Das schillernde Spiel mit Rollenklischees und Diskriminierungsmechanismen, mit Komik und Tragik ist riskant, Bruchlandungen oft vorprogrammiert, aber US-Regisseur Peter Farrelly gelingt der Balanceakt: Sein Roadmovie „Green Book” über die Rassentrennung im Süden Amerikas Anfang der Sechziger Jahre entwickelt sich zum verblüffenden Konstrukt zwischen Identitätskrise und Selbstfindung: lakonisch, klug, anrührend, süffisant ironisch, bodenständig witzig, scharfsinnig, dreist, dann wieder melancholisch oder gar sentimental, den permanent wechselnden Ton bestimmen die beiden Protagonisten.
Der Film, für fünf Oscars nominiert, basiert auf wahren Begebenheiten und ist vor allem ein Revival des genialen schwarzen Jazz-Pianisten Don Shirley (1927- 2013), seine Kompositionen spiegeln als Subtext die Konflikte jener Zeit.
New York 1962. Wenn er zuschlägt, fließt Blut, doch meist genügt ein warnender Blick. Tony „Lip” Vallelonga (Viggo Mortensen) ist Rausschmeißer im legendären Nachtclub Copacabana. Hier verkehren die Stars aus dem Showgeschäft ebenso wie die Größen aus dem Organisierten Verbrechen. Als das noble Etablissement vorübergehend wegen Renovierungsarbeiten schließt, tritt der liebevolle Familienvater nur äußerst widerwillig für zwei Monate den Dienst als Chauffeur und Bodyguard bei dem berühmten Jazz-Pianisten Dr. Don Shirley (Mahershala Ali) an, der eine Konzerttournee mit seinem Trio durch die Südstaaten plant. Großmaul Tony hat schon in den ersten Szenen auf der Leinwand seine rassistische Einstellung unter Beweis gestellt, aber Jobs sind rar und die Bezahlung verlockend, außerdem entgeht er so den heimischen Mafiosi, die ihn anwerben wollen.
Die Hälfte des Honorars gibt es im Voraus, die andere Hälfte am Ende, unter der Bedingung, dass alle Termine eingehalten werden, so verlangt es die Plattenfirma. Tony trägt nicht nur die Verantwortung für die körperliche Unversehrtheit seines Schützlings, sondern muss auch dafür sorgen, dass immer ein Steinway-Flügel auf der Bühne steht. Als Hilfe bei der Quartiersuche im tiefen Süden drückt man ihm den Reiseführer „The Negro Motorist Green Book” in die Hand, der die wenigen Unterkünfte, Tankstellen, Autowerkstätten, Hotels und Restaurants auflistet, wo schwarze Kunden und Gäste akzeptiert werden. Erst zwei Jahre später,1964, erklärte der Civil Rights Acts die Rassentrennung für illegal. Als Tony das schmale Büchlein durchblättert, spürt der Zuschauer, dass ihm für einen Moment das Ausmaß der Diskriminierung afroamerikanischer Bürger bewusst wird, aber er ist damit aufgewachsen, sie ist selbstverständlich für ihn, er hat sie nie hinterfragt. Und so befördert er daheim die Gläser, aus denen die beiden schwarzen Handwerker ihre, von der Hausfrau angebotene Limonade getrunken haben, in den Müll. Kopfschüttelnd fischt Gattin Dolores (Linda Cardellini) die Gläser wieder aus dem Abfalleiner, sie sagt nichts.
Der Abschied von der Familie fällt Tony schwer, er verspricht jeden Tag zu schreiben. Nun gleitet der türkisfarbene Cadillac Coupe De Ville durch wundervolle Landschaften, die Atmosphäre im Wagen selbst ist höchst angespannt. Don Shirley mustert missmutig den Rücken seines Fahrers, der verschlingt vergnügt hinterm Steuer die mitgebrachten Stullen, raucht, redet unaufhörlich, stellt indiskrete Fragen, hält es für erschütternd, dass der Doc, wie er ihn nennt, weder Little Richard kennt noch Fried Chicken isst, wie es sich seiner Meinung nach für einen Schwarzen gehört. Die zwei Männer könnten kaum gegensätzlicher sein, die üblichen Rollenklischees sind vertauscht: Der elegante, distinguierte Künstler mit der traumhaft luxuriösen Wohnung über der Carnegie-Hall fühlt sich dem ungebildeten Italo-Amerikaner aus der Bronx nicht nur intellektuell weit überlegen, und das lässt er ihn auch deutlich spüren. Vorurteile haben beide Protagonisten reichlich.
