Ein Ort für Musik, Kunst und Bildung
Auch wenn der Name des Konzerthauses mit integrierter Musikschule und Musikbibliothek lakonisch Koncertzāle „Latvija“ (dt. Konzertsaal „Lettland“) heißt, verbirgt sich dahinter ein spannendes, umfangreiches und internationales Bauprojekt des Architekturbüros „haas cook zemmrich – Studio2050“ aus Stuttgart in Zusammenarbeit mit anderen lettischen und deutschen Firmen, u.a. dem Architekturbüro Studio MSV aus Riga.
Mit zwei besonderen Musikinstrumenten von Weltrang sollen musikaffine Gäste aus aller Welt angelockt werden: einer Konzertorgel (Johannes Klais Orgelbau, Bonn), die die trockene Raumakustik belebt und dem mit sechs Metern Höhe größten vertikalen Klavier der Welt des deutsch-lettischen Klavierbauers David Klavins (Dāvids Kļaviņš).
Der Bau mit Innen- und Außenraumbühnen als auch die gesamte Ausstattung kosteten 31 Millionen Euro und wurden am 25. Juli 2019 nach etwas über drei Jahren Bauzeit der Öffentlichkeit übergeben.
Ventspils reiht sich nunmehr in Lettland neben dem Konzertsaal in der Akademie der Wissenschaften in Riga, dem Konzertsaal Dzintari in Jūrmala, dem Konzerthaus „Großer Bernstein“ in Liepāja (dt. Libau) mit einem eigenen hervorragenden Konzertbau ein.
Gut drei Monate nach der Eröffnung nutze ich die Chance, diesen besonderen Kulturort im Rahmen eines Konzerts zu besuchen. An einem regnerisch-grauen Sonntag Ende September begebe ich mich von Lettlands Hauptstadt Riga mit dem Bus auf eine etwa dreistündige Fahrt in den Nordwesten der baltischen Republik. Mein Ziel ist Ventspils (dt. Windau), die sechstgrößte Stadt des Landes, direkt an der Ostsee gelegen mit seinem Hafen, der zu einem der größten der Ostsee zählt.
Colin Stetson. Sorrow
Auch wenn mich das Meeresrauschen und der Wellengang faszinieren, bin ich heute anderer Klänge wegen hergekommen. Ich besuche das zweite Konzert des kanadisch-amerikanischen Jazzmusikers und Multiinstrumentalisten Colin Stetsons in Lettland überhaupt. Vor kurzem erst habe ich ein Plakat zur Veranstaltung „Colin Stetson. Sorrow“ zufällig in einem Musikgeschäft in Riga entdeckt.
Vor acht Jahren konnte ich Stetson als Tour-Saxophonisten der amerikanischen Band ‚Bon Iver‘ lauschen. Sein damaliges siebenminütiges Saxophonsolo hat die Menge begeistert. Nun bin ich gespannt, denn heute soll weniger Indie-Folk-Pop als Neue Musik auf dem Programm im neu fertiggestellten Konzertsaal „Latvija” stehen. Dem Gebäude merkt man seine Jugend an, so können die Besucher noch den Geruch der frischen Holzfassaden riechen und sich gegenseitig beobachten, wie sie aufmerksam und inspizierend durch den Bau gehen.
Rasch füllt sich der brandneue Große Saal, der gut 600 Sitzplätze aufweist. So farbenfroh wie die Polster der Sitzreihen ist das einströmende Publikum. Fein frisierte ältere Damen und dazugehörige Herren in Anzügen sitzen neben jungen Menschen in Jogginghosen, die Ihre Mützen grundsätzlich und überall aufzubehalten scheinen, sowie kleinen Kindern, die sich aufgeregt am glitzernden Tutu-Röckchen zupfen.
Ich sitze in der letzten Reihe auf einem bequemen Sitz, dessen Rot-Violett-Blau-Farbton-Gestaltung – ich ahne es – nicht so recht zur Musik des Abends zu passen scheint.
Rebecca Foon. Saltland
Das Licht wird gedimmt und die kanadische Cellistin und Sängerin Rebecca Foon betritt die Bühne. Mit Ihrem Solo-Projekt „Saltland“ (2010) wird sie den Abend mit ihren elektronischen Klanglandschaften musikalisch einleiten. Alle Stücke sind als Cello-loops komponiert. In ihren Gesangstexten widmet sich die Künstlerin Themen die sich rund um moderne Stadtlandschaften konstituieren, in denen es um Armut und Obdachlosigkeit von Jugendlichen geht, um Umweltprobleme und Verschwendung von Ressourcen sowie um „die juristische Kontrolle von Protestierenden geht, um deren demokratisch-politisches Handeln als Kriminalisierung darzustellen. Immer häufiger wird dies heutzutage zu einem großen Problem im Allgemeinen und insbesondere in Kanada (Montreal) und den USA.“
Angesichts der vielseitigen sphärischen Klänge kann das Publikum kaum glauben, dass sie ganz allein auf der Bühne agiert.
Sorrow – A Reimagining of Gorecki's 3rd Symphony
Nach einer Pause wird sie schließlich natürlicher Teil des 12-köpfigen Ensembles sein, das die 3. Sinfonie des polnischen Komponisten Henryk Mikołaj Górecki „reimagined“ (dt. neugestaltet) aufführt.
