Guadagninos „Call Me by Your Name”. Ihr Alter Ego ist introvertiert, etwas linkisch, herrlich unprätentiös und spontan, weiß nicht wirklich, wer sie ist, was sie will. Eher das, was sie nicht will. Die 16jährige trinkt im Gegensatz zu ihren Altersgenossinnen weder Cola noch Alkohol nur diabolo de grenadine, ein Sirup von wundervoll roter Farbe. Wenn die anderen Mädchen endlos miteinander schwatzen, liest sie lieber, manchmal trägt sie das Buch auch nur wie ein Schutzschild mit sich herum.
Smartphones und Twitter existieren in dieser Welt nicht, der Film ist zeitlos, erfüllt von Melancholie und kindlichem Übermut. Immer öfter treffen sich Suzanne und Raphaël, sie sind fasziniert voneinander, schweben durch das Viertel, tanzen verliebt durch die Straßen. Er küsst sie auf den Hals, Nähe wird hier nicht durch Sex definiert. Wenn die beiden nebeneinander draußen vor dem Bistro den Klängen von Vivaldis „Stabat Mater” lauschen, sich synchron bewegen, ohne einander zu berühren, ist das von schmerzhaft grotesker Schönheit, eine Metapher für völlige Übereinstimmung. Auf der Bühne quält sich der Schauspieler mit unliebsamen Regieanweisungen herum, so begreift die jugendliche Heldin früh, wie schwer es ist, in der Kunst die Erwartungen Anderer zu erfüllen.
Suzanne ist scheu und mutig zugleich, wenn sie unbekümmert lacht, erinnert sie an die junge Charlotte Gainsbourg in Claude Millers Film: „L'effrontée” (1985). Raphaël denkt nicht an ein Ende ihrer Beziehung, doch Suzanne beschleicht irgendwann die Furcht, etwas zu verpassen, - das ganz normale Leben eines Mädchens in ihrem Alter. Als Lindon mit der Arbeit am Drehbuch begann, stellte sie sich die Frage: Wie fühlt es sich eigentlich an, sich zu verlieben? Was bedeutet es, jemanden kennenzulernen und kann man dabei man selbst bleiben? Sie beschrieb, was sie selbst gerne erlebt hätte. Im Interview sagt die Autorenfilmerin: „Es war als würde ich das Tagebuch von jemandem anderem schreiben: Suzannes Tagebuch.” Das Zusammensein der Liebenden ist geprägt durch Zärtlichkeit und Höflichkeit.
Seltsamerweise erlangt das Oeuvre dadurch etwas Unwirkliches, Überhöhtes. Lindon ist der Überzeugung, „dass Zurückhaltung ein Zeichen von Respekt sei", ihr war es wichtig, dass die beiden das Gefühl von Respekt vermitteln: „Mir gefällt die Idee, dass sie sich gegenseitig nicht hetzen... Sie fühlen sich voneinander angezogen und gehen mit der Beziehung um wie mit etwas sehr Kostbarem, als wäre sie zerbrechlich.” Für die Regisseurin ist der Kuss auf den Hals fast intimer als der Kuss auf den Mund. Suzanne und Raphaël haben ihre eigene Form der Intimität, ihr eigenes Verständnis von einer Liebesgeschichte. In dieser platonischen Liebe liegt die Stärke der Beziehung und auch die Stärke des Films. „Suzanne ist zwar naiv, weil sie noch jung ist und unerfahren, aber sie ist keine Verführerin, sie verführt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie bekommt was sie möchte, weil sie wie besessen von ihm ist. Sie fantasiert von ihm und ist so gefesselt von ihm, dass es für sie eine Notwendigkeit wird, ihn zu treffen.”
Raphaël (Arnaud Valois), Suzanne (Suzanne Lindon). © 2020 Avenue B Productions
Viele erinnert „Frühling in Paris” an Jacques Demys Musicalfilm „Les Parapluies de Cherbourg” aus dem Jahr 1964, aber eigentlich ähnelt Lindons Kinodebüt in seiner eigenwilligen Umsetzung eher Filmen wie der griechischen Coming of Age Fabel „Attenberg” (2010): Menschen sind eine befremdliche wie unbegreifliche Spezies für die 23jährige Marina (Ariane Labed). Ihr Wissen über Verhalten und Sexualität beschränkt sich allein auf die Tierdokumentationen des Anthropologen Sir David Attenborough. Resultat: Sie imitiert Gorillas oder Raubkatzen zur Perfektion, ein Zungenkuss dagegen gerät zur grotesken Pirouette. Ihr Vater stirbt mit charmanter Würde, die beste Freundin tanzt an ihrer Seite, während Marina mit wissenschaftlicher Akribie sich daran macht die Liebe zu entdecken. Griechenland am Scheideweg. Athina Rachel Tsangari inszeniert die Selbstfindung ihrer scheuen Protagonistin vor dem Hintergrund industrieller Tristesse als bizarres Musical und rätselhaft-verstörendes Melodram. Es ist, als wäre die Regisseurin bei Jean Luc Godard, Monty Python und Pina Bausch in die Schule gegangen, hätte dann aber ihren ganz eigenen unverwechselbaren Stil gefunden. Sprache und Bewegungen sind streng choreographiert, kühl und leidenschaftlich wie der Soundtrack der New Yorker Prä-Punk-Band “Suicide”. Eine brillante, ungewöhnliche Gesellschaftsanalyse voll absurder Komik und verhaltener Zärtlichkeit.
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Originaltitel: Seize Printemps
Regie & Drehbuch: Suzanne Lindon
Darsteller: Suzanne Lindon, Arnaud Valois, Frédéric Pierrot, Florence Viala
Produktionsland: Frankreich, 2020
Länge: 73 Minuten
Kinostart: 17. Juni 2021
Verleih: MFA+ Film Distribution
Fotos,Pressematerial & Trailer: Copyright MFA+ Film Distribution
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