Das ästhetisch grandiose Roadmovie (Kamera: Sean Porter III) fühlt sich an wie ein Drama trotz seiner Komik, der hinreißende Humor entwickelt sich vorrangig aus den Figuren, aus ihren Streits und Diskussionen. Am meisten Lacher kriegt dabei Viggo Mortensen, der für diese ungewohnt komödiantische Rolle dreißig Kilo zugelegt hat, Oscar-Preisträger Mahershala Alis Part besitzt dagegen eine feine, unterkühlte Ironie, die sein Reisegefährte meist völlig missversteht. Tag für Tag, Abend für Abend erlebt Tony hautnah jene unablässigen Erniedrigungen, die Schwarze damals im Süden erdulden mussten. Ganz langsam begreift der Mann aus den Bronx nicht nur das Talent des außergewöhnlichen Pianisten sondern auch dessen Einsamkeit. Hinter dem verschlossenen Gesichtsausdruck verbirgt sich Enttäuschung, Zorn, Ohnmacht aber auch Mut, er hat ganz bewusst diese Route für seine Tournee gewählt. Ebenso wächst bei Don Shirley der Respekt für den scheinbar ungehobelten Chauffeur, natürlich mogelt der gern mal ein wenig, aber es ändert nichts an Tonys Sinn für Gerechtigkeit. Er beweist Intelligenz und Geschick, wenn er den fragilen Pianisten vor körperlichen Angriffen, Demütigungen, Gefängnis und dem eigenem Selbstzerstörungstrieb beschützt.
Die Informationen über Dr. Donald Walbridge Shirley sind rar und manchmal widersprüchlich. Er beherrschte fließend verschiedene Fremdsprachen, erwarb mehrere Doktortitel. Angeblich begann er im Alter von neun Jahren am Leningrader Konservatorium Klavier zu studieren. Mit 18 gab er sein Konzertdebüt mit dem Boston Pops Symphonieorchester, Tschaikowskis Klavierkonzert Nr.1 b-Moll. Als Afroamerikaner war damals eine Karriere als Konzertpianist unmöglich und Black Music nicht seine Welt, er gab auf und studierte Psychologie in Chicago. Aber die Klassik blieb seine eigentliche Leidenschaft, so schildert er es auch Tony bei einem Drink in der Hotel-Lounge. Don Shirley begann in Nachtclubs aufzutreten, sein Trio verband amerikanische und europäische Musiktraditionen mit den Formen der klassischen Konzertmusik, er komponierte Symphonien für Orgel, Streichquartette, ein Tongedicht zu James Joyces „Finnegans Wake” und Variationen über „Orpheus in der Unterwelt”. Für Duke Ellington, mit dem er befreundet war, schuf er „Divertimento for Duke by Don”, ein sinfonisches Werk, uraufgeführt 1974 vom Hamilton Philharmonic Orchestra of Ontario. Igor Strawinsky sagte von Shirley, „seine Virtuosität wäre den Göttern ebenbürtig”.
Der US-amerikanische Jazzpianist, Keyboarder und Komponist Kris Bowers kennt die Klischees über schwarze Musiker nur zu gut, viel Zeit hat der 29jährige darauf verwenden müssen, Agenten und Auftraggeber immer wieder zu überzeugen, Hip Hop wäre nicht seine Richtung. Er hat den Soundtrack für „Green Book” komponiert, spielt im Film Frédéric Chopins Etude op. 25, No. 11 in A Dur und Claude Debussys Arabesque No. 1, Songs wie Blue Skies, Lullaby of Birdland, The Lonesome Road, ebenso wie die Jazz-Stücke der Konzertabende, in denen man Shirleys Passion für klassische Musik spürt, den Schmerz über eine Welt, die ihm verwehrt ist. Kris Bowers eröffnet uns das musikalische Spektrum des genialen Ausnahmekünstlers. Im Close-up sind es manchmal während schwieriger Passagen Bowers Hände, die auf der Leinwand erscheinen. Der Soundtrack selbst aber hebt sich bewusst vom Stil des Protagonisten ab, mit leichten Einflüssen vom Gospel, Folk, unterbrochen von den Klängen und Erinnerungen an Nat King Cole und Frank Sinatra.
