„Wild Tales” - Von süßer Rache, Anarchie und Selbstbestimmung
- Geschrieben von Anna Grillet -
Hinreißende, blutig groteske Thriller-Komödie über eine korrupte chaotische Gesellschaft und die Unzulänglichkeit der menschlichen Psyche.
Zivilisation und Barbarei trennt oft nur ein schmaler Grat. Wie Wut oder Verzweiflung einen Menschen plötzlich zum Äußersten treiben können, schildert Damián Szifrón mit Scharfsinn, Suspense und viel hintergründigem schwarzem Humor. Der in Ramos Mejia geborene Regisseur und Autor („On Probation”) verbindet sechs eigenständige Geschichten zu einem rebellisch subversiven Rache-Epos.
„Wild Tales” gilt als der erfolgreichste argentinische Film aller Zeiten. Vergeltung um jeden Preis bleibt in der Realität meist eine unerfüllte Wunschphantasie aber nicht hier. Die Reaktion des Publikums bestätigt, Szifrón hat ins Schwarze getroffen. Mit seinen skurril tragischen Anti-Helden identifiziert sich der Zuschauer voll boshaftem Vergnügen. Romanze, Western, Action-Abenteuer, Familiendrama, die Genres wechseln. Auch die Art der Revanche variiert wie ihre Ursachen von Episode zu Episode. Hintergrund ist eine Welt, die selbst schon aus den Fugen gerät: Machtmissbrauch, soziale Ungerechtigkeit, Hedgefonds-Geier. „Jeder dreht mal durch”, der deutsche Untertitel von „Wild Tales” ist leider profan wie irreführend.
In rasantem Tempo und beängstigender Dynamik eröffnet der erste Kurzfilm den atemberaubenden Rachefeldzug. Während des Fluges flirtet der selbstgefällige Musikkritiker Salgado (Dario Gradinetti) mit dem nicht mehr ganz so jungen Model Isabel (Maira Murull). Beim Stichwort Talentlosigkeit erwähnt Salgado einen Studenten, den er vor langer Zeit durchs Examen rasseln ließ, Pasternak hieß er. Welch seltsamer Zufall, Isabel war früher einmal mit dem zusammen, bis sie ihn mit seinem besten Freund betrog. Eine Mitreisende unterbricht, vermutet eine kosmische Fügung, jener Pasternak, er sei bei ihr in die Grundschule gegangen. Ein hoffnungsloser Kandidat, der bald sitzenblieb und obendrein noch erbärmlich darüber heulte. Auch ein anderer Passagier kennt den unseligen Loser, der offensichtlich keine seiner unzähligen Niederlagen je verkraftet hat. Bald schon stellt sich heraus, alle Fluggäste an Bord haben eine entscheidende Rolle in dem katastrophal kläglichen Dasein jenes Trottels gespielt, selbst die Stewardess. Nun sollen sie für die Enttäuschungen büßen. Panik bricht aus. Der Psychiater hämmert verzweifelt gegen die Tür des Cockpits, doch für Betteln oder psychoanalytische Erklärungen ist es zu spät. Dieses Mal wird Pasternak nicht versagen, im Sturzflug nähert sich die Maschine seinem Elternhaus. Hier gehört die Bewunderung nicht dem Protagonisten wie in späteren Episoden sondern höchstens der ausgefeilten Logistik des teuflischen Plans. Der finstre Humor der schrägen rebellischen Farce erinnert an Luis Bunuel, Ethan und Joel Coen aber auch ein wenig an Pedro Almodóvar. Vielleicht der Grund, warum er und sein Bruder Augustin sich entschlossen, als Produzenten mit einzusteigen.
