Sabine Gruber: „Daldossi oder Das Leben des Augenblicks“
- Geschrieben von Marion Hinz -
Mit Blick auf das Speisezimmer der Familie Buddenbrook las Sabine Gruber in Lübeck im Rahmen der „LiteraTour Nord“ aus ihrem jüngsten Roman „Daldossi oder Das Leben des Augenblicks“.
„Eigentlich ist das überhaupt keine passende Kulisse“, befand Birte Lipinkski, Leiterin des Buddenbrookhauses. Nimmt man aber dieses Hintergrundbild in seiner Wirksamkeit auf, so ergibt sich ein Zusammenhang zum Roman. Denn „Bilder sind wirkmächtig“. So wirkmächtig wie der äußere Rahmen, so wirkmächtig die Bilder, die sich während der Lesung im Kopf der Zuhörer einnisteten. Erzählt wird die Geschichte des ehemaligen Kriegsfotografen Daldossi, der in Bosnien, Afghanistan und im Irak Grausamkeiten gesehen und mit der Kamera auf Bildern festgehalten hat, die er nicht mehr loswird.
Bruno Daldossi ist auf die Arbeit in Krisen- und Kriegsgebieten spezialisiert. Nach vielen Jahren, in denen er für das Hamburger Magazin "Estero" in Tschetschenien oder im Irak, im Sudan oder in Afghanistan fotografiert hat, geht er mit Anfang Sechzig nur noch sporadisch auf seine gefährlichen Missionen. Seine eigenen Bilder stoßen ihn ab, erinnern ihn an all das gesehene Leid, gleichzeitig aber faszinieren sie ihn. Daldossi ertränkt seine Erinnerungen an die Kriegsereignisse in Alkohol, in Liebesaffären. Als ihn seine langjährige Gefährtin Marlis, eine Zoologin, mit der er in Wien zusammenlebt, wegen eines anderen Mannes verlässt, verliert er völlig den Halt.
In Daldossis Trauer um den Liebesverlust mischt sich immer stärker die Frage, wie mit dem Leid der Welt, das er in seinen Bildern festhält, zu leben und umzugehen ist. Denn Anteilnahme und Hilfsbereitschaft schließen sich für professionelle Fotografen wie Daldossi aus. Der Konflikt ist vorprogrammiert. Außerhalb von Kriegsschauplätzen und Krisengebieten prallt Daldossi auf die Welt des Friedens. Eine Welt, die ihm fremdgeworden ist. Kann jemand wie Daldossi überhaupt alltagstauglich sein? Oder gar liebesfähig? „Die meisten solcher Beziehungen sind kaputtgegangen“, hat Sabine Gruber während ihrer Recherche erfahren.
Der Roman stellt viele Fragen, auch an uns, die wir in unseren warmen Stuben sitzen und Krieg und Krisen nur von Ferne erleben. Es sei denn, ein Terrorakt stört uns in unserem wohlgeordneten Alltag. Wieviel Wahrheit halten wir, die wir Tag für Tag die Schrecken des Krieges in Bildern sehen, aus? Wie viel Einfühlung, wie viel Nähe sind uns möglich? Kriegsfotografen, das sind für Sabine Gruber „die Menschen, die für uns die Drecksarbeit machen. Die meisten von ihnen kommen traumatisiert zurück.“ Die Zerrissenheit des Kriegsfotografen Bruno Daldossi, dessen zwiespältige Gefühle stehen im Mittelpunkt des Romans. Vielleicht aber sind dies auch unsere Gefühle. Wenn auch abgemildert.
Den Krieg hat Daldossi überlebt, aber jetzt steht er vor dem Scherbenhaufen seines Privatlebens. Er freundet sich mit der Journalistin Johanna Schultheiß an, die aus Lampedusa berichten soll, reist ihr nach. Er versucht aber auch, seine Freundin Marlis zurückzugewinnen. Und er versucht, Verantwortung zu übernehmen, wenigstens für eins der Schicksale, die seinen Weg gekreuzt haben. Erzählt wird im Wechsel aus den Perspektiven von Bruno und Johanna.
In diesem kühnen Roman erzählt Sabine Gruber eindringlich von journalistischer Wahrheitsfindung, von Krieg und Krisen und von einer großen Liebe. Sie zeigt dabei eine bemerkenswerte Kenntnis des Milieus. Das liegt an vielem. Zum einen hat sie sich schon lange mit dem Thema auseinandergesetzt. Sie war befreundet mit dem Stern-Reporter Gabriel Grüner, der 1999 im Kosovo erschossen wurde. „Ich wollte ihm und allen anderen Kriegsfotografen eine Referenz erweisen“, so die Autorin. Zum anderen nahm sie an einem Überlebensstrategiekurs der Bundeswehr für Journalisten teil. Sie hat sich die Techniken des Fotografierens selbst beigebracht und beibringen lassen. Und sie hat sich zugemutet, sehr viele Kriegsfotos anzuschauen. „Es gibt von Christoph Bangert das Buch ‚War Porn‘“, erzählte sie dem Publikum im Buddenbrookhaus. „Es hat gedauert, bis ich es geschafft habe, diese Seiten alle anzusehen. Das hat mich psychisch manchmal ziemlich mitgenommen.“ Warnen muss man auch den Leser. Leicht ist diese Lektüre nicht, wohl aber wichtig. „Es ist ein aktueller Text, der deshalb beim Lesen manchmal wehtut“, urteilte Birte Lipinski.
Kriegsfotos gibt es im Roman nicht, wohl aber Beschreibungen solcher Fotos. Sie werden manchen Kapiteln vorangestellt, anderen eingeflochten. Auf diese Weise entstehen Bilder im Kopf, die durch Wörter hervorgerufen werden und eine eigene Dynamik entwickeln. Sie rufen beim Leser Emotionen hervor, die tiefgreifend sind. Denn auch diese literarisch entwickelten Bilder zeigen das Furchtbare, die Schrecken des Krieges, zeigen Not und Überlebensangst. Sie verschweigen nichts und sind dennoch nicht voyeuristisch. Dass dies so ist, ist Verdienst dieses Romans, Verdienst dieser Autorin, der in diesen Tagen der Österreichische Kunstpreis 2016 für Literatur verliehen wird. Dafür darf Sabine Gruber für kurze Zeit die "LiteraTour Nord-Tour verlassen. Vielleicht kehrt sie zurück, um dann den nächsten Preis, den Preis der „LiteraTour Nord“ für ihren Roman entgegenzunehmen. Wer weiß. Verdient hätte sie es. Doch noch ist alles offen, hat die Jury ihr Urteil nicht gefällt.
Sabine Gruber: Daldossi oder Das Leben des Augenblicks
C.H. Beck, München 2016
ISBN: 978-3-406-69740-1
Gebunden, 315 Seiten | E-Book
Leseprobe
Weitere Informationen zur LiteraTour Nord
Abbildungsnachweis:
Header: Sabine Gruber. Foto: © Gunter Glücklich.
Buchumschlag: C.H. Beck, München
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