„Elle” – Von Rache, Unterwerfung und der Komik des Schreckens
- Geschrieben von Anna Grillet -
Unwiderstehlich: Isabelle Huppert. Mit der Andeutung eines spöttischen Lächelns entlarvt sie das Ungeheuer in uns allen.
Die elegante Rape & Revenge-Phantasie inszeniert Paul Verhoeven als atemberaubenden Mix aus heiterer Farce und verstörendem Thriller. „Elle” ist provokant, raffiniert, bösartig, amüsant, ein Triumph der Kreativität. Genussvoll zerstört der 78jährige niederländische Regisseur das Subgenre des Exploitation-Films, um es neu zu erfinden für seine postfeministische Heldin.
Die Leinwand bleibt schwarz. Stöhnen, unterdrückte Schreie sind zu hören, Ekstase, Schmerz? Wo liegt die Grenze zwischen Lust an hartem Sex oder bloßer Gewalt, unsere Wahrnehmung versagt. Vom ersten Moment an wird der Zuschauer konfrontiert mit den eigenen Sehgewohnheiten, die sich immer wieder als völlig unzureichend erweisen. Der Regisseur zögert die Wahrheit hinaus. Erst richtet er die Kamera auf die unbeweglichen Augen des riesigen Katers dann auf Michèle (Isabelle Huppert), die auf dem Parkettfußoden liegt, über sich ein Angreifer mit schwarzer Maske. Er schlägt ihr brutal ins Gesicht, sie versucht sich zu befreien, Tassen, Gläser fallen vom Tisch, zerbrechen leise klirrend. Der hochgewachsene Mann reißt ihr den Slip herunter, vergewaltigt sie hier im Salon ihrer Villa mitten am helllichten Tag, dann verschwindet der Eindringling wie ein Phantom durch die Terrassentür in den Garten.
Michèle richtet sich auf, blickt hinaus ins Grüne. Sie schließt die Verandatür, fegt ruhig die Scherben zusammen, entsorgt die zerfetzten Kleidungsstücke. Dann nimmt sie ein Schaumbad, als wäre nichts geschehen und wolle nur entspannen nach einem gewöhnlichen anstrengenden Arbeitsmeeting. Allein die blutigen Schlieren im Wasser zeugen von dem Akt der Gewalt. Ihre Reaktion ist ein Schock für den Zuschauer. Es ist, als hätte sie das eben Erlebte als belanglos ausgeblendet. Und auch was eben noch wie ein Thriller begann, löst sich scheinbar auf in alltäglicher Normalität. Doch Angst ist da, wenn auch kaum spürbar, die Protagonistin schläft in dieser Nacht mit einem Hammer neben sich auf dem Kissen, den sie fest umklammert. Die Schlösser werden ausgewechselt, die Szene der Vergewaltigung aber wiederholt sich im Verlauf des Films, leicht abgewandelt, immer wieder. Ob traumatisiert oder erregt, der Zuschauer vermag es kaum zu beurteilen Die Erinnerung bestimmt das Handeln von Michèle. Sie schlägt zurück, ob mit Spott oder Pfefferspray, beides gleichermaßen ätzend.
Die attraktive Fünfzigjährige umgibt ein unaufdringliches Flair von Luxus und Erfolg. Sie ist geschieden, Firmenchefin eines renommierten Video-Labels, das sich spezialisiert hat auf brutale erotische mittelalterliche Fantasy Games. Entwickelt wird grade ein Spiel, wo der User die Rolle eines grobschlächtigen Monsters übernehmen darf, das in sein Opfer von hinten mit schlangenhaften Tentakeln eindringt. Den nächsten Morgen beim Qualitätscheck zeigt Michèle sich erbost über die dürftigen Leistungen ihrer Mitarbeiter, sie macht ihnen unmissverständlich klar, die orgastischen Zuckungen des Orks sind zu zaghaft. „Elle” ist als Charakterstudie auch immer Gesellschaftsporträt. Ihrem Ex-Ehemann und Freunden erzählt sie beim Dinner im Restaurant von der Vergewaltigung. Nein, keine Anzeige bei der Polizei, mit denen hätte sie eh nur schlechte Erfahrungen gemacht. Katastrophen übergeht sie mit einer lässigen Handbewegung, für sie ist das Thema nach drei Minuten erledigt: "Können wir bestellen?" Immerhin mit dem Öffnen des Champagners hatte sie gewartet.