1976 als Auftragswerk für den Südwestrundfunk Baden-Baden für Sopran und Orchester komponiert, wurde die Sinfonie (Opus 36) dann 1977 uraufgeführt und ist auch unter dem Namen „Sinfonie der Klagelieder“ (pol. Symfonia pieśni żałosnych) bekannt. In der Entstehungszeit von Kritik und Publikum verschmäht, erlangte das Werk seinen kommerziellen Erfolg ab dem Jahr 1992, nachdem sich ein von der London Sinfonietta unter dem Dirigat von David Zinman aufgenommenes Album über eine Million Mal verkaufte. Die Hürde der weiteren Aufführungen war damit erfolgreich genommen.
Colin Stetson hatte schließlich im Jahr 2015 seine Hommage an Górecki in Brooklyn vorgestellt und ein Jahr später – also 40 Jahre nach Entstehen des Werks – dieses Stück ebendort eingespielt und veröffentlicht. Betitelt mit „Sorrow – A Reimagining of Gorecki's 3rd Symphony“, ist somit ein direkter Bezug zum Originalwerk hergestellt, zumal Stetson keine Notation verändert hat, sondern lediglich die Instrumentalisierung. „Das Arrangement schöpft stark aus der Welt des Black Metal, der frühen elektronischen Musik und meiner eigenen Solo-Saxophonmusik“, erläutert der Musiker und Komponist dieses Werk.
Das drei Sätze (Lento, Sostenuto Tranquillo Ma Cantabile; Lento e Largo, Tranquillissimo; Lento, Cantabile-Semplice) umfassende und zunächst und immer wieder basslastige Stück erhebt sich langsam und stetig wie ein Phoenix aus der Asche zu einem erhabenen analog-digitalen Klangerlebnis, welches er nun live mit den anderen elf Musikerinnen und Musikern in Ventspils vorträgt.
Die Texte sind in polnischer Sprache gesungen: im ersten Satz trauert Maria um den gekreuzigten Sohn Jesus. Der Text stammt ursprünglich aus einer Bibliothek eines Klosters aus dem 15. Jahrhundert. Im zweiten Satz wird ein Gebet gesungen, welches eine junge Frau 1944 an die Wand einer Zelle im Hauptquartier der Gestapo in der süd-polnischen Stadt Zakopane geschrieben hat. Der Text des dritten Satzes entstammt einem Volkslied aus Oberschlesien, das in der Zeit der polnischen Aufstände im 19. Jahrhundert verfasst wurde. Darin beweint eine Mutter ihren gefallenen Sohn.
Die ursprüngliche Górecki-Orchesterbesetzung (mit gut 80 Instrumenten) ist geschrumpft. Anstelle von 20 Blasinstrumenten und etwa 60 Streichern sowie Klavier und Harfe stehen recht minimalistisch anmutend zwei E-Gitarren, ein Schlagzeug, ein Cello, zwei Violinen, ein E-Piano sowie Synthesizer, eine Klarinette und mehrere Saxofone auf der Bühne.
Was in der Originalversion acht Kontrabässe schaffen, erreicht Stetson mit seinen Saxofonen, die er mit der sogenannten Zirkular-Atemtechnik spielt. Durch die Gitarren und das Schlagzeugspiel erinnert es tatsächlich zeitweise an ein stürmisches Black Metal-Konzert, das jedoch durch den Gesang der Schwester, Megan Stetson, stark kontrastiert wird. Auch die Lichteffekte untermalen das Geschehen, mal mit kühlen Blautönen, mal mit wärmerem Orange-Rosa. Die Akustik des Saales ist hervorragend, auch wenn der zur Band gehörige Techniker die Lautstärke bis aufs Äußerste ausreizt.
Die Schwere und Eindrücklichkeit der Musik, besonders auch die Mezzosopran-Stimme Megan Stetsons füllen den Saal.
Das Konzert ist nach einer guten Stunde zu Ende. Danach herrscht eine halbe Minute lang absolute Stille den Raum. Etwa ein Drittel der Konzertbesucher beeilt sich anschließend, schnell aus dem Saal zu kommen, während der Rest stehend applaudiert, johlt und den Musikerinnen und Musikern auf der Bühne zujubelt.
Koncertzāle „Latvija“
Lielais laukums 1, Ventspils, Lettland- Weitere Informationen zum Konzertsaal (Architektur)
- Weitere Informationen zum Konzertsaal (Programm) lett.
- Colin Stetson
- Rebecca Foon
YouTube-Videos:
- Colin Stetson 'SORROW' (full album audio)
- Colin Stetson - SORROW - I (Extract) - Official Video
- Henryk Mikołaj Górecki - Symphony No. 3, Op. 36 (1976) Aufnahme: Christus-Kirche, Katowice/Polen, 2001. Nationales Symphonieorchester des Polnischen Rundfunks, Katowice | Zofia Kilanowicz, Sopran | Antoni Wit, Dirigent
Erstveröffentlichung einer gekürzten Fassung in "Mail aus Riga", Nr. 132 (Printversion)
Abbildungsnachweis:
Header: Innenraum des Koncertzale "Latvija". Foto: Ivbulius
Galerie:
01. Koncertzale "Latvija". Foto: Anna Unger
02. Innenraum. Foto: Birkemfels
03. Orgelpfeifen. Foto: Birkemfels
04. Konzert Saltland von Rebecca Foon. Foto: Anna Unger
05. CD-Cover Stetseon SORROW
06. Konzert Sorrow von Colin Stetson. Foto: Anna Unger
07. Treppenhaus des Koncertzale "Latvija". Foto: Anna Unger
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment