Film
Werk ohne Autor

Eine emotionale Achterbahnfahrt durch drei Jahrzehnte deutscher Geschichte nennt Florian Henckel von Donnersmarck seinen neuen Film. Er inszeniert „Werk ohne Autor” als suggestives grandios konstruiertes Puzzle zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Ost und West.
Atemberaubend jener Mix aus Künstlerporträt, Lovestory, Neo-Noir und verstörendem Euthanasiedrama. Das opulent wagemutige Polit-Epos in der Tradition von Orson Welles’ „Citizen Kane” macht die Malerei zum Schlachtfeld und Schauplatz wechselnder Ideologien.
Manche deutschen Kritiker tun sich offensichtlich schwer mit dem Oeuvre: nach ersten positiven Rezensionen und Standing Ovations bei der Premiere begann plötzlich in Venedig auf der Biennale del Cinema ein feuilletonistischer Großangriff der Häme. Welche Ironie, zentrales Thema bei Donnersmarck ist die Freiheit der Kunst, und grade die wird ihm, dem Regisseur, nicht zugestanden.

Großschönau, 1937. Es ist früh am Morgen, Sanitäter zerren ein junges Mädchen in den Krankenwagen, sie wehrt sich verzweifelt. Voller Entsetzen sieht der kleine Kurt Barnert, wie die uniformierten Männer Elisabeth, seine Tante (Saskia Rosendahl), brutal mit einer Injektion ruhigstellen. Er hebt die Hand vor die Augen, senkt sie wieder, das Bild wird unscharf, als könnte es so den Schmerz lindern. „Nie wegsehen” hatte ihm die wunderschöne Neuzehnjährige eingeschärft, noch vor kurzem waren sie in Dresden zur Ausstellung „Entartete Kunst”: Otto Dix, Karl Schmidt-Rottluff, Erich Heckel, Piet Mondrian. Eine polemisch geschulte Fachkraft (Lars Eidinger) ergeht sich vor den Besuchern in nationalsozialistischer Parteipropaganda: „Der Soldat wird als Mörder oder sinnloses Schlachtopfer dargestellt, dem Volk soll die tief eingewurzelte Achtung vor der soldatischen Tapferkeit so ausgetrieben werden.” Bei den abstrakten Kompositionen wendet er sich an den Jungen: „Weißt Du, wie viel sie Herrn Wassily Kandinsky dafür gezahlt haben: 2000 Mark. Mehr als das Jahresgehalt eines deutschen Arbeiters. Was macht dein Papa?” Kurt ist fünf Jahre alt und sein Vater arbeitslos. Mutlos gesteht er Elisabeth: „Vielleicht will ich doch kein Maler werden.”

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„Werk ohne Autor” ist ein überwältigendes monumentales Epos nicht ohne Pathos, aber mit unendlich vielen kleinen, filigranen ästhetisch virtuosen Szenen, die zutiefst berühren und jedes Mal einen anderen, neuen Zugang zu den Protagonisten eröffnen (Kamera: Caleb Deschanel). Auf der Heimfahrt im Bus zeigt Kurt aus dem Fenster: „Da hinten war unsere Wohnung”, er ist nur ungern dort weggezogen aufs Land zu den Verwandten. Elisabeth fragt ihn: „Was vermisst Du am meisten in Dresden?” Der Junge zuckt mit den Schultern, ist den Tränen nahe. Nein, es ist nicht nur Johanna, seine Freundin mit den feuerroten Zöpfen: „Die Schröders...weißt Du, das alte Ehepaar bei uns im Haus, die sich immer an den Händen halten...wie kleine Kinder. Ich mag die. Und ihr Dackel der Theo. Der ist immer zu mir gekommen, wenn ich gerufen habe.” Unsere Erinnerung hat etwas scheinbar Willkürliches, wie jene Schnappschüsse, der Ausgangspunkt für Kurt Barnerts Bilder in den Sechziger Jahren. Der Bus fährt über die Augustusbrücke, noch funkeln die goldenen Kuppeln und Zinnen der Barockstadt im Sonnenlicht.

