„Der kleine Prinz” – Wenn eine Manuskriptseite zur Papierschwalbe wird
- Geschrieben von Anna Grillet -
Die Reaktionen auf Mark Osbornes 3D-Epos „Der kleine Prinz” könnten unterschiedlicher nicht sein, viele sind tief bewegt von dem Film, andere halten ihn für eine “spektakuläre Bruchlandung”.
Am 31. Juli 1944 startete der französische Schriftsteller und Pilot Antoine de Saint-Exupéry mit seiner Lockheed F-5 zu einem Aufklärungsflug Richtung Grenoble, er kehrte nie mehr zurück. Die Gründe für den Absturz der Maschine blieben ungeklärt. Wurde er von feindlichen Fliegern abgeschossen oder hatte er Selbstmord begangen? Ein Jahr zuvor war seine melancholisch magische Erzählung „Der kleine Prinz” erschienen.
Es sollte eine Geschichte für Kinder sein, aber Erwachsene rühren die Erlebnisse des Protagonisten, seinem winzigen Planeten und der anspruchsvollen Rose vielleicht noch mehr. Den unvergleichlichen Erfolg des Buches hat der Autor nicht mehr erlebt, im Gegensatz zu seinen Romanen wie „Südkurier” (1929) oder „Wind, Sand und Sterne” (1939) lief der Verkauf zunächst nur schleppend an. Die Kritiker schienen eher ratlos als begeistert. Jene von Saint-Exupéry so zauberhaft illustrierte Erzählung wurde später in 250 Sprachen übersetzt und weltweit 145 Millionen Mal verkauft.
Mark Osborne erinnert sich noch gut an den Tag, als ihn sein Agent fragte, ob er das Buch kennen würde. Zwei französische Produzenten planten eine Animationsfassung des Klassikers. Der amerikanische Regisseur („Kung Fu Panda”, 2008) kannte es nicht nur, es hatte eine ganz besondere Bedeutung in seinem Leben gespielt und genau deshalb war seine erste spontane Reaktion das Projekt abzulehnen. Er hatte das Buch von seiner späteren Frau geschenkt bekommen. Sie studierten beide noch und bemühten sich ihre Beziehung über eine große Entfernung aufrecht zu erhalten. “Der kleine Prinz” hat uns wieder vereint”, sagt Osborne und am Ende nahm er die Herausforderung an. Er setzte sich das Ziel, ein Filmerlebnis zu kreieren, dass der emotionalen Erfahrung des poetisch-philosophischen Märchens gleich kommt. Zusammen mit seinen Drehbuchautoren Irena Brignull („Die Boxtrolls”, 2014) und Bob Persichetti („Shrek 2”, 2004) macht er die weitgehend werkgetreue Adaption von Saint-Exupérys Erzählung zum Mittelpunkt und bettet sie in eine moderne Rahmenhandlung ein, um die Ideen des französischen Autors zeitgemäß weiterzuentwickeln. Ästhetisch virtuos verbindet der Regisseur zwei konträre Welten, Fantasie und Realität, Stop-Motion-Verfahren und CGI .
Das kleine Mädchen lebt mit seiner alleinerziehenden karrierebewussten Mutter in einer grauen seelenlosen Stadt. Disziplin und Strenge sind oberste Regel. Jede Minute für die nächsten Jahre ist verplant, alles scheint berechenbar, nichts wird hier dem Zufall überlassen. Ein Umzug soll den Zugang zur Elite-Schule ermöglichen. Die Straßen sind grade, trist und uniform. Ein Haus gleicht dem anderen, mit einer Ausnahme, jener altmodisch verfallenen Villa gleich nebenan. Die Mutter ist entsetzt, muss aber zur Arbeit, sie kann sich auf ihre zu Strebsamkeit und Rationalität erzogene Tochter verlassen, die wird nichts weiter tun als lernen. Doch dann kracht plötzlich ein riesiger Propeller durch die Wand ins Wohnzimmer. Der Nachbar, ein exzentrischer 93jähriger Pilot hat wieder einmal versucht, sein schrottreifes Flugzeug im Garten zu starten. Statt den Rest der Ferien weiter Tag für Tag mathematische Formeln zu büffeln, besucht das kleine Mädchen von nun an den kauzigen alten Mann. Die Freundschaft beginnt mit einer Papierschwalbe, die auf ihrem Schreibtisch landete. Es ist die erste Manuskriptseite von den Aufzeichnungen des Piloten. Er hatte fast schon die Hoffnung aufgegeben, jemanden zu finden, dem er seine Geschichte erzählen kann. In diesem Moment eröffnet sich dem kleinen Mädchen etwas völlig Unbekanntes, Neues. Papier hat seine ganz eigene Magie bei Osborne, es ist wie ein Tunnel zu Fantasie und Farbe, in die Welt Saint-Exupérys. Die Gestalten nehmen Form an, der kleine Prinz vom Asteroiden B612 und die Rose, die ihn so gequält hat. Sie sind zauberhafte fragile Gebilde aus Papier und Ton in Stop-Motion Technik. Der Zuschauer erlebt alles durch die Augen des kleinen Mädchens: Den weizenblonden Jungen, der vom Piloten verlangt, er soll ihm ein Schaf zeichnen genau wie den Fuchs, der gezähmt werden will und uns lehrt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.”