Die Idee für den Film stammt von Nick Vallelonga, Tonys ältestem Sohn. Regisseur und Co-Autor des hintergründigen Re-Education-Epos ist erstaunlicherweise Peter Farrelly, der früher mit seinem Bruder Bobby einen gewinnbringenden Blockbuster-Mix aus Klamauk und extremer Geschmacklosigkeit herstellte, („Dumm und Dümmer”, „Verrückt nach Mary“), dergleichen könnte heutzutage leicht Missfallen erregen. Und selbst diesem Hybrid aus Drama und Comedy begegnen vereinzelte Kollegen, die nicht mit Charlie Chaplin, Ernst Lubitsch, Bertolt Brecht und den polnischen Satiren des Kalten Krieges wie Sławomir Mrożeks „Tango” aufgewachsen sind, voller Misstrauen. Verfremdung, Überzeichnung, Ironie werden leichtfertig als Diskriminierung ausgelegt, das Thema als bloßes Alibi. Lachen über den Feind, um ihn zu entwaffnen, wird eigenartigerweise oft nur dem Neo Magazin Royale und seinem Moderator Jan Böhmermann zugestanden. Wobei beim Thema Rassismus natürlich erhöhte Vorsicht geboten ist, was der französische Regisseur Philippe de Chauveron uns mit „Hereinspaziert!” zumutete, war inakzeptabel. „Green Book” ist die Umkehrung von „Miss Daisy und ihr Chauffeur”, Bruce Beresfords erfolgreicher Tragikomödie aus dem Jahr 1989 und eine um vieles subtilere Charakterstudie als Olivier Nakaches und Éric Toledanos „Ziemlich beste Freunde.
Peter Farrelly liebt nichts mehr, als sich ins Auto zu setzen und einfach loszufahren, weil er dabei herrlich nachdenken kann und den Kopf frei kriegt. Autofahrten spielen in vielen seiner Filme eine Rolle und er selbst hat die USA schon 22 Mal mit dem Wagen durchquert. Viggo Mortensen („Captain Fantastic“, „The Road“, „Herr der Ringe Trilogie“) über den das ungewöhnliche Buddy-Movie: „Grundsätzlich geben einem Roadmovies die Möglichkeit, Figuren auf engem Raum zusammenzubringen, die sonst nicht viel Zeit miteinander verbringen würden. Interessante Dinge können und werden passieren. Je mehr Zeit man miteinander verbringt, desto besser oder schlechter kommt man miteinander aus. Desto mehr lernt man über den anderen und über sich selbst.“ Mahershala Ali („Moonlight“, „Hidden Figures“) ist überzeugt davon, dass die Enge im Auto dazu führt, dass sich die Kluft zwischen den Welten der beiden Männer schließt. „Es ist nicht so, dass sie einander ähnlicher werden. Vielmehr lernen sie, den anderen zu akzeptieren, und beginnen, gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Sie erkennen, dass sie sich gemeinsam auf dieser Reise befinden, als Freunde, als eine Art Mannschaftskameraden, und es ist wirklich wunderbar, ihnen dabei zuzusehen.“ Wunderbar, aber auch schmerzhaft. Der Begriff Feel-Good-Movie wird dem Film nicht gerecht, „Green Book“ ist mehr als ein Rassismus-Rührstück.
Der Film hat viele zauberhafteMomente und Nebenschauplätze. Mühevoll kritzelt Tony einen Brief an Dolores, entsetzt beobachtet ihn Shirley, will wissen, was er da macht. Kurz entschlossen diktiert er ihm die Sätze, Dolores ist gerührt, ihre Freundinnen schwer beeindruckt, doch die Hausfrau ahnt, wer dahinter steckt und flüstert am Heiligabend dem Pianisten leise ins Ohr: Danke. Doch den letzten Liebesbrief schreibt Tony, der hemdsärmelige Muskelprotz, allein, reicht ihn Shirley mit verhaltenem Stolz und die Zeilen sind wirklich hinreißend, einfach und schön, beide lernen von einander, Gefühle zu zeigen oder umgekehrt, sie zu verbergen. Louisiana, Alabama, je weiter es nach Süden geht, desto schäbiger werden die Unterkünfte für den Pianisten und extremer die Diskriminierung. Abends tritt Don Shirley vor der illustren weißen High Society auf, bedankt sich mit einem Lächeln für den warmen, herzlichen Empfang, welche Ironie liegt in den Worten. Der Cadillac erhält einen Ehrenplatz, nur er, der Star des Abends, ein Freund der Kennedys, muss sich in der Besenkammer umziehen. In einer Privatvilla wird ihm die Benutzung der Toilette verweigert und im luxuriösen Hotelrestaurant, wo er in einer Stunde auftreten soll, darf er nicht mit seinem Chauffeur und den beiden Musikern zusammen essen.
