Es ist sein persönlichster Film, von ungewohnter Zärtlichkeit und rauer Melancholie. Oscar-Preisträger Volker Schlöndorff („Die Blechtrommel”) geht auf volles Risiko: Die Offenbarungen des Protagonisten Max Zorn (Stellan Skarsgård) sind in ihrer larmoyanten Überheblichkeit manchmal nur schwer erträglich, doch genau darin liegt jener kühle intellektuelle Charme des Leinwandepos’. Der 78jährige Regisseur weiß, sein Alter Ego taugt nur bedingt als Identifikationsfigur: „Aber wahrhaftig zu sein, war mir wichtiger als zu gefallen”, sagt er.
„Rückkehr nach Montauk” ist eine poetische Zwischenbilanz, mit dem Alter kommt die Reue. Zorn ist Anfang 60, den erfolgreichen Schriftsteller aus Berlin quält weniger das Leid, was er Menschen zufügte, als die verpassten Chancen wie jene große unvergessliche Liebe vor 17 Jahren, um die er sich selbst betrogen hat. Davon handelt auch sein neuer Roman, den er hier in New York vorstellt. Mit skrupelloser Virtuosität verarbeitet der Autor das eigene Leben zum Kunstwerk. Zwischen den illustren Gästen bei der Lesung sitzt seine um vieles jüngere Partnerin Clara (Susanne Wolff), ihre Augen füllen sich mit Tränen, während der Mann dort oben auf dem Podium wehmütig von einer anderen schwärmt.
Schlöndorffs subtiles Drama entstand nach Motiven von Max Frischs bekenntnisreicher Novelle „Montauk”. 206 Seiten, Betrachtungen, Notizen, intime Erinnerungen, die Frau als Bedrohung, Objekt von Kunst und Begierde, mal lästig und unerwünscht, dann wieder Verwirklichung allen Glücks oder unerreichbar. Beziehungen auf wenige Zeilen komprimiert und durch Alltäglichkeiten bloßgestellt. Vielleicht verletzte grade das Ingeborg Bachmann oder die betrogene Ehefrau, sie versuchten die Veröffentlichung zu verhindern. „ICH HABE NICHT MIT DIR GELEBT ALS LITERARISCHES MATERIAL, ICH VERBIETE ES, DASS DU ÜBER MICH SCHREIBST,” heißt es in Frischs Erzählung. Manche Leser waren irritiert, missverstanden es damals 1975 vielleicht noch als eine Art Chronik scandaleuse statt als Eroberung der Neuen Subjektivität. Die meisten Kritiker aber waren hingerissen. Montauk, die nördliche Spitze von Long Island, hundertzehn Meilen von Manhattan entfernt, wurde zum Mythos, und die radikal autobiographische Umsetzung eines Wochenendes zu zweit mit Blick aufs Meer und das gesamte Leben, galt von nun an als Weltliteratur
Auch Schlöndorff hat eine gescheiterte Liebe in New York zu beklagen, sie bedeutete das Aus für eine Ehe, die ihm viel bedeutete. Zusammen mit Co-Autor Colm Tóibín („Brooklyn”) spielt er mit den autobiographischen Versatzstücken von Schriftsteller und Filmemacher. Unweigerlich kollidieren Vergangenheit und Gegenwart, Wirklichkeit, Fiktion und Verklärung: Max Zorn erzwingt ein Wiedersehen mit Rebecca (Nina Hoss), der Angebeteten von einst, die er so schnöde verließ. Die Ex, in Ostdeutschland geboren und heute Staranwältin mit einem nach Erfolg klingenden amerikanischem Namen, reagiert kühl, fast herablassend auf die Avancen des selbstgefälligen etwas tapsigen Literaten. Doch unerwartet lädt sie ihn ein, mit ihr nach Montauk, dem Fischerdorf auf Long Island zu fahren. Zweck ist die Besichtigung einer glamourösen Immobilie, die vielleicht ihr neues Heim werden soll fern städtischer Hektik. Der Termin klappt nicht, der Wagen bleibt in den Dünen stecken. Nein, Zorn will auf keinen Fall zum Bus gebracht werden, um abends pünktlich seine Verabredung einzuhalten.
Die gemeinsame Nacht in demselben Hotel wie vor 17 Jahren hält der Autor für einen Neuanfang, Clara scheint vergessen, große Versprechungen, wie so oft schon in seinem Leben, er belügt sich, ohne es ahnen, sollte er es doch nun endlich besser wissen, er verwechselt seine Sehnsucht auch dieses Mal mit zukunftsbelastbarer Realität, doch Rebecca macht ihm am nächsten Tag ein erschütterndes Geständnis. Sie trauert um einen anderen Mann, er war jung, er war der Richtige, aber er starb. Sie versuchte den Schmerz irgendwie zu kompensieren, wurde zum Workaholic, machte eine Therapie, doch nichts, und bestimmt nicht er Zorn, kann sie diese Liebe vergessen lassen. Betörend schöne, elegische Bilder und geschliffene Wortkaskaden wechseln mit prosaischen Phrasen: Er: “Ich dachte, ich sei etwas Besonderes”. Sie: Und ich wollte, dass Du der Vater meiner Kinder bist.” Wie grauenvoll denkt man, und Sekunden später: fast jeder schlittert irgendwann unbewusst während emotionaler Belastungsproben in peinlichste Plattitüden, möglichst noch mit großem Pathos vorgetragen. Nicht Max Frisch, bei ihm klingt das anders: “Leben ist langweilig, ich mache Erfahrungen nur noch, wenn ich schreibe. Eigentlich kein Witz, er lacht trotzdem, sie nicht”. Und drei Seiten später: “der Schriftsteller scheut sich vor Gefühlen, die sich zur Veröffentlichung nicht eignen”. Dies ist eigentlich der Schlüsselsatz seiner Erzählung. Jene wundervoll karg präzise Sprache, unabhängig davon, ob es um Eichhörnchen, Kühlschrank, Hundekot oder weinende Frauen geht, ab und zu sehnt sich der Zuschauer im Kino nach dem Schweizer Schriftsteller als Voice off.
