Film

Worte, Formulierungen, Metaphern, darum wird in „Genius” gerungen und gekämpft. Es ist ein Actionfilm besonderer Art. Etwas für Literaturfreaks.
Vor 20 Jahren stieß Drehbuchautor John Logan auf die Biographie über den legendären New Yorker Verlagslektor Max Perkins. Er war es, der Ernest Hemingway und  F. Scott Fitzgerald berühmt machte, und dann entdeckte er 1929 einen völlig unbekannten Schriftsteller, alle in der Stadt hatten dessen voluminöses, metaphorisch bombastisches Manuskript abgelehnt. Hunderte von Seiten müssen gekürzt und viele andere völlig umgeschrieben werden. „Schau heimwärts, Engel” wird zum Beststeller, Thomas Wolfe ein Star. In ästhetisch furiosen Bildern erzählt Regisseur Michael Grandage nicht nur von Freundschaft oder Erfolg sondern auch von Eifersucht, Verrat, enttäuschter Liebe, Verzweiflung, Wirtschaftskrise und der Magie des Jazz.


New York, Verlagshaus ‚Charles Scribner’s Sons’. Draußen regnet es in Strömen, auf dem Schreibtisch von Max Perkins (Colin Firth) landet ein dickes leicht zerfleddertes Manuskript.  Jemand vom Theater hat deswegen einen Freund beschwatzt. Nun schuldet der dem Lektor einen Gefallen, denn jener Roman mit dem Titel „O Lost” soll ein hoffnungsloser Fall sein. Vom ersten Moment an ist Perkins ganz im Bann der ungewöhnlichen Prosa. Sie lässt ihn nicht mehr los. Wenn er einmal anfängt zu lesen, hört er nicht mehr auf, ob auf der Straße, dem Bahnsteig, im Zug und auch daheim. In der viktorianischen Villa am Stadtrand sorgen fünf Töchter für ein wohltuendes Tohuwabohu, seine Frau war früher beim Theater, im Wohnzimmer wird für ein Laienspiel geprobt, in der Bibliothek erklärt grade eins der älteren Mädchen jemandem am Telefon, dass sie auf Kino keine Lust hat, sie würde nur lesen. Mit Mühe findet Perkins ein stilles Eckchen, wo er sich auf das Manuskript konzentrieren kann. Sein Ton am Abendbrottisch gegenüber den weiblichen Familienmitgliedern klingt liebevoll ironisch. Er ist ein introvertierter sehr ruhiger Mann, seinen Filzhut setzt er selbst während der Mahlzeit nicht ab. 

 

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Am nächsten Tag stürmt ein junger Mann in das dunkle Büro von Perkins, es ist Thomas Wolfe (Jude Law), wild, ungestüm, irgendwie theatralisch in allem was er tut oder sagt. Selbst seine Bescheidenheit hat etwas Maßloses, Grenzen existieren für ihn nicht. Der charmante Südstaatler verneigt sich vor den Bänden im Regal. Habe er, Perkins, alle diese Autoren herausgebracht, will er wissen. “Nicht Tolstoi”, antwortet der Lektor trocken. Wolfe greift nach seinem Manuskript auf dem Schreibtisch, sicher auch hier wieder abgelehnt worden zu sein, aber trotzdem ebenso überzeugt, ein Meisterwerk verfasst zu haben. Perkins hat durchgesetzt, dass Scribners dieses ungewöhnliche Buch herausbringt. Aber er macht seinem Schützling klar, es muss gekürzt werden, um 300 Seiten. In der ersten Euphorie ist Wolfe zu allen Konzessionen bereit. Doch von nun an werden die beiden um jeden Satz kämpfen, der exzentrische Künstler feilscht, bettelt, argumentiert, der Lektor weiß ihn zu überzeugen, er besitzt nicht nur ein untrügliches Gespür für Talent sondern auch für Sprache, kann sich völlig in den Gegenüber hineinversetzen. Mit unendlicher Geduld zwingt Perkins ihn, sich selbst zu entdecken. Es ist eine faszinierende ungewöhnliche Symbiose. Und immer wieder stellt sich dem Zuschauer die Frage, was macht Literatur aus: Strenge Form oder ungebändigte Phantasie?


