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Theater - Tanz


Von der Pier gegenüber dröhnt der Motorenlärm eines italienischen Frachtschiffs. Etwas laut, aber eine geniale Kulisse. Während ein riesiger Greifarm vollautomatisch die Container-Fracht löscht, erheben sich zwischen den Zuschauern sechs Männer und beginnen von ihrem Leben an Bord zu erzählen.

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Sie scheinen geradewegs von dem gegenüberliegenden Schiff zu kommen: Zwei Asiaten, zwei Afrikaner, zwei Europäer. Der Kapitän in gediegenem Seemannspulli und grauer Stoffhose, Offizier und Matrosen in blauen und roten Overalls, der Koch unverkennbar mit angeschmuddelter, weißer Schürze.
Wer nicht weiß, dass hier gerade eine Vorstellung läuft, hält die internationale Theatertruppe für die x-beliebige Crew eines x-beliebigen Frachtschiffs.
Einzige Requisite ist ein langes Tau. Mehr braucht es nicht, um in der kommenden Stunde Kombüse, Rettungsinsel, Feuerlöschschlauch und meterhohe Wellen in Szene zu setzen – all die schlaglichtartigen Einblicke der Seeleute in ihren Knochenjob an und unter Deck. Die Arbeit ist gefährlich, manch einer geht unbemerkt über Bord, Feuer bricht aus, doch am meisten leiden die Männer unter der großen Einsamkeit, dem monatelangen Verzicht auf Familie und Privatleben. „Finde mal jemanden, der fünf Monate auf dich wartet, wenn Du auf See bist“, klagt der griechische Chief Mate. „Ich werde jetzt 43 Jahre alt und bin immer noch nicht verheiratet“.

„Als ich an Bord ging, war meine Frau schwanger, als ich wiederkam, konnte meine Tochter laufen“, erzählt der Vollmatrose. „Einen Monat Urlaub. Danach zurück an Bord. Wieder zwölf Monate“.
Alle Aussagen sind authentisch. Drei Mal fuhr Theaterchef Jens-Erwin Siemssen (50) auf Frachtschiffen, um Seeleute aus aller Welt zu interviewen. „Um uns herum nur nichts“ gibt ihre Berichte unverfälscht wieder. In aller Schonungslosigkeit wird hier vor Auge geführt, was Menschen aus der Dritten Welt auf sich nehmen müssen, damit wir Wohlstandsbürger billige Handys und Laptops aus Fernost beziehen können. Menschen, über die wir nie nachdenken, weil wir sie nicht sehen. Sie sind auf die Ozeane verbannt. Moderne Arbeitssklaven auf Hightech-Galeeren.

Ihre Geschichten sind nur schwer auszuhalten. Vor allem der Koch erlitt brutale Unfälle. „Ich lebe noch“, sagt er gequält, am Boden liegend. Glück gehabt. Der Kapitän hat ihm die zerquetschten Finger offenbar ganz passabel wieder angenäht – mit Handbuch und angeleitet von einem Chirurgen per Telefon, da kein Arzt an Bord ist. Der zweite Unfall passierte während des Sturms in der Kombüse, dem Koch schwappte heißes Öl über den nackten Arm: „Ich habe Salbe draufgeschmiert und weitergearbeitet. Wenn ich nicht weitergemacht hätte, hätten die Jungs nichts zu essen bekommen“.
Nein, mit Seemannsromantik hat moderne Schiffart schon längst nichts mehr zu tun. Vielmehr mit Druck, Stress – und verkapptem Rassismus. Europäer fühlen sich den Filipinos haushoch überlegen.

„Es hat viele rührende Momente während der Interviews gegeben“, erzählt Siemssen nach der Vorstellung. Als von den Familien die Rede war, hätten einige Männer geweint. „Ich kann nachvollziehen, was es bedeutet, seine schwangere Frau zu verlassen und bei der Rückkehr ein Kind vorzufinden, das einen nicht erkennt“, sagt der Autor und Regisseur. „Ich bin selbst Vater.“

Die Seefahrt ist sein Thema, seitdem er 16 ist. Damals jobbte Siemssen als Schiffsjunge während der Schulferien. Später studierte er in Amsterdam Objekttheater und gründete dort mit seiner Frau, Juliane Lenssen, Anfang der 90er-Jahre „Das letzte Kleinod“. Die Seefahrt ließ den gebürtigen Bremerhavener nie los. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die künstlerische Arbeit Und da Seefahrt auch etwas mit Bewegung zu tun hat, ist es wohl nur schlüssig, dass diese ungewöhnliche Theaterform auch eine ungewöhnliche Infrastruktur besitzt: Seit 1995 logiert „Das letzte Kleinod“ im Bahnhof Geestenseth, an der Bahnlinie Bremerhaven-Hamburg. „Seit 2000 haben wir sogar eigene Eisenbahnfahrzeuge“, erzählt Siemssen stolz. „Sie sind TÜV geprüft und mit Hilfe von EU-Förderung grundsaniert, so dass wir uns auf dem gesamten europäischen Schienennetz bewegen dürfen. Unser Zug ist wie ein Schiff: Produktionsstätte, Büro und Hotel“.