Der Aufrichtigkeit verschrieben haben sich beide, Volker Schlöndorff und damals Max Frisch, letzterer untermauerte es noch mit einem Zitat von Montaigne aus dem Jahr 1580, das er seiner Novelle voranstellt. Stellan Skarsgård („Breaking the Waves”, „Verräter wie wir”) in der Rolle des Max Zorn wird zum Garant der Wahrhaftigkeit, flüchtet sich nie in Ironie oder Skepsis, sondern harrt tapfer aus in seiner etwas altmodisch egozentrischen Kläglichkeit und akzeptiert das Scheitern als Teil seines Werks. Volker Schlöndorff ist ein brillanter Beobachter, er schildert seine Montauk-Version aus dem Blickwinkel des 21. Jahrhunderts: das Alter lässt den Künstler trotz Talent als Fossil erscheinen, weniger einsamer Wolf und mehr ein trotziger Biedermann, modisch nicht mehr ganz auf der Höhe. Verlassen werden oder Zurückweisungen schmerzen, aber der Regisseur stilisiert sie nicht zum Kampf der Geschlechter. Dem Protagonisten, der die eigene Existenz ausschlachtet, wird kein ruhmvolles Denkmal gesetzt, ihn holt die Vergangenheit ein. Seine Taten reuen ihn nicht im christlichen oder Shakespear’schen Sinne. Was 1975 noch für Aufsehen sorgte, ist heute alltägliche Praxis unserer Kulturlandschaft, schon die Söhne und Töchter wurden zu rücksichtslosen Chronisten ihres Egos, nun reüssieren mehr oder weniger erfolgreich die Enkel, siehe Helene Hegemann. Doch niemanden gelang jener bestechende Wechsel zwischen ich und er wie Max Frisch, wo der Schreiber unmerklich selber zur Romanfigur wird.
Nina Hoss als geheimnisvolle Rebecca eignet sich im Gegensatz zu Max eher als Projektionsfläche oder Identifikationsfigur. Tragik mischt sich mit unwiderstehlicher Eleganz, immer umgibt sie ein Flair von Traurigkeit und leichter Verbitterung, die der Zuschauer anfangs falsch interpretiert. Die beiden könnten nicht gegensätzlicher sein, er aufdringlich, überschwänglich, sie zurückhaltend, sensibel. Als Zorn höchst unangebracht in erschütternder Selbstüberschätzung nachts unangemeldet (und betrunken) bei ihr aufkreuzt, reagiert sie kühl, leicht enerviert, aber jede Regung ist minimalistisch. Ironie, Skepsis, Witz sind nicht Privileg des alternden Künstlers, sondern allein das der Juristin. Der Literat staunt einfältig über die majestätische Ästhetik ihrer riesigen Wohnung: „Ist das Deine?” – „Nein, ich komme nur nachts her, um zu putzen.” Was soll sie ihm sonst entgegnen, er hat wahrlich ein Talent, das Falsche zu sagen. In seinem Weltbild ist nicht vorgesehen, dass ihn eine ehemalige Geliebte karrieremäßig überholt. Bei Schlöndorff sind die Frauen klar die Überlegenen, nicht nur darin ist „Rückkehr nach Montauk” das Gegenstück zu der Erzählung von Max Frisch. 1990, während der Dreharbeiten zum „Homo Faber” sprachen die beiden Männer oft über die Erzählung. Unverfilmbar war ihre Einschätzung zu jenem Zeitpunkt. Am 4. April 1991 starb der Schweizer Schriftsteller.
Zorn zeigt wirkliche Betroffenheit eigentlich nur, wenn er vom toten Vater spricht, er bleibt immer Sohn, ein Unterlegener, um Anerkennung buhlender. Man spürt die Angst vor dem Alter, seine junge Freundin Clara ist eine hilflose Flucht davor. Gedanken macht er sich wenig ums sie, alles dreht sich allein um die eigenen Befindlichkeiten. Was es heißt, mit einem mageren Praktikantensalär in New York sich durchzukämpfen, hat ihn offensichtlich wenig interessiert. Er ist perplex, als er zum ersten Mal sieht, wie sie haust, in einem winzigen Zimmerchen über einem Kebabladen. Es riecht grauenvoll dort oben. Einst hat ihn Clara angehimmelt, aber seine Anekdoten verloren ihre Magie, er hat sie zu oft erzählt. Das Leid ist kein geteiltes, Nähe bleibt eine Illusion, Erinnerungen gehen zu Bruch. Volker Schlöndorff folgt dem Stil seines Freundes Max Frisch, kühl, prägnant und doch emotional betroffen. Sein Film spielt genau wie die Erzählung allein im Hier und Jetzt ohne Rückblenden und doch lässt die Vergangenheit die Protagonisten keinen Augenblick aus ihren Klauen.
Originaltitel: Return to Montauk
Regie: Volker Schlöndorff
Darsteller: Stellan Skarsgård, Nina Hoss, Susanne Wolff, Isi Laborde-Edozien
Produktionsland: Deutschland, Frankreich, Irland, 2016
Länge: 106 Minuten
Verleih: Wild Bunch Germany
Kinostart: 11. Mai 2017
Montauk
Autor: Max Frisch
Suhrkamp Verlag, Taschenbuch 206 Seiten
ISBN 978-3-518-37200-5
Fotos & Trailer: Copyright Wild Bunch Germany
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