Das Haus des Piloten ist urgemütlich, vollgestopft bis unters Dach mit eigenartigen Kuriositäten, Erinnerungsstücken, kunterbunten Schätzen und Geheimnissen, die es zu erforschen gilt. Noch ist das kleine Mädchen misstrauisch, stellt Fragen nach dem Wieso und Warum. Der Pilot erklärt: „Der Beweis dafür, dass es den kleinen Prinzen wirklich gegeben hat, besteht darin, dass er entzückend war, dass er lachte und dass er ein Schaf wollte. Denn wenn man sich ein Schaf wünscht, ist es doch ein Beweis dafür, dass man lebt.” Das kleine Mädchen begreift langsam, was Fantasie, Kreativität und Freiheit bedeuten. Sie wird mutiger, selbstständiger und zum ersten Mal ein Kind. Der alte Mann und das kleine Mädchen toben, lachen, denken sich wilde, spannende Spiele aus. Die Protagonistin möchte nun gar nicht mehr erwachsen werden, doch es geht darum, die Kindheit später nicht zu vergessen. Der kauzige Pilot weiß, bald muss er für immer gehen und zwar allein. Das kleine Mädchen würde alles tun, um die Trennung zu verhindern. Sie stellt ihren neu erworbenen Mut unter Beweis, setzt sich selbst hinter das Steuer des klapprigen roten Doppeldeckers und steigt zu fernen Planeten auf. In einem düster- gespenstischen Metropolis beraubt ein Kapitalisten-Duo die Menschen ihrer Individualität und beutet sie aufs Übelste aus. Kinder sind strengstens verboten und werden sofort gealtert. Die Protagonistin befreit den kleinen Prinzen und die Sterne, derer sich ein gieriger Wirtschaftsboss bemächtigt hat, um sie in nutzbringende Energie umzuwandeln. Die Struktur des Films ist komplex und trotzdem einleuchtend, weil auch die neuen aktuellen Handlungsstränge Motive und Charaktere der Originalvorlage wieder aufgreifen und variieren. Immer im Geist Saint-Exupérys. Gelb und Weiß werden zu den prägenden Farben des Märchens. Sie stehen für die Zeichnungen im Buch, die Farbe des Papiers und der Dünen in der Wüste, die Sonne und die Sterne. Der Soundtrack von Hans Zimmer und Richard Harvey ist wehmütig, voller Sehnsucht, verflochten mit den Balladen der französischen Sängerin Camille und den klassischen Chansons von Charles Trenet. Zu den Sprechern der englischen Version gehören Jeff Bridges, Marion Cotillard und James Franco. Geworben wird für die deutsche Version mit Til Schweiger und Matthias Schweighöfer, wer aber die Synchronsprecher des kleinen Prinzen und des kleinen Mädchens sind, wird verschwiegen.
Selten ist ein Autor so eng mit seinem Protagonisten verbunden gewesen wie Antoine de Saint-Exupéry und der kleine Prinz. Die Melancholie, eine unglückliche Liebe und der mysteriöse Tod, die Parallelen ihres Schicksals sind offensichtlich und machen den Schriftsteller selbst zur Kunstfigur. Exupéry war vierundvierzig, als sein Flugzeug abstürzte. Der Tod hatte früh sein Leben geprägt. Mit vier Jahren verlor er seinen Vater. Zusammen mit den Geschwistern wuchs er in Lyon auf. Die Sommermonate verbrachte die adlige Familie auf einem Landsitz mit großem Garten und eigener Kapelle. Schon als Kind faszinierte Antoine Technik. Auf einem nahegelegenen Flugplatz experimentierten Konstrukteure mit den ersten Maschinen. Antoine baute sich ein Fahrrad mit Flügeln. Mit zwölf flog er heimlich im Cockpit eines Doppeldeckers mit. Sein Entschluss stand fest: Er wollte Pilot werden. Flieger waren zu jener Zeit die Pioniere der Luftfahrt. Für den späteren Schriftsteller ist das Flugzeug mehr als eine Maschine, er nennt es „Werkzeug der Erkenntnis und Selbsterkenntnis”. In seinem Roman „Wind, Sand und Sterne,” schreibt er, dass wir ihm die Entdeckung des wahren Gesichts unserer Erde verdanken: „Wir beurteilen die Menschen aus einer Weltraumperspektive. Das Fenster am Führersitz ist die Linse eines Mikroskops”. Diese Sichtweise übernimmt Mark Osborne im Film, wenn er und die Kamera auf Distanz gehen, um etwas genauer zu betrachten. In solchen Momenten ist es, als würde Saint-Exupéry selber Regie führen. Kino in Krisenzeiten: Osbornes Märchenepos hilft Kindern eine unbegreifliche Welt zu verstehen und lehrt sie, dass der Tod uns nicht von denen trennt, die wir lieben.