Es geht um Liebe auf den ersten Blick. Perkins liest einen Absatz aus dem Manuskript laut vor. Seine Stimme hat plötzlich etwas seltsam Verführerisches, die Worte taumeln einem entgegen, reißen uns mit. Wie Kaskaden ergießen sie sich in ihrer schwelgerischen symbolischen Kraft: „Als Eugenes Blick sich an den wirbelnden Dunst der Zigaretten und Zigarren gewöhnt hatte, sah er eine Frau in derben Anzug, mit Handschuhen, die wie Ranken über ihre Arme krochen, deren Haut, sonst elfenbeinern, jetzt von der Sonne ein Erröten davon getragen hatte, ähnlich wie die Röte im Innern einer Meeresschnecke, die von einem jungen Zoologen zum ersten Mal gesehen wird und ihn mit ihren rosigen Versprächen in Bedrängnis bringt: so waren ihre Arme. Aber es waren ihre Augen, die seinen Atem stoppten, die sein Herz zu einem Sprung hinrissen. Blau waren sie, sogar durch die Schwaden der pompösen Chesterfields und arroganten Lucky Strikes sah er dieses Blau, es war jenseits von Blau, wie der Ozean. Ein Blau, in dem er für immer schwimmen könnte, ohne je ein Feuerwehrrot oder ein Maisgelb zu vermissen. Quer durch den Abgrund des Raumes schoss dieses Blau, die Augen verzehrten ihn und sahen durch ihn hindurch und sahen ihn doch nicht, niemals würden sie das tun, darüber war er sich klar. Von diesem Moment an verstand Eugene, was immer die Dichter geschrieben hatten, er erkannte ihre rastlosen, einsamen, verlorenen Seelen, als wären sie Brüder. Jetzt hatte auch er eine Liebe, die sich nie erfüllen würde. So schnell zersprang sein Herz für sie, dass niemand im Raum das Geräusch vernahm- das Wispern, als die Teile zu Boden fielen, ihr Klirren beim Aufprall. Danach herrschte Stille, aber sein Leben lag in Trümmern.”


Wolfe fragt den Lektor, ob ihm der Text nicht gefällt, und Perkins antwortet, das sei nicht der Punkt. Es ginge um die Länge. Jede Metapher kommt auf den Prüfstein. Und immer wieder muss der Ältere dem Jüngeren gegenüber insistieren: Ist das wirklich, was Eugene in diesem Moment denkt? Es geht um viel mehr als Formulierungen, um das Leben als solches. Welche Funktion hat Kunst, es ist fast wie eine Gewissenerforschung. Was fühlen wir, was fühlt der Protagonist in dem alles entscheidenden Moment seines Daseins? Wie hat die Welt sich verändert, wer sind die Gespenster der Vergangenheit, mit denen der Autor und sein Alter Ego ringen? Ist er, der Schriftsteller nicht vielleicht nur verliebt in das eigene unerschöpfliche Talent und seine schillernde Sprachgewalt? „John Logan will uns mit der ungekürzten Passage berühren”, sagt Grandage über diese Szene. „Es soll klar werden, was und warum gekürzt wird.” Wolfe klammert sich oft verzweifelt an jedes Wort und überzeugt durchaus als Verteidiger der eigenen Ideen. Der Zuschauer ist hin und hergerissen. Ein wundervoller Dialog: intim, unerbittlich, existenziell. In der endgültigen Form lauten die Zeilen: „Eugene sah eine Frau. Ihre Augen waren blau. So schnell zersprang sein Herz für sie, dass niemand im Raum das Geräusch vernahm.” Trotz der klaren minimalistischen Schönheit dieser Sätze, erweckt es eine heimliche Sehnsucht nach dem ungezähmten ausschweifenden Originalmanuskript, sich einfach von diesen exzentrischen Wortwellen abtreiben zu lassen, ohne deren Sinn oder Berechtigung einzufordern.