Das Phantastische, getarnt als Realität, hat hier seine ganz eigene absurde Philosophie. In einer abgelegenen Raststätte muss die junge Kellnerin (Julieta Zylerberg) mit Schrecken feststellen, dass der einzige Gast an diesem Abend ausgerechnet der Kredithai (César Bordón) ist, der ihren Vater in den Tod getrieben hat. In der schmuddeligen Küche klagt sie der schwergewichtigen Köchin (Rita Cortese) ihr Leid. Die will wissen, was sie nun vorhat. Nichts, sie wird brav das Essen servieren, spielt mit dem Gedanken, dem Mafioso endlich zu sagen, was sie von ihm hält. Die Köchin entgegnet entsetzt: „Dein Vater hat sich seinetwegen umgebracht, und Dir fällt nichts Anderes ein, als ihm die Meinung zu sagen?” Für die Ältere ist die Entscheidung längst gefallen: Rattengift. Die grauhaarige Frau aus dem Prekariat sorgt sich nur wegen des Haltbarkeitsdatums der toxischen Substanz, nicht weil sie im Gefängnis landen könnte. Mit dem Knast hat sie Erfahrung, dessen Ruf wäre schlechter als er es verdient, beruhigt sie die verängstigte Kollegin. Szifróns lakonisch witzige Dialoge sind grandios. Noch bevor der Zuschauer weiß, wer der Kredithai ist, entlarvt sich dieser durch seine zynischen überheblichen Bemerkungen selbst. Der Macho genießt aus tiefster Überzeugung, Andere der Lächerlichkeit preiszugeben, er hat für die Unterschicht nichts als Verachtung übrig und hofft auf eine steile Karriere in der Politik. Genau deshalb befördert ihn die Köchin mit solcher Genugtuung ins Jenseits. Doch so einfach geht es leider nicht. Ein unerwarteter Gast betritt das Lokal. Was diesen Film unwiderstehlich macht, ist nicht nur die technische Perfektion, die überbordende Fülle an Ideen sondern vor allem die schauspielerischen Leistungen. Der Regisseur kreiert unvergessliche Charaktere wie Rita Cortese als furchtlose Köchin. Sie verkörpert eine trotzig listige Rebellin, die sich nie zu unüberlegten Taten hinreißen ließe, aber eine gute Gelegenheit zu schätzen weiß. Die anderen reden, sie handelt.
Kurzgeschichten haben in Argentinien eine besondere Tradition. Der Einfluss des Schriftstellers Jorge Borges, vor allem von Julio Cortázar ist in „Wild Tales” unverkennbar. Surrealistische Elemente sprengen immer wieder die Grenzen der alltäglichen Realität. Die felsige unwegsame Landschaft in der dritten Episode erinnert an einen amerikanischen Western. Diego (Leonardo Sbaraglia), ein junger smart aussehender Geschäftsmann will seine fabrikneue Limousine auf Touren bringen, aber vor ihm auf der einsamen Landstraße kriecht ein zerbeulter, schmutziger alter Pickup, der ganz bewusst den Weg versperrt. Irgendwann kann Diego überholen, natürlich muss er dem Fahrer (Walter Donado) den Mittelfinger zeigen, ihn einen dämlichen Bauern nennen und einiges mehr. Befriedig rast der junge Schnösel in seinem schnellen schwarzen Wagen davon. Wenige Kilometer später hat er einen Platten, widerwillig macht er sich an den Reifenwechsel. Doch da taucht auch schon in der Ferne der Pickup auf. Diego packt die nackte Angst. Zu Recht. Es kommt zu einem gnadenlosen Duell auf Leben und Tod. Hier zeigen sich das unglaubliche Können und die Kreativität des Regisseurs. Diese Szene ist wahrlich ein Meisterwerk. Die Gewalt eskaliert zwischen Melodramatik und makabrer Komik. Der existenzieller Showdown nach Western Manier ist für den Zuschauer ein pures Vergnügen. Die Rachegelüste der beiden so konträren Männer kennen kein Limit. Die Kontrahenten krallen sich in ihrem Hass aneinander, sie wollen ihre Macht demonstrieren und Vergeltung um jeden Preis. Warum? Der Anlass war banal, steht in keinem Verhältnis zu der Reaktion. Jahrelang angestauter Hass und Frustrationen brechen hervor, Klassengegensätze prallen auf einander. Selbstkontrolle, erlernte Moralbegriffe sind plötzlich außer Kraft gesetzt, selbst der Überlebensinstinkt funktioniert nicht mehr. Damián Szifrón überzieht in solchen Momenten nie, vermeidet jede Form der Satire. Er und sein Kameramann Javier Juliá („The Last Elvis”) haben ein untrügerisches Gespür für Atmosphäre, sie verfremden die Genres nicht wie Quentin Tarantino („Pulp Fiction”, „Django Unchained” ), sondern zelebrieren sie, erfinden sie neu. Entstanden sind atemberaubende Aufnahmen, deren Farben eine starke suggestive Kraft haben. Aber das scheinbar Unfassbare, jener wahnwitzige kreative Freiraum des Phantastischen bleibt die menschliche Psyche.