Zwei Stunden später Zentralbusbahnhof Großschönau, Abenddämmerung. Die Straßen sind menschenleer, man hat das unverwechselbare Gefühl, in der Provinz zu sein. Elisabeth nimmt das Kind an der Hand und geht zum Parkplatz, hier stehen ein halbes Dutzend Busse. Die Fahrer verspeisen grade die mitgebrachten Butterbrote. Sie kennen Elisabeth, lächeln de Mädchen zu. Sie legt die Hände in einer bittenden Geste zusammen, die Busfahrer nicken sich zu. Einer beginnt, drückt auf die Hupe, dann ein Zweiter, bis bald alle gleichzeitig hupen. Der tiefe, helle Ton durchdringt alles. Elisabeth schließt die Augen, neigt den Kopf nach hinten, hebt die Arme wie im Gebet, entgleitet der Realität. Wenn die Hupen verstummen, erwacht sie aus ihrem Trance, wirft den Männern eine Kusshand zu und sagt zu dem Jungen: “Ein Bild zu malen, dass sich so anfühlt. Das ist es, was sie versuchen die entarteten Künstler.” Trotzdem wird grade sie es sein, die von einem SS-Mann auserkoren, Adolf Hitler einen Blumenstrauß überreichen muss. Irgendwann später an einem Nachmittag kommt Kurt heim, schließt die Haustür auf, aus dem Wohnzimmer klingt Klaviermusik, „Schafe können sicher weiden” von Bach.

Ein Gefühl des Unbehagens beschleicht den Fünfjährigen. Es ist Elisabeth, die am Klavier sitzt und spielt. Sie ist nackt und dreht sich nicht um. Kurt senkt die Augen. „Sieh nicht weg”, sagt Elisabeth. „Nie wegsehen Kurt.... Alles was wahr ist, ist schön.” Der Junge kommt näher, betrachtet die nackte Frau. Plötzlich spielt Elisabeth nur noch einen Ton, eine Note, schlägt die Taste immer und immer wieder an: „Darin steckt die ganze Kraft der Musik, des Lebens, des Universums. Menschen suchen nach der Weltenformel. Aber hier ist sie: das zweigestrichene A am Blüthner Klavier der Mays in Waltersdorf. Uns kann nichts geschehen, weil wir diesen Ton haben.” Sie lacht, weint: „Und jetzt, wo ich ihn kenne, kann ich ihn überall spielen. Auf dem Tisch..” Sie greift einen schweren Kristallaschenbecher, schlägt auf die gläserne Platte des Sofatisches, „Sogar auf meinen Kopf”, immer wieder schlägt sie auf sich selbst ein, bis ihr das Blut aus den Haaren ins Gesicht rinnt.”. Als Großmutter und Mutter den Raum betreten, erklärt sie ihnen strahlend, auf die Frage, was sie da um Gottes willen mache: „Ein Konzert für den Führer”. Die Maschinerie der nationalsozialistischen Psychiatrie verschlingt die, als schizophren diagnostizierte Elisabeth, Einweisung per staatlicher Order, Zwangssterilisation, Tod in der Gaskammer. Davon ahnt ihre Familie nichts, die Hintergründe und Tatumstände kennt zu diesem Zeitpunkt nur der Zuschauer als Mitwisser wider Willen.

Von nun an läuft der Film auf mehreren Ebenen, doch die Schicksale sind untrennbar miteinander verstrickt. Oscar-Preisträger Donnersmarck („Das Leben der Anderen”) greift einzelne Zeitpunkte heraus wie den 13. Februar 1945. Der dreizehnjährige Kurt wird geweckt durch das bedrohliche Dröhnen der englischen und amerikanischen Kampfflugzeuge. Sie wirken zum Anfassen nahe. Der Junge rennt hinter das Haus, auf eine kleine Anhöhe und beobachtet die Geschwader. Plötzlich flattert etwas vom Himmel hinab, Stanniolstreifen, Tausende, Hunderttausende wie glitzernde Luftschlangen. Sie sollen die Radargeräte stören. Dazwischen geschnitten: Der Bus, in dem damals Kurt und Elisabeth fuhren, er durchquert grade einen Torbogen, als ihn einer Bombe trifft, Fahrer und Passagiere werden unter den Trümmern begraben. Schnitt. Dresden. Ein altes Ehepaar, das sich an den Händen hält, wird auf dem Weg zum Luftschutzkeller erschlagen und verschüttet. Schnitt. Ein Kinderzimmer. „Johanna” schreit die Mutter auf, noch bevor sie das Bett erreicht, in dem ihre zwölfjährige Tochter schläft, schlägt die Feuerbombe ein. Schnitt. Die Straßen sind schwarz von Ruß und Staub. Sirenen, Husten, Weinen, Schreie, das Dröhnen der Kampfflieger, immer wieder Explosionen. Die Kamera bleibt tief, zeigt nur die rennenden Beine. Ein Dackel liegt zuckend auf dem Trottoir, es fehlt der Unterleib. Dazwischen wieder das Haus der Mays, Kurt, der die Bomber und Flammen in der Ferne sieht, kann nur erahnen was dort geschieht. Die Mutter ist dazu gekommen. Auf den Gesichtern flackert der Widerschein der brennenden Stadt. Die Mutter hält dem Jungen die Augen zu. Er schiebt die Hand weg. Sie versucht es noch einmal. Es kommen immer mehr Flugzeuge. Die Kamera nimmt die Sicht Kurts ein, er stellt das Bild der Jagdbomber unscharf.

Schnitt. Ostfront, eine Lagerhalle in Witebsk, Elisabeths Brüder liegen nebeneinander in der Kälte auf ihren dreckigen Feldschlafsäcken zwischen anderen deutschen Soldaten, Granaten schlagen ein, Ehrenfried wird von einem Splitter an der Halsschlagader getroffen, er stirbt in den Armen seines Bruders Günther. Der greift voller Wut und Verzweiflung zum Gewehr, aber eine Maschinengewehrsalve durchlöchert ihn, er sackt an der Wand langsam zusammen. Schnitt. Klinikum Großschweidnitz. Eine Gruppe von zwanzig Patientinnen, bekleidet nur in Unterwäsche, wird durch die Gänge des Hospitals geführt und über den Hof, Elisabeth ist nur noch ein Schatten ihrer selbst, ohne Widerspruch betritt sie den angeblichen Duschraum. Das Personal verriegelt die Tür, das Kohlenmonoxid strömt langsam aus. Elisabeth steht ganz ruhig da und blickt auf die verzweifelten Menschen um sie herum. Einige Patientinnen rütteln an der Tür. Draußen beruhigt der Arzt seine Mitarbeiter mit den Worten: „Es ist auch für sie eine Erlösung”. Kaum ein Laut dringt mehr nach draußen, das Klopfen an der Tür wird schwächer, verstummt ganz. Da taucht noch einmal in dem Lukenfenster der Tür das Gesicht einer jungen Frau mit Down-Syndrom auf. Als sie ihre Betreuer sieht, lächelt sie ihnen freudig zu, küsst die Scheibe, dann plötzlich spürt sie den Schmerz, erst erstaunt, dann traurig, schließlich sackt auch sie in sich zusammen.

So oder zumindest ähnlich liest es sich in Donnersmarcks Drehbuch. Diese letzten Sequenzen waren der Auslöser für die erbitterte Attacken in Venedig, nach einer wohlwollenden Kritik vom Vortag schob die Süddeutsche am 6. September 2018,15:58 Uhr einen Beitrag von David Steinitz nach. „Werk ohne Autor” habe eine heftige Debatte ausgelöst, weil Bilder aus einer Gaskammer mit der Bombardierung Dresdens parallel geschnitten würden. Zuschauer hätten diese visuelle Gleichsetzung kritisiert. „Das ist ethisch zumindest fragwürdig, heißt es im Weserkurier. „Die Vergasung von Barnerts Tante wirklich zu zeigen? Kein Bild der Welt kann das unvorstellbare Leid fassen, dass die Menschen in den Gaskammern erlitten. Donnersmarck aber traut sich das zu. Und er zeigt parallel dazu die Bombardierung Dresdens: Zwischen Opfern und Tätern wird hier nicht unterschieden.” Meint der Kritiker mit Tätern die amerikanischen und englischen Piloten? Die vom Nationalsozialismus Verfolgten sahen sie als Befreier, so und nicht anders sollten auch wir sie heute bezeichnen. Wer in Ruhe sich die einzelnen Szenen vornimmt, erkennt, dass Donnersmarck die Traumata seines jungen Protagonisten auf einen Tag verdichtet hat. Den Verlust seiner Lieblingstante, deren Brüdern, der kleinen Joanna und des Dackels Theo, selbst jenes Symbols tiefster Zugehörigkeit, das alte Ehepaar, das sich wie Kinder an den Händen hält, stirbt. Wenig später wird sich Kurts Vater das Leben nehmen, er war Lehrer, hatte lange gezögert, der NSDAP beizutreten, ganz zuletzt gab er klein bei, aber in der DDR weigert man sich, ihn wieder in den Schuldienst aufzunehmen, so putzt er Treppen, die Demütigungen zerstören ihn innerlich. Auch sein Sohn schrubbt Treppen, aber er und seine Freunde machen lachend eine Slapstick-Nummer daraus. Diese Rezensionen sagen vielleicht mehr über die Filmkritiker aus als über den Film.

Etwas nicht zeigen, kann auch bedeuten, es sich ersparen zu wollen wie das Leiden in einer Gaskammer. Natürlich ist der kürzlich verstorbene französische Regisseur Claude Lanzmann eine Autorität in diesen Fragen, sein zweiteiliger Dokumentarfilm „Shoah“ (1985) besteht nur aus Interviews mit Zeitzeugen und langsamen Kamerafahrten an die Orte, an denen Juden während des zweiten Weltkriegs deportiert und ermordet wurden. Kein einziger Leichnam wird gezeigt, Lanzmann vertrat die Auffassung, der Holocaust entziehe sich der nachinszenierenden, nachspielenden Darstellung. Und doch ist der Holocaust als Thema unserer Spielfilmkultur und notwendiger Ansatz zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus unverzichtbar. Erstaunlich nur, wie wenig Beachtung grade in Deutschland Werke wie „Son of Saul“ fanden. Das Auschwitz-Epos des ungarischen Regisseurs László Nemes, ist niederschmetternd wie kaum ein anderer Film je zuvor. Er packt uns mit aller Wucht, zerrt uns hinein in das Geschehen, zerstört radikal die sonst übliche komfortable Beobachterposition und eröffnet völlig neue Perspektiven auf die Vergangenheit. Beschämend, wenn man unsere Zuschauerzahlen mit denen aus Italien, Belgien, Spanien und Großbritannien vergleicht. Oder „Paradies“. Als obszön hätte es Andrei Konchalovsky empfunden, seinen Film in Farbe zu drehen. Der 79-jährige russische Regisseur entdeckt für uns radikale neue Wege der Annäherung an eine Vergangenheit, die unfassbar scheint. Das ästhetisch virtuose, schwermütige Drama vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs entwickelt sich zur zeitlosen Parabel über das menschliche Versagen und jene unstillbare Sehnsucht nach Erlösung. Die Protagonisten: Ein Franzose, eine Russin, ein Deutscher, alle drei Darsteller spielen in ihrer jeweiligen Muttersprache. Schon das ist spektakulär, dieser Mix aus dokumentarischer Authentizität und ungewohntem metaphysischem Selbstverständnis. Es wird ein Abschied von der herkömmlichen Feindfigur.

Zurück zu „Werk ohne Autor”: Elisabeth bleibt für ihren Neffen immer der Inbegriff von Kreativität, von Schönheit. Der neunzehnjährige Kurt (Tom Schilling) verdient sein Geld mit dem Malen von Bannern. „Die Deutsche Demokratische Republik- Retter des Friedens“. Kurt zeichnet, eine Zigarette im Mund, mit großem Geschick die riesigen Buchstaben freihändig. Wenn alle weg sind, arbeitet er in der Werkstatt heimlich weiter an seinen kubistisch-expressionistischen Entwürfen. Ein Schädel im Picassostil, drei Schädel, die an Beckmann erinnern, eine erotische Kohlezeichnung wie von Kokoschka und ein unheimliches kaum noch als menschlich erkennbares Gesicht, das mit einem Tierkörper verschmilzt, ein Mix aus Kubin und Odilon Redon. Der Vorarbeiter überrascht ihn, eigentlich hält der als überzeugter Kommunist wenig von solchem Kram. Hilft das dem Arbeiter? Aber die Intensität der Bilder kommt über, ihm ist klar, dieser Junge hat viel durchgemacht, er unterstützt dessen Bewerbung an der Dresdner Kunstakademie. Das ist von nun an Kurts Welt: Sozialistischer Realismus, alle Eitelkeiten beiseite lassen und sich ganz in den Dienst der Sache stellen. „Natürlich wollen wir von Ihnen nicht die grobnaturalistische Ästhetik des Faschismus, der in spießiger Weise Kunst durch Kitsch ersetzt”, erklärt der Professor seinen Schülern. Er warnt vor Malern wie Pablo Picasso, einst leidenschaftlicher Antifaschist, von dem es starke realistische Bilder gibt, die eine echte Solidarität zur Arbeiterklasse beweisen, der dann aber bald abrutschte in einen dekadenten obszönen Formalismus ab. Innovation, schöpferische Unabhängigkeit, künstlerische Freiheit, mag für einen Künstler verlockend klingen, doch hier zählen allein die Interessen des Volkes.

Kurt verliebt sich in die Modestudentin Elli (Paula Beer), nicht ahnend, dass deren Vater, jener in der DDR so renommierte Gynäkologe, Professor Carl Seeband (Sebastian Koch), verantwortlich war für die Zwangssterilisation und den Tod seiner Tante. Der Arzt verachtet den jungen Künstler, setzt alles daran, Kurt und Elli auseinander zu bringen, aber die beiden heiraten. Täter und Opfer in einer Familie: der Film ist stark inspiriert von Ereignissen aus dem Leben Gerhard Richters, Deutschlands berühmtesten Maler, Bildhauer und Fotographen. In dieser Hitchcock-ähnlichen Gegnerschaft verliert Seeband nie an monströser Bedrohlichkeit. Wann immer er in Erscheinung tritt, erinnert sich der Zuschauer jenes grauenvollen Momentes, wenn Elisabeth begreift, dass sie sterilisiert werden soll. Sie schmeichelt, bettelt: „Bitte... Bitte...für den Führer. Ich werde Kinder gebären, gesunde, arische Kinder... Ich bin doch nur manchmal verwirrt... Bitte nehmen sie mir nicht meine Kinder.” Sie reißt sich los von den Pflegern, umklammert Seebands Beine wie die Sünderin auf einem biblischen Gemälde. In schriller Verzweiflung fleht sie: „Sie sind doch auch ein Vater...Bitte, für Ihre Tochter... die auch malt... Sie könnte meine Schwester sein... Ich könnte ihre Tochter sein... Papa.” Sie betont die zweite Silbe. „Papa”. Seeband, der elegante skrupellose eiskalte Ideologe und Machtmensch ist verunsichert, angeekelt, den Eingriff selbst lässt er von einem Kollegen ausführen. Aber Jahre später wird er seine Tochter operieren. Einen Enkel von Kurt könnte er nie akzeptieren, er scheut vor keiner Intrige zurück, ihm fehlt jedes Unrechtsbewusstsein. Im Gegenteil, er handelt aus tiefster Überzeugung und glaubt sich im Recht. Als strenger rationaler Perfektionist ist ihm alles verhasst, wofür Kunst steht. Er hat mit Glück seinen Kopf aus der Schlinge ziehen können, wird protegiert, das gibt ihm ein Gefühl der Überlegenheit. Es geht für ihn nicht darum, einer der Besten zu sein, sondern der Beste. Sebastian Koch sagt in einem Interview über seine Rolle: „Seeband ist so deutsch, dass es weh tut...Er macht keine einzige Bewegung zu viel. Er denkt und bewegt sich wie ein Skalpell... Die Anzüge sind wie eine zweite Haut, aber auch wie eine Uniform- makellos... Er strahlt keinerlei Wärme aus, kein Leben, keine Empathie, kein Verständnis für eine Umwelt, die nicht seiner Vorstellung entspricht.”