Am 12. April 1956 wurde Nat King Cole in Birmingham auf der Bühne von Weißen attackiert, mehr als hundert Männer hatten sich zusammengerottet. Die Konzerttournee mit seinem Trio ist Don Shirleys Antwort darauf, ein privater Kreuzzug, Herausforderung an sich selbst. Er predigt dem Chauffeur, die Würde siegt immer, Tony möchte lieber hart zuschlagen und manchmal bleibt auch keine andere Wahl. Es geht um Identität und Selbstfindung, Tony behauptet, schwärzer zu sein als Don Shirley, der seine ganze Energie darauf aufwendet, sich abzugrenzen. Der Bouncer aus dem Copacabana, war früher bei der Müllabfuhr, ist stolz darauf, wer er ist, wo er herkommt und macht sich keine Illusionen über die Zukunft. Wenn er Abends im Bett sich eine ganze Pizza greift und reinbeißt, überzeugt es uns als Ausdruck reinster Lebensfreude, die der Komponist sich versagt. Jener Italo-Amerikaner mit abgebrochener Schulausbildung überrumpelt uns, er ist um vieles cleverer als wir dachten. Und auch sensibler. Das Großmaul aus den Bronx steht für eine im Umbruch begriffene Gesellschaft, durchaus fähig, ihre Einstellung zu überdenken, zu revidieren, so wie viele, die als Fremde unter Fremden in den Metropolen an Fließbändern oder auf dem Bau zusammenarbeiten, Tag für Tag, irgendwann ihre Gemeinsamkeiten entdecken, den Respekt voreinander. Doch unüberbrückbar bleiben die gesellschaftlichen Schranken für die meisten wie Tony, ihnen ist die Verachtung der Oberschicht sicher. Damals wie heute.
Anfangs zögerte Viggo Mortensen, die Rolle zu übernehmen, doch dann lernte er Tonys Familie kennen und stellte fest: Der Protagonist war seinem Vater sehr ähnlich. „Die Vallelonga- und Mortensen-Familien sind zwar ethnisch und vom Hintergrund sehr verschieden, aber wir hatten sofort einen Draht zu einander. Unser Humor ist derselbe, die Familiendynamik kam mir verblüffend bekannt vor. Mein Vater stammt aus Dänemark, aber seine Einstellung zu Rasse und Politik, seine Arbeiterklassen-Herkunft, eine gewisse Halsstarrigkeit, eine bestimmte Ausstrahlung- in all diesen Punkten schien er Tony doch recht ähnlich gewesen zu sein. Die Art von Witzen, die Tony erzählte, sein Verhalten, seine Widersprüchlichkeiten- ich sah immer meinem Vater vor mir und erzählte ihnen davon. Wir lachten und gaben an mit unseren Vätern. Wir lagen auf einer Wellenlänge. Das war der Startschuss für mich.“ Für Mortensen ist Tony ein Mann, der zu seinem Wort steht, ein grundanständiger Kerl mit Prinzipien. Gleichgültig wie unflätig er sich gab, er war „ein geborener Gentleman“.
Tony Lip und Don Shirley blieben 50 Jahre befreundet, sie starben 2013 im Abstand von nur drei Monaten.
Originaltitel Film: Green Book
Regie: Peter FarrellyDrehbuch: Nick Vallelonga, Peter Farrelly, Brian Hayes Currie
Darsteller: Viggo Mortensen, Mahershala Ali, Linda Cardellini, Don Stark, P.J. Byrne
Produktionsland: USA, 2018
Länge: 130 Minuten
Kinostart: 31.1.2019
Verleih: Entertainment One Germany GmbH
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Entertainment One Germany GmbH
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