Über die Entstehungsgeschichte des kleinen Prinzen kursieren verschiedene Versionen. In einer davon soll es der amerikanische Verleger Curtice Hitchcock gewesen sein, der dem Autor den entscheidenden Impuls gab. Die beiden hatten sich im Frühjahr 1942 in einem New Yorker Restaurant zum Lunch getroffen. Wie so oft kritzelte der Schriftsteller während des Gesprächs auf seiner Serviette herum. Gespannt beobachtete der Verleger, wie die Zeichnung Gestalt annahm und jener kleine zauberhafte Junge zum Vorschein kam. Spontan schlug er seinem Gegenüber vor, daraus eine Märchengeschichte zu entwickeln. Die Erzählung selbst geht zurück auf eine Notlandung Saint-Exupérys in der Wüste. Der Pilot hatte am 29. Dezember 1935 versucht den Streckenrekord Paris-Saigon zu brechen. Nach einem fünftägigen Marsch durch die Sahara trafen er und sein Mechaniker völlig erschöpft und fast verdurstet auf einen Beduinen mit seinem Kamel. Es blieb nicht bei dieser einen Bruchlandung. Im Februar 1938 machte Saint-Exupéry den Versuch eines Rekordfluges New York-Feuerland, stürzte aber in Guatemala beim Start nach einer Zwischenlandung ab und wurde schwer verletzt. Mark Osborne und seine Drehbuchautoren beziehen alle diese Erlebnisse direkt oder indirekt in ihren didaktisch-philosophischen Animationsfilm mit ein. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität lösen sich auf.
1940 besetzten die Deutschen Frankreich, der Schriftsteller ging mit seiner Frau Consuelo nach Amerika ins Exil. Hier erschienen „Bekenntnis einer Freundschaft” (1941) und „Flug nach Arras” (1942). Im Sommer und Herbst 1942 schrieb und zeichnete Saint-Exupéry „Der kleine Prinz”. Er begann damit meist nicht vor 23 Uhr abends und arbeitete bis früh in die Morgenstunden. Als Kind hatte man ihn wegen seiner blonden Locken scherzhaft „Roi-Soleil”, Sonnenkönig, genannt. Doch niemand weiß mit Sicherheit, wer das Vorbild für den fragilen kleinen Prinzen sein könnte, vielleicht Thomas, der Sohn des Philosophen Charles De Koninck oder Land, der Sohn des Fliegers Charles Lindbergh. Saint-Exupérys Frau Consuelo war zwischen den Zeilen wie auch in den Illustrationen allgegenwärtig. Der Planet des kleinen Prinzen mit seinen Vulkanen ist eine Anspielung auf ihre Heimat El Salvador. Sie soll die geheimnisvolle Schlange, der ungezähmte Fuchs und die schöne einzigartige, aber auch anspruchsvolle Rose sein, die der kleine Prinz durch eine Glashaube zu schützen versucht. Der Rosengarten spielt auf Saint-Exupérys Untreue an und die Zweifel an seiner Ehe. Die gefährlichen Affenbrotbäume, die der kleine Prinz immer rausreißen muss, damit sie seinen winzigen Planeten nicht überwuchern oder gar sprengen, symbolisieren die Kämpfe der politischen Großmächte. Aber vor allem spürt der Leser die unendliche Traurigkeit und Einsamkeit des Autors. Ein Leben ohne Cockpit konnte er sich nicht vorstellen, er wurde älter, seine Kräfte ließen nach und doch wollte Saint-Exupéry nicht tatenlos zuschauen in diesem Krieg. 1943 wurde er Luftwaffenpilot in Algerien. Als er wieder eine Bruchlandung hinlegte, wurde er mit Hinweis auf seine Verletzungen ausgemustert. Dank seiner Beziehungen gelang es ihm sich trotzdem für Aufklärungsflüge reaktivieren zu lassen. Die Zahl der Sonnenaufgänge auf dem Planeten des kleinen Prinzen entspricht dem Alter des Schriftstellers, als er starb. Es ist eine ganz besondere Art von magischem Realismus, der hier entsteht.
Originaltitel: The Little Prince
Regie: Mark Ostborne
Sprecher (engl.): Jeff Bridges, Marion Cotillard, James Franco, Mackenzie Foy, Rachel McAdams
Produktionsland: Frankreich, 2015
Länge: 107 Minuten
Verleih: Warner Bros. GmbH
Kinostart: 10. Dezember 2015
Fotos & Trailer: Copyright Warner Bros. GmbH
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