Kurt ist das Gegenteil von ihm, noch immer jungenhaft, kein leinwandwirksamer Exzentriker wie van Gogh, eher der klassische stille Beobachter. Die kollektiven wie persönlichen Traumata haben ihn geprägt, aber nie zerstört, am Ende gelingt es ihm, die Vergangenheit in ein Bild zu zwingen, die perfekte Rolle für Tom Schilling, den Meister der subtilen melancholischen Zwischentöne. Der Protagonist stellt bald fest, dass er mit dem Dogma des sozialistischen Realismus nicht glücklich wird. Intimität und Liebe sind bei ihm nahtlos in die Kunst integriert, aus ihr schöpft er seine Kraft genau wie die charismatische Elli, die bis dahin eigentlich nur Tochter eines renommierten Arztes gewesen war. Beide verlieren ihre Passivität, wachsen enger zusammen entgegen aller Hindernissen und Schmerzen, die ihnen zugefügt werden. Kurt hat Erfolg in der DDR, ist dort gefragt als politisch bewusster Freskenmaler, und doch entschließt er sich mit Elli in den Westen zu gehen. Mit Wehmut und ein wenig neidisch betrachtet der Zuschauer, wie Kurt an der Düsseldorfer Kunstakademie Fuß fasst, sich selbst Stück für Stück realisiert, ausprobiert, zurücknimmt, neu erfindet und dann sehen wir, wie sie langsam entstehen die Bilder Barnerts. Vier Wochen hatten Donnersmarck für seine Recherchen mit Gerhardt Richter verbringen dürfen. Der Schauplatz ist nicht unser Deutschland des Vulgärkapitalismus, sondern die kreativen, risikobereiten, verrückten Sechzigerjahre. In dem Filmbuch zu „Werk ohne Autor” vergleicht Alexander Kluge den Künstler mit einer Fledermaus, „die Impulse aussendet und das Echo, etwas sehr Immaterielles, wieder aufnimmt. Dieses Echo ist das eigentliche Produkt, nicht das, was die Fledermaus an Lauten von sich gibt. Erst durch das, was die Welt ihr zurückspielt, kann sie sich orientieren.”

„Kurt Barnerts Leben macht deutlich, dass wir Menschen eine fast alchimistische Fähigkeit besitzen, aus den schlimmen Dingen, die uns allen im Leben widerfahren, etwas Gutes zu machen,” erklärt Donnersmarck. „Gerhard Richter wurde nach der Macht der Kunst gefragt. Er antwortete sinngemäß, er halte dieses Wort für falsch, für ihn habe Kunst keine Macht, sie sei vielmehr da, um Trost zu spenden.” Und auch wenn das Magazin Monopol mit großer Selbstverständlichkeit behauptet: „Kunst ist im Kino schon oft missverstanden worden, aber selten so gründlich.” bleibt dieser Film ein Erlebnis, es ist ein Schuld-und-Sühne-Epos anderer Art, durch Kunst konnte auf dem Trümmerfeld des Zweiten Weltkriegs, aus Verbrechen, Leid, Schmerz und Traumata, etwas wirklich Neues entstehen. „Alles was wahr ist, ist schön”, sagt Elisabeth. Auch so ein Satz, der die Kritiker empörte, die Wahrheit als solche ist unendlich kostbar. Schön ist nicht, was sie enthüllt, sondern dass sie fähig ist, zu enthüllen. Wahrheit bleibt die unabdingbare Voraussetzung von Gerechtigkeit und Freiheit. Wer bald nicht mehr weiß, welchem Kritiker er vertrauen soll, ist das Filmbuch vom Suhrkamp Verlag zu empfehlen mit Script, einem ausführlichem Interview von Tomaso Schultze mit Florian Henckel von Donnersmarck und einem Gespräch zwischen Thomas Demand und Alexander Kluge über „Werk ohne Autor”.

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Originaltitel Film: Werk ohne Autor

Drehbuch & Regie: Florian Henckel von Donnersmarck
Darsteller: Tom Schilling, Sebastian Koch, Paula Beer, Saskia Rosendahl, Oliver Masucci, Ben Becker, Lars Eidinger.
Produktionsland: Deutschland, Italien 2018
Länge: 188 Min.
Verleih: Walt Disney Germany
Kinostart: 3. Oktober 2018

Werk ohne Autor
Florian Henckel von Donnersmarck
Copyright: Filmbuch Suhrkamp
Suhrkamp taschenbuch 4915
Klappenbroschur, 179 Seiten
SIBN 978-3-518-46915-6

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Walt Disney Germany

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