 

Der Kalifornier John Logan wurde Ende der Neunziger berühmt durch seine Drehbücher für glamouröse Big-Budget-Produktionen wie „Gladiator” (Ridley Scott, 2000), “An jedem verdammten Sonntag” (Oliver Stone, 1999), „Hugo Cabret” (Martin Scorses, 2011), „James Bond 007 Spectre (Sam Mendes, 2015). Er versteht sich auf Titanen und große Gesten, und so sind seine Protagonisten Perkins und Wolfe verankert in den Roaring Twenties und haben doch etwas Majestätisch-Düsteres von Shakespeare-Helden. Sie sind geborene Kämpfer, gewohnt, alles zu riskieren, treten aber ungeachtet ihrer konträren Standpunkte nicht gegeneinander an, sondern kämpfen Seite an Seite. Logan schrieb nach dem Studium zunächst nur fürs Theater, und blieb dem trotz der weltweiten Kinoerfolge treu. Sein Stück „Red” über den Maler Mark Rothko inszenierte Michael Grandage, 2009 hatte es Premiere im Londoner Donmar Warehouse, ging von dort ins Golden Theatre am Broadway. Die Bühne gibt Regisseuren oft viel mehr Spiel- oder Freiraum, denn während „Red” vielfach ausgezeichnet wurde, stieß „Genius” bei amerikanischen Filmkritikern oft auf Unverständnis. „Effektheischende Pantomime” heißt es da, „unaufrichtig”. Schade, dies ist ein Klassiker, grandios umgesetzt mit wundervoll komponierten atmosphärisch starken Bildern in bräunlichen Sepiatönen. Ob Straßenschluchten oder Vorstadtidylle, die Perspektiven sind frappierend, die Bahnsteige zwischen den Zügen, alles wirkt um vieles schmaler als sonst, es ist jene Enge, die Thomas Wolfe sprengen will. Kameramann Ben Davis und Komponist Adam lassen „Genius” zu einer altmodisch anmutenden Exkursion in die Vergangenheit werden, die manchmal für einen Augenblick an Sergio Leones „Es war einmal in Amerika” (1984) erinnert. Nur geht es hier nicht um die Freundschaft zwischen Gangstern, die seit frühster Kindheit einander verbunden sind, sondern um einen Lektor und seinen Autor, aber der Verrat ist nicht weniger schmerzlich.


„Ich weiß, ich bin ein Freak, zu laut, zu alles”, gesteht Thomas Wolfe. Er ist anfangs rührend, anhänglich in seiner ungestümen wilden Art. Jude Law kannte Grandage von der Arbeit am Theater. Mit ihm hatte er zweimal Shakespeare inszeniert, „Hamlet” und „Heinrich V”. Er wusste, dass Law die Leidenschaft besaß, die es für diese Rolle brauchte. Wolfe explodiert nicht nur vor Energie, er weiß seine Umwelt zu bezaubern. Einst war die Beziehung zwischen ihm und Aline Bernstein (Nicole Kidman) sehr eng. Aline ist Kostümbildnerin am Theater, hatte Ehemann und die erwachsenen Kinder verlassen für diesen um so vieles jüngeren Geliebten. Sie hat ihn verhätschelt, an ihn geglaubt, als keiner es tat. Sie wusste, er ist ein Genie, ließ alle ihre Beziehungen spielen, damit das Manuskript auf dem Schreibtisch von Perkins landete. Nun ist der Roman erschienen, die Kritiker begeistert und Aline? Mit dem Ruhm kommt die Selbstgefälligkeit. Geld, Partys, Bewunderung, das ist alles neu und ungewohnt für Wolfe. Dankbarkeit oder Loyalität sind Begriffe, die in seinem überbordenden Wortschatz eine höchst untergeordnete Rolle spielen. Dieser Mann ist ein verbaler Tornado, ein gefährlicher Sturm, der alles hinwegfegt, entwurzelt. Danach ist nichts mehr wie vorher. Wenn er einen Menschen verlässt, bleibt da eine Lücke. Und wer ihm einmal verfallen war, wird sich seiner Abwesenheit immer bewusst sein. Aline quält die Eifersucht: Seit Wolfe mit Perkins zusammenarbeitet, ist er kaum noch daheim. „Schau heimwärts, Engel” hat der Schriftsteller ihr gewidmet, aber seine Zuneigung hat sie verloren. Aline ist verbittert, verzweifelt, droht damit, sich mit Tabletten umzubringen, greift zur Pistole, die sie auf Perkins richtet. „Drama Queen”, mehr fällt Wolfe dazu nicht ein. Aline prophezeit dem Lektor das gleiche Schicksal, eine überschwängliche Widmung und fort wird sein Schützling sein. Unvorstellbar für Perkins. Die frenetisch akribische Arbeit an Thomas Wolfes neuem Manuskript hatte die beiden Männer scheinbar unzertrennlich gemacht. Kräftige Männer schleppten in Kisten die 5.000 handschriftlichen Seiten heran. Neun Monate veranschlagte Perkins für das Redigieren, es werden zwei Jahre daraus. Tag und Nacht. Es existiert für die Freunde nichts Anderes mehr außer diesem Roman, “Von Zeit und Strom” ist der Titel. Louise Perkins (Laura Linney) muss mit den Töchtern allein in die Ferien fahren, sie ist zornig, nur hat sie ihre Gefühle besser im Griff als Aline.