Die Kompositionen des Argentiniers Gustavo Santaolalla sind mehr als ein Soundtrack, sie spielen in „Wild Tales” eine entscheidende Rolle, liefern ihren eigenen unabhängigen Kommentar wie ein Subtext. Der heute 63jährige Musiker, Produzent und Songschreiber gilt als Mitbegründer des lateinamerikanischen Rock en Español. 2006 und 2007 erhielt er den Oscar als bester Filmkomponist. Protagonist der vierten Episode ist der Sprengstoffexperte Simon (Ricardo Darin). Als er in der Konditorei die Geburtstagetorte abholt, wird sein Wagen ohne Grund abgeschleppt. Er verpasst die Feier der kleinen Tochter, bekommt Ärger mit seiner Frau, sie reicht die Scheidung ein, er steht vor dem finanziellen Ruin. Simon beschließt, die Willkür der Behörden nicht mehr länger hinzunehmen und zurückzuschlagen. Die Episoden zu „Wild Tales” schrieb Damián Szifrón, während er an der Entwicklung verschiedener Projekte arbeitete. Er war mutlos, brauchte Ablenkung, wollte seine Frustrationen wieder in den Griff bekommen und empfand die Kurzgeschichten in diesem Moment als einen Akt der Befreiung. Sie erinnerten ihn an seine Kindheit und die Familienbibliothek mit den Anthologien von Kriminalgeschichten, an J.D. Salingers „Neun Erzählungen” (1953) und die Fernsehserie von Steven Spielberg „Amazing Stories” (1985-1987). Szifrón, einer der erfolgreichsten Fernsehregisseure seines Landes, schneidet seine Filme selber. Sechs Monate brauchte der argentinische Regisseur, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war. Jede Episode hat ihren ganz eigenen Rhythmus, jedes Schicksal ist eine Facette der heutigen profitorientierten Gesellschaft. Am originellsten: „Bis dass der Tod uns scheidet”. Jene wahnwitzige Hochzeitsfeier wird in die Kinogeschichte eingehen. Rache bedeutet in diesen Großstadtfabeln auch eine Form der Selbstbestimmung nicht nur der Anarchie. Auflehnen tut sich hier selbst der schwerreiche Kapitalist, der plötzlich die Lust verliert, Millionen zu zahlen, um seinen Sohn von der Gefängnisstrafe freizukaufen, weil der eine schwangere Frau überfahren hat. Der Gärtner sollte stattdessen in den Knast gehen, für ein entsprechendes Entgelt, versteht sich. Es gibt mehr Verlierer als Gewinner in dem verstörenden, oft tragischen und doch so amüsanten Thriller. Aber am Ende triumphiert nach langen zermürbenden Kämpfen zumindest einmal die Liebe.
Originaltitel: Relatos salvajes
Regie/Drehbuch: Damiám Szifron
Darsteller: Ricardo Darín, Oscar Martinez, Leonardo Sbaraglia
Produktionsland: Argentinien, Spanien, 2014
Länge: 122 Minuten
Verleih: Prokino Filmverleih
Kinostart: 8. Januar 2015
Fotos & Trailer: Copyright Prokino Filmverleih
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