Der Vergewaltiger verschwindet nicht spurlos, er schickt erotisch aufreizende SMS, Schuldgefühle quälen ihn offensichtlich nicht. Die pragmatische Protagonistin will wissen, wer hinter der Skimaske steckt und macht sich auf die Suche nach ihrem Peiniger. Seine Identität wird bald enthüllt, „Elle” ist weniger „Whodunit”, mehr Satire im Stil von Luis Buñuel oder Claude Chabrol. Statt der genreüblichen Rache beginnt Verhoevens Heldin eine Art Affäre mit dem Täter. Auch wenn Isabelle Huppert als Michèle bis zuletzt ein unlösbares Geheimnis bleibt, begreift der Zuschauer doch langsam, diese Frau will alles sein, nur kein Opfer. Sie spielt mit der Gefahr, inszeniert sie wieder und wieder, weil sie ahnt, nur so kann dem Akt der Unterwerfung seine Erniedrigung genommen werden. Mit Gewalt kennt sie sich aus. Sie war acht Jahre alt, als ihr Vater zum Mörder wurde, unzählige Menschen in der Nachbarschaft abschlachtete. Das Archivmaterial wirkt authentisch, körnig, bedrohlich. Eine Schwarzweißaufnahme zeigt ein schmutziges dünnes Kind halbnackt mit leeren Blick neben einem Feuer. Die Zeitungen fragten nach der Rolle, die sie, die Tochter in all dem gespielt hatte, es war als würde die kleine Michèle der Öffentlichkeit zum Fraß vorgeworfen.
Paul Verhoeven hatte schon immer eine Schwäche für starke Frauen, nicht nur in seinen Science-Fiction-Filmen, auch in „Basic Instinct” (1992) und „Showgirls” (1995). Der schönen Kühlen kann keiner der Männer in ihrem Umfeld das Wasser reichen. Da ist Richard (Charles Berling), der ausgebrannte Schriftsteller und Ex-Ehemann, verzweifelt klammert er sich an seine letzte Idee und neuste Flamme. Vincent (Jonas Bloquet), der hilflose 20jährige Sohn, ein echtes Weichei, jobbt bei einer Burger-Kette. Die Freundin, ein geldgieriges aggressives Biest, erwartet ein Kind von ihm. Als es zur Welt kommt, spricht die Hautfarbe eindeutig gegen eine Vaterschaft Vincents, was der aber nicht wahrhaben will. Michèle hilft so gut sie kann mit Geld, denn Geduld, Wärme und Empathie fehlen ihr oft völlig. An Robert (Christan Berkel), dem Teilzeit-Lover und Ehemann ihrer besten Freundin Anna (Anne Consigny), lobt sie als herausragende Eigenschaft seine Dummheit. Nicht zu vergessen der brave geschniegelte Patrick (Lauren Lafitte) aus dem Haus gegenüber, verheiratet mit einer extrem religiösen Katholikin (Virgin Effira). Das mag nach typisch französischer Boulevardkomödie klingen und ist doch genau das Gegenteil. Mit nonchalanter Selbstverständlichkeit masturbiert Michèle, während sie den Nachbarn von ihrem Fenster aus mit dem Fernglas beobachtet, wie er grade mit seiner Frau die Weihnachtskrippe aufstellt.