Mit dem üppigen Honorar für sein Drehbuch zu „Any Given Sunday” erwarb John Logan die Rechte für A. Scott Bergs 1978 erschienene Biographie „Max Perkins: Editor of Genius”. “Wenn man sich die Karrieren von Fitzgerald, Hemingway und Wolfe anschaut, wird man feststellen, dass alle drei Autoren anfangs abgelehnt wurden”, schreibt Berg. „Fitzgerald wurde von Scribner’s dreimal weggeschickt, bevor Max Perkins drohte, dort seinen Job aufzugeben, wenn Fitzgerald nicht veröffentlich werde... Es war allein Perkins, der das Genie in diesen Männern sah. Er nahm sich ihrer an, er überarbeitet ihre Manuskripte, und zwar meistens in seiner Freizeit. Er war unbeirrbar in seiner Meinung, dass diese Autoren eine Veröffentlichung verdienten. Wenn nicht bei Scribner’s, dann anderswo, er wollte ihnen in jedem Falle helfen.” Die Entscheidung, wer das eigentliche Genie ist, der Schriftsteller oder der Lektor bliebt dem Leser und Zuschauer überlassen. Grandios Colin Firth schauspielerische Leistung. Obwohl Perkins dagegen protestiert, widmet ihm Wolfe „Von Zeit und Strom”: „Dem großen Lektor und dem tapferen, ehrenhaften Mann, der dem Verfasser dieses Buches in Zeiten bitterer Hoffnungslosigkeit unentwegt beistand und es nicht zuließ, dass dieser seinen Zweifeln unterlag...” Es tritt ein, was Aline vorausgesagt hat. Auch Hemingway warnte Perkins davor, Wolfe zu vertrauen, er werde sich einen anderen Verleger zu suchen, der Erfolg habe ihn verdorben. Und schlimmer noch als das, wie Wolfe über den Mann herzieht, der ihm zu seinem Ruhm verhalf, scheint unfassbar. Er ist ein Intrigant, seine Gehässigkeit von der gleichen schillernden Exzentrik wie jene Liebeserklärung von Eugene, nur eben von atemberaubender Bösartigkeit. Wir sehen den jungen Südstaatler noch vor uns auf dem Bahnsteig, wie er glückstrahlend über eine Formulierung, die nun endlich gefunden ist, die Arme hochreißt wie ein Sportler, der den Sieg errungen hat. Thomas Wolfe war der Sohn, den Max Perkins sich immer gewünscht hatte. Er verbirgt die Enttäuschung hinter seiner gutbürgerlichen etwas steifen Fassade. Doch einmal zeigt er unverhohlen seine Verachtung. Wolfe hatte Fitzgerald und seine fragile Frau Zelda in einer Weise verletzt, provoziert und erniedrigt, die unverzeihlich war. Er verachtet den Kollegen, weil er sich nur noch um seine Frau sorgt, kaum noch eine Zeile zu Papier bringt. Er wirft dem Lektor vor, nicht zu leben, doch der macht unmissverständlich klar, dass ein Mensch wie Fitzgerald seine ganze Achtung verdiene. Und Kinder zu haben ein unschätzbarer Wert sei.

 

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Originaltitel: Genius

Regie: Michael Grandage 
Darsteller:  Colin Firth, Jude Law, Nicole Kidman, Laura Linney, Guy Pearce, Dominic West 
Produktionsland: Großbritannien, USA
Länge: 105 Minuten  
Verleih: Wild Bunch Germany     
Kinostart: 11. August 2016

Fotos & Trailer: Copyright Wild Bunch Germany

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