In dem „Ozeanblauen Zug“ entstanden weit über 20 Dokumentarstücke, zum Teil nach Gesprächen mit Augenzeugen, zum Teil nach historischen Aufzeichnungen. Über vietnamesische Boatpeople und über spanische Migranten in Cuxhavener Fischfabriken. Über den Kabeljaukrieg 1977 vor Island und die erste deutsche Nordpolar-Expedition 1868. Über die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen bei Lübberstedt und den „Untergang der Johanne“ 1854, die mit hessischen Auswanderern an Bord vor Spiekeroog strandete.

Gespielt wird grundsätzlich an den Originalschauplätzen. An Stränden, auf Inseln, bei Wind und Wetter. Und wenn das gar nicht geht, wie im Fall des Polarforschers, auch schon mal in einem Kühlhaus bei minus 24 Grad! Dafür schaffte Siemssen eigens 120 Wärmflaschen und Schlafsäcke an. Dennoch durfte das Stück nur 35 Minuten dauern – Erfrierungsgefahr!

Für maximale Authentizität sorgt auch das temporäre Ensemble, das sich für jede Produktion neu zusammenfindet: „Für ein Stück über den Walfang hatten wir ein Casting in Grönland. Wir hatten auch schon Castings in Halifax, Haifa und Daressalam“. In Tansania und Kenia recherchierte Siemssen 2012 unter schwierigsten Umständen für „Atalanta“, ein Spiel über Piraterie vor der somalischen Künste. Und gerade erst gastierte „Das letzte Kleinod“ mit „Exodus“ in Haifa - dort, wo 1947 britische Soldaten 4.500 jüdische Flüchtlinge mit Waffengewalt vom Schiff holten. Sie waren auf dem Weg nach Palästina – und landeten nach monatelanger Irrfahrt wieder in Lübecker Lagern.
„Man braucht keine Geschichten zu erfinden. Die Geschichten gibt es“, sagt Siemssen mit Nachdruck. „Wir spielten in Israel Krieg und dort hat uns die Wirklichkeit schon wieder eingeholt“.

Mit seinen neuen Projekten stößt der engagierte Theatermann in eine neue Dimension vor. Während „um uns herum nur nichts“ auf Tournee nach Wilhelmshaven, Bremerhaven und Cuxhaven geht, proben 15 Jugendliche aus Afghanistan, Bosnien, Mazedonien und dem Sudan im Bahnhof von Geestenseth Szenen ihrer eigenen Flucht für das Dokumentarspiel „Displaced“. Im zweiten Stück, „Dorf-Asyl“, thematisieren „Lampedusa-Flüchtlinge“ das Misstrauen, das ihnen in der neuen Heimat entgegenschlägt – nach all dem, was sie durchmachen mussten: Von Eritrea aus zu Fuß durch die Wüste, dann mit 300 Menschen vier Tage und vier Nächte in einem sechs Mal zehn Meter großen Boot übers Mittelmeer. Ein Liter Wasser am Tag für zehn Personen.

Sie überlebten, doch sie sind schwer traumatisiert. Das Wiederholen der Geschehnisse im Spiel sei die beste Therapie, sagt Siemssen. „Wir arbeiten wie Psychologen“. Für ihn und sein Team sei es „große Ehre und Verpflichtung“ diese Schicksale an die Öffentlichkeit zu bringen: „Jeder Mensch möchte seine Geschichte loswerden und freut sich, wenn jemand kommt und ihm zuhört“.

Weitere Aufführungen von „Um uns herum nur nichts“:
19.7. Wihelmshaven, Wiesbadenbrücke
21. bis 23.7. Bremerhaven, Seemannsclub Welcome
25. und 26.7. Cuxhaven, Neue Seebäderbrücke.
Karten unter Tel. (04749) 1025 64 oder via Link.


Fotonachweis: Alle Fotos Isabelle Hofmann
Header: Szene aus "„Um uns herum nur nichts“
Galerie:

01. Zuschauertribüne am Schuppen 52 im Hamburger Hafen
02-04. Szenen aus "„Um uns herum nur nichts“
05. Theaterchef Jens-Erwin Siemssen.

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