„Scham ist als Gefühl nicht stark genug, um uns davon abzuhalten, etwas zu tun”, erklärt die Protagonistin ihrer Freundin und Geschäftspartnerin. Sie hat Anna ein Jahr lang mit deren Mann betrogen. Eine Aussage, unbestreitbar nicht nur als Message der Geschichte, sondern auch unseren Zeitgeist betreffend. Die Wahrheit tut weh, das schert die elegante Geschäftsfrau wenig. Sie hat das Talent in wenigen Worten den Kern eines Problems zu treffen, benutzt die Wahrheit als Waffe. Jeder ihrer Sätze ist irgendwie vernichtend, süffisant, pragmatisch und erschütternd intelligent. Die Amerikaner bezeichnen dergleichen als ‚killer lines’. Die Heldin macht sich weder Illusionen noch große Hoffnungen, besonders was ihre Familie angeht. David Birkes Drehbuch basiert auf dem brillanten Roman des französisch armenischen Autors Philippe Djian „Oh...” „Oh”, sagt Michèle, wenn sie rigoros das parkende Auto ihres Ex rammt, und der Frontspoiler abfällt. Entschuldigen wird sie sich auf keinen Fall, höchstens Erstaunen heucheln, wenn Richard später die Kaltblütigkeit des unbekannten Fahrers beklagt. Sie demoliert aus Überzeugung, Sentimentalität ist ihr fremd. Und doch ist da manchmal zwischen all dem Sarkasmus und der Süffisanz ein verletzliches, scheues Lächeln, Indiz unendlicher Einsamkeit.
„Elle” ist der mutigste Film zum Thema Vergewaltigung und vielleicht der beste, den der erfolgreiche Regisseur („RoboCop”, „Total Recall”, „Black Book”) je gedreht hat. Jede Szene ist ein kleines subtiles Meisterwerk. Verhoeven unterläuft in dieser Chronik des Widerstands alle erzählerischen Konventionen mit ungeheuer Leichtigkeit, das Unterlaufen der Norm bewundert er bei dem Komponisten Igor Strawinsky. Melodrama das war gestern, seine Heldin schöpft ihre Kraft aus der Katastrophe, dem Trauma ihrer Kindheit. Resilienz ist der Fachterminus. Michèle will kein Mitleid, keine Ratschläge, einfach nur ungestört einen Drink ordern. Ignorieren ist nicht verdrängen. „Du bleibst die Gefährlichste von Allen”, sagt irgendwann ihr Ex-Ehemann. Es klingt wie eine Liebeserklärung. Diese Frau entmystifiziert die männliche Überlegenheit, was könnte ein Monster mehr fürchten. Die elegante kultivierte Französin, sie fummelt mit ihm unterm Tisch beim weihnachtlichen Abendessen, die Gattin sitzt daneben. Den Tod ihres Angreifers, Michèle hat ihn sich manchmal vorgestellt, doch sie würde den tödlichen Schlag nie ausführen. Das wird ein anderer tun, von dem es keiner erwartet hatte. Der Film ist wie seine Protagonistin: wunderschön, komplex und voller Widersprüche, unberechenbar, man spürt immer eine verhaltene Aggressivität, irgendwo lauert der Horror.
„Wir sind süchtig nach Katastrophen,” sagt Verhoeven in einem Interview, „weil Katastrophen faszinierend sind... Aus einer gewissen Entfernung, wie in Turners Bildern, kann Zerstörung etwas Sublimes haben. Als Close-up ist sie natürlich grausam. “Elle” ist sein erster französischsprachiger Film, so war es ursprünglich nicht geplant, aber keine amerikanische Schauspielerin hätte je eine scheinbar derart unmoralische Rolle übernommen. Isabelle Huppert ist eine Schauspielerin, die bereit ist, vor der Kamera sich die Vagina mit Glasscherben zu zerschneiden wie in Michael Hanekes „Klavierspielerin” (2001). Wen immer sie spielt nahe dem Abgrund, die Figur strahlt selbst in der extremsten Situation noch Würde aus. Sie ist eine begnadete Künstlerin. Auch in Michael Ciminos „Heavensgate” (1980) wird sie vergewaltigt, sie ist die Chefin eines kleinen Bordells Ende des 19. Jahrhunderts und gerät in die Schusslinie, als sie politisch Position bezieht. Die amerikanischen Großfarmer versuchen die osteuropäischen Einwanderer zu vertreiben. Eine Frau, hin und hergerissen zwischen zwei Männern. Für Selbstmitleid ist auch in dieser Welt kein Platz. Niemand kann widersprüchliche Gefühle verkörpern so wie Isabelle Huppert.
Originaltitel: „Elle“
Regie: Paul Verhoeven
Darsteller: Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Consigny
Produktionsland: Frankreich, Deutschland, Belgien, 2016
Länge: 131 Minuten
Verleih: MFA
Kinostart: 16. Februar 2017
Fotos & Trailer: Copyright MFA
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