„Julieta”. Der Trauer verfallen wie eine Süchtige.
- Geschrieben von Anna Grillet -
Was, wenn die Tochter plötzlich spurlos verschwindet ohne ein Wort der Erklärung, sich weigert, ihre Mutter je wiederzusehen? „Julieta” ist Pedro Almodóvars zwanzigster Film und ein überraschend ernster. Verwirrend, oft berückend schön, suggestiv, raffiniert, von bestürzender Intensität.
Der spanische Regisseur hat aus drei Kurzgeschichten der kanadischen Autorin Alice Munro, einen unkonventionellen geheimnisvollen Thriller konstruiert ganz ohne Täter oder Verbrechen. Die Protagonistin selbst ist das Rätsel und nur sie kann es lösen.
Julieta (Emma Suárez) ist um die Fünfzig, blond gefärbtes kinnlanges Haar. Eine attraktive Frau, die jünger sein möchte. In diesem Moment packt sie eine kleine erotische Männerskulptur in Luftpolsterfolie. Um sie herum stapeln sich Umzugskartons, auf einem steht in großen Buchstaben: ‚Fragile’. Eine Warnung? Noch wissen wir kaum etwas von der titelgebenden Hauptfigur, aber bei Almodóvar („Zerrissene Umarmungen”, „Volver”) ist jedes Detail von entscheidender Bedeutung. Julieta will Madrid verlassen, mit ihrem Partner Lorenzo (Dario Grandinetti) in Portugal eine gemeinsame Existenz aufbauen. Als sie für letzte Besorgungen noch einmal aus dem Haus geht, begegnet ihr auf der Straße zufällig Bea, die frühere Schulfreundin der seit vielen Jahren verschwundenen Tochter. Jahrelang hatte Julieta vergeblich nach Antía gesucht, auf ein Lebenszeichen gehofft. Bea erzählt, dass sie die Freundin erst kürzlich am Comer See getroffen habe. Drei Kinder soll sie mittlerweile haben, nur wo genau Antía wohnt, das weiß sie nicht. In diesem Moment werden die alten Wunden wieder aufgerissen.
Die Erinnerungen stürmen auf die Protagonistin ein. Es ist ein Schmerz, unerträglich, gnadenlos, der sie fast bis an den Rand des Wahnsinns treibt. 18 war Antía gewesen, als sie an der Tür zum Abschied lächelte, den Rucksack geschultert, eine spirituelle Auszeit von drei Monaten in den Pyrenäen sollte es werden. Sie kam nie zurück. Zu jedem Geburtstag hat Julieta den Tisch gedeckt mit bunten prächtigen Torten, die alle nach wenigen Stunden im Abfalleimer landeten. Immer wieder das gleiche Ritual. Die brennenden Kerzen sind wie ein stiller Vorwurf. Im ersten Jahr kam eine Glückwunschkarte, ein roter Baum, der sich entfaltet, aber kein persönliches Wort. Doch die Handschrift der Adresse, sie kannte sie nur zu gut. Verzweiflung entlädt sich in hilfloser Wut, irgendwann lässt Julieta die Souvenirs und Trümmer jener Zeit hinter sich, zieht einen radikalen Schlussstrich. Ein Stadtviertel, wo keiner sie kennt, wird zur neuen Heimat. Aber jetzt will sie zurück in das alte Haus, will immer erreichbar sein für die Tochter. Sie kündigt Lorenzo die Freundschaft und folgt den Spuren in die Vergangenheit. Reglos sitzt sie auf einer Bank, dort wo die Mädchen einst so übermütig Basketball gespielt haben. Daheim beginnt sie einen Brief an die Tochter zu schreiben, eine Art Beichte.
Pedro Almodóvar ist ein Meister der Rückblende, er wechselt mit unglaublicher Eleganz zwischen den Zeitebenen. Zum ersten Mal verzichtet der 66jährige Regisseur auf alles Exaltiert-Provokante, Grelle oder Melodramatische. Er stellt seine Erzählkunst ganz in den Dienst von Julietas Suche nach dem Ursprung ihrer quälenden Schuldgefühle. Sie ist der Trauer verfallen wie eine Süchtige. Vieles bleibt verborgen, unsichtbar, unausgesprochen, grade daraus entwickelt sich eine frappierende Spannung. Nicht die Chronologie bestimmt den Handlungsverlauf, sondern die Erinnerung. Sie erzwingt Kausalität, wo vielleicht gar keine besteht. Nie wird Julieta jene Zugfahrt durch die dunkle winterliche Landschaft vergessen. Sie war damals Mitte 20 (gespielt von Adriana Ugarte). Ihr gegenüber am Fenster ein seltsamer älterer Reisender, er starrt sie mit seinen traurigen Augen an, ungeschickt, aufdringlich bemüht er sich um ein Gespräch. Lag Verzweiflung oder Lüsternheit in seinem Blick? Angeekelt verlässt die junge Lehrerin das Abteil, im Speisewagen trifft sie Xoan (Daniel Grao), einen Fischer aus Galizien. Draußen zwischen den schneebedeckten Bäumen taucht ein Hirsch auf. Wenig später wirft der einsame Fremde sich vor den Zug.
In dieser Nacht vor 30 Jahren wird Antía gezeugt, genau dort wo sich Julieta und der Unbekannte gegenübersaßen. Der leidenschaftliche Akt ist von betörender Schönheit, in Spieglungen und Unschärfen verschmelzen die Körper. Noch ist Xoan verheiratet, seine Frau liegt im Koma. Tod und Liebe sind hier eng und kunstvoll miteinander verflochten. Ob Skulpturen, Kacheln, Poster, Aschenbecher, Papierkorb, das Dekor wird bei Almodóvar wieder zum entscheidenden Indiz, kann neue Blickwinkel eröffnen oder für einen Moment das Tagesgeschehen in den Hintergrund drängen. Die Räume spiegeln das Innenleben der Akteure aber auch den Zeitgeist. Die Muster und Materialen der Tapeten oder Kleider scheinen mehr noch als sonst in ihrer Extravaganz der Stoff zu sein, aus dem Sehnsüchte oder Albträume gemacht werden. Grandios Kameramann Jean-Claude Larrieu. Es ist ein Film, der nachhallt, Rot und Blau dominieren, die Farben sind leuchtend intensiv und haben doch etwas gefährlich Abgründiges. Nicht nur der Soundtrack von Alberto Iglesias ist eine ganz bewusste Anspielung auf Alfred Hitchcocks „Strangers on a Train” (1951).
Nach dem Tod von Xoans Frau verlebt die kleine Familie scheinbar glückliche Jahre in dem Haus mit Blick aufs Meer. Nur die Haushälterin Marian (Rossy de Palma) kann das Intrigieren nicht lassen, Ava (Imma Cuesta) dagegen, Bildhauerin und langjährige Freundin des Fischers wird Julietas Vertraute. Doch dann kommt es genau ihretwegen zu einem Streit. Julieta ist eifersüchtig, Xoan fährt hinaus auf See trotz drohenden Sturmes und stirbt. Die neunjährige Antía ist zu dem Zeitpunkt im Ferienlager. Sie hatte anfangs heftig protestiert, wollte viel lieber den Sommer mit ihrem Vater beim Fischfang verbringen. Julietas Trauer ist übermächtig, sie gibt sich die Schuld an dem Tod ihres Mannes so wie damals an dem Selbstmord des Fremden. Antía ahnt von all dem nichts, unbeschwert genießt sie die Tage mit ihrer neuen Freundin Bea. Und weil die beiden Mädchen unzertrennlich sind, wollen sie im Anschluss noch eine Woche bei Beas Familie in Madrid dranhängen. Julieta hat keine Einwände, sie ist wie gelähmt, weiß nicht, wie sie Antía die schreckliche Wahrheit überbringen soll.
Beas Mutter stellt ihr das Familienappartement zur Verfügung, damit sie ein wenig zur Ruhe kommt. Die Protagonistin ist wie abwesend in ihrer Verzweiflung, die beiden Freundinnen kümmern sich rührend um sie, die Ältere. Als die Mädchen in der Nachbarschaft eine Mietwohnung entdecken, sind sie so begeistert, dass Julieta die Kraft für jeden Einwand fehlt. Zurück nach Galizien zieht sie ohnehin nichts mehr, und so bleiben Mutter und Tochter in Madrid, nur sie wechseln die Rollen: Auf Antía lastet von nun an die Verantwortung, sie weicht Julieta nicht von der Seite, denn die braucht ihre ganze Zuwendung, Fürsorge und Unterstützung. Irgendwo hat diese Trauer etwas Egoistisches, der Schmerz verbindet die beiden nicht, er trennt sie. Über ihre wahren Gefühle spricht keine von ihnen und so werden sie zu einem dunklen Geheimnis füreinander. Die Schuldgefühle quälend, selbstzerstörerisch, wie ein höchst ansteckender Virus, das Nicht-Vergeben-Können unbarmherzig. Die Emotionen sind von erschreckender Absolutheit: „Wenn Du gehst, wird meine Welt aufhören, eine Welt, in der es nur Dich gibt. Geh nicht, ich will nicht, dass du gehst, denn wenn du gehst, ist der Moment, in dem ich sterbe.” Solche Leidenschaft erdrückt, raubt dem Anderen die Luft zum Atmen. Aber sie bringt uns dazu, Menschen, die wir lieben zu verlassen und aus unserem Leben zu streichen, als hätten sie nie existiert.
„Alles über meine Mutter” (1999) war Almodóvars größter Erfolg, mit der schrillen Komödie „Fliegende Liebende” legte der Regisseur 2013 dagegen eine unerwartete Bruchlandung hin, Kritiker und Publikum waren damals gleichermaßen enttäuscht, und vielleicht auch der Künstler selbst. „Julieta” nennt er seine „Rückkehr in die Welt der Frauen” und sollte eigentlich sein erster in englischer Sprache gedrehter Film werden, ein Hommage an die kanadische Pulitzerpreis-Trägerin Alice Munro, sie revolutionierte die Struktur der Short Stories. Der Kurzgeschichtenband “Tricks” („Runaway”) war schon Requisit in „Die Haut, in der ich wohne”. Auf dem Tablett, mit dem die Wärterin Marilla der Gefangenen das Frühstück serviert, liegt auch eine Ausgabe von Munros Buch. Es gibt Landschaften, Lieder, Kunstwerke oder Objekte, die Almodóvar entdeckt und bei denen er instinktiv weiß, dass er sie früher oder später in einem seiner Filme einsetzen wird. Er behält sie und wartet geduldig, wenn es sein muss 20 Jahre lang, bis sich der passende Stoff findet wie für die Skulptur „Der Sitzenden Mann” des Bildhauers Miquel Navaro. Ähnlich ging es ihm mit dem schwarzen Strand in „Zerrissene Umarmungen” und mit mit dem Taucher in “Fessle mich”, selbst mit dem braunen Badetuch, mit dem Antía und Bea die trauernde Julieta abtrocknen. Das Plakat für die Lucien Freud Ausstellung musste nur vier Jahre warten, bis es seinen Platz an der Wand von Julietas neuer Wohnung fand. Der Meister ist überzeugt, dass jeder seiner Filme durch mehrmaliges Sehen gewinnt. Insgeheim würde der Regisseur gerne seinen Bruder, den Produzenten Augustín Almodóvar überreden, allen Kinobesuchern ein zweites Ticket zu schenken.
Originaltitel: Julieta
Regie / Drehbuch: Pedro Almodóvar
Darsteller: Emma Suárez, Adriana Ugarte, Daniel Grao
Produktionsland: Spanien, 2016
Länge: 100 Minuten
Verleih: Tobis Film
Kinostart: 4. August 2016
Fotos & Trailer: Copyright